Bolsonaro festigt seine Machtbasis – durch Spaltung der Konservativen
Jörg Nowak. Das politische Jahr begann in Brasilien mit einem weiteren Desaster im nicht vorhandenen Management der Bundesregierung in Bezug auf die Coronavirus-Pandemie. Bereits seit Ende Dezember hatte sich ein erheblicher Anstieg der Infektionenund Schwerkranken in Manaus, der Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas, abgezeichnet. Der Gesundheitsminister ignorierte Warnberichte, dass es an Sauerstoff mangeln würde und es zuwenige Krankenhausbetten gibt. Erst als die für Mitte Januar prognostizierte Krise genau dann auch eintrat, mit Hunderten Toten pro Tag in dem Bundesstaat mit nur 4 Millionen Einwohnern, reagierte die Regierung – allerdings zu spät für viele Erkrankte. Auch heute warten noch 300 Patienten in Manaus auf dringend benötigte Versorgung in einer Intensivstation. Mitte Januar waren es etwa 700.
Hinzu kommt ein unkoordiniertes Agieren der Regierung in punkto Impfungen gegen Covid 19. Die Regierung hatte alle Karten auf eine Kooperation von AstraZeneca mit der nationalen Gesundheitsstiftung Fiocruz gesetzt. Diese hat allerdings bisher erst 2 Millionen Impfdosen erbracht, die aus Indien geliefert wurden. 90 % der in Brasilien vorhandenen Impfstoffe stammen aus der Kooperation des Bundesstaates Sao Paulo mit dem chinesischen Unternehmen Coronavac – eine Kooperation, die Bolsonaro anfangs sogar unterbinden wollte wegen seiner Animosität gegenüber China. Der Governeur von Sao Paulo, João Doria, der die Kooperation eingefädelt hat, will 2022 gegen Bolsonaro kandidieren, und hat damit zu mindestens einen Punktsieg errungen. Ende Januar und Mitte Februar kam es an drei Wochenenden aus Empörung über die Gesundheitspolitik zu Demonstrationen gegen die Bolsonaro-Regierung sowohl von der Linken als auch von desillusionierten Rechten aus der Anti-Korruptionsbewegung, allerdings auf getrennten Märschen.
Seit der offenen Krise in Manaus haben sich die Popularitätswerte der Regierung Bolsonaro wieder verschlechtert, nach einer Erholung zwischen August und Dezember 2020. Dennoch beurteilten im Januar 2021 lediglich 40 % die Regierung als negativ, und 30 % bewerten sie positiv, immer noch eine relativ breite Unterstützung.
Anfang Februar wurden die Präsidenten der zwei Kammern, dem Parlament und dem Senat (dem Bundesrat vergleichbar) neu gewählt. Beide sind wichtige Figuren, da sie über Amtsenthebungsverfahren entscheiden und Mehrheiten organisieren. Der bisherige Präsident Rodrigo Maia, der Partei Democratas, hat den Neoliberalismus der Bolsonaro-Regierung unterstützt, aber ihre autoritären Aspekte abgelehnt, und wurde so zur Hassfigur für viele Bolsonaro-Anhänger. Maia hat versucht, einen ihm geneigten Nachfolger zu installieren, was zunächst recht erfolgversprechend aussah.
Bolsonaros Regierung gelang es, durch die zielgerichtete Verteilung von zig Milliarden Real an Kommunen, genug Stimmen für ihren eigenen Kandidaten Arthur Lira, zusammen zu bekommen. Damit gelang Bolsonaro inmitten eines Umfragetiefs eine institutionelle Verankerung und Verbreiterung seiner Machtbasis. Auch bei der Wahl des Senats gewann der von Bolsonaro unterstützte Kandidat, Rodrigo Pacheco von der Partei Democratas, den sogar die PT mitwählte, angeblich aus taktischen Gründen. Die Wahl Liras führte zur Spaltung von zwei der großen konservativen Parteien, ein weiterer Erfolg Bolsonaros.
Maia hatte ursprünglich vor, den rechtsliberalen Showmaster Luciano Huck als Präsidentschaftskandidat seiner Partei Democratas zu lancieren. Diese hat aber fast komplett Lira als Parlamentspräsident gewählt und ist damit eng an die Seite Bolsonaros gerückt. Maia ist inzwischen aus seiner eigenen Partei ausgetreten, und versucht nun, seinen Plan mit anderen Parteien umzusetzen, was schwierig sein dürfte.
Auch die PSDB, traditionell die Partei des Industriekapitals, hat sich über der Wahl von Lira gespalten. Hier war es der schon erwähnte Jõao Doria, der für diese antreten wollte. Dadurch, dass etwa die Hälfte der Abgeordneten der PSDB für Lira stimmten, hat Bolsonaro einen weiteren potentiellen Konkurrenten vorerst lahmgelegt. Ein Versuch von Doria, kurz nach der Wahl von Lira Vorsitzender der PSDB zu werden, schlug fehl.
Der neue Präsident des Parlaments, Arthur Lira, kommt aus dem Agrobusiness und gehört der Partei Progressistas an, eine von vielen Klientelparteien. Wie bei vielen Karrierepolitikern in Brasilien üblich, gehörte Lira davor fünf anderen Parteien an, nacheinander versteht sich. Lira ist ein enger Verbündeter des ehemaligen Parlamentspräsidenten Eduardo Cunha, der die wesentliche Figur für das Impeachment von Dilma Rousseff war, und kurz nach dem Impeachment wegen Korruption zu einer langen Haftstrafe verurteilt wurde. Eine wichtige Initiative von Lira und Senatspräsident Pacheco nach ihrer Wahl bestand darin, dass sie beide für die Wiedereinführung des Corona-Grundeinkommens sprachen, das von April bis Dezember 2020 dem ärmeren Drittel der Bevölkerung Brasiliens das Überleben sicherte. Im Gespräch ist zunächst, dass die Höhe etwa ein Drittel geringer sein soll und der Bezugskreis nur halb so groß, circa 30 statt 60 Millionen Menschen.
Bolsonaro orientiert sich zunehmend auf die Wiederwahl im Jahr 2022 – und dabei ist das Grundeinkommen entscheidend für seine Popularität. Seit Anfang Januar ist die Pandemie in Brasilien wieder auf demselben Level wie auf dem bisherigen Höhepunkt zwischen Mai und August 2020, mit 1000 Toten pro Tag, regional spezifischen Lockdowns und den damit verbundenen Verlusten an Arbeit und Einkommen. Dabei verteilen sich die Einkommensverluste klar an der Grenze zwischen formeller und informeller Beschäftigung. Im zweiten Drittel von 2020 haben Arbeiter/innen mit Lohnsteuerkarte in Brasilien etwa 9 % ihres Lohns eingebüßt. Bei den Arbeiter/innen, die ohne Lohnsteuerkarte arbeiten, also informell, betrug der Einkommensverlust 25 %. Ende Februar 2021 ist Brasilien in der zweiten Welle der Pandemie am bisher dramatischsten Moment angekommen: in 15 von 27 Bundesstaaten sind mehr als 90 % der für Covid19-Patient/innen vorhergesehenen Betten auf Intensivstationen belegt. Das Fehlen einer nationalen Strategie gegen die Pandemie wurde geradezu zum Markenzeichen der Bolsonaro-Regierung, und Expert/innen aus Medizin und Wissenschaft stellen der Regierung ein vernichtendes Zeugnis aus.
In den nächsten Monaten wird der Konflikt zwischen der neoliberalen Linie der Regierung und einer auf sozialer Absicherung und Popularität orientierten Linie zunehmen. Ein Aspekt dabei ist die Grundsicherung, und mit Lira hat Bolsonaro stärkere Rückendeckung für die Fragen der sozialen Absicherung als mit Maia. Ein erster Gesetzesentwurf dazu sieht zwar vor, die brasilianische Variante der Schuldenbremse, in kraft seit 2017, ein weiteres Mal auszusetzen. Andererseits sieht der Gesetzentwurf vor, die in der Verfassung festgelegten Anteile der Ausgaben für Gesundheit und Bildung am Haushalt von Gemeinden und Bundesstaaten abzuschaffen, 25 % für Bildung, und 12 (Bundesstaaten) und 15 % Prozent (Gemeinden) für Gesundheit. Insofern wird wieder einmal Nothilfe gegen allgemeine soziale Infrastruktur ausgespielt, ein Klassiker der neoliberalen Sozialpolitik.
Ein weiterer Konflikt entfaltet sich entlang der großen Staatsbetriebe. Der neoliberale Wirtschaftsminister Guedes möchte diese wie kapitalistische Betriebe nach Marktprinzipien ausrichten. Als der Chef der staatseigenen Banco do Brasil im Januar 2021 Tausende Angestellte entlassen und zig Filialen schließen wollte, hat Bolsonaro dagegen interveniert. Ein ähnliches Szenario spielt sich derzeit um die Petrobras und ihre Preispolitik ab, da Bolsonaro angekündigt hat, den Chef der Petrobras abzusetzen. Die Petrobras ist zu 36.8 % in Staatsbesitz, der brasilianische Staat hält aber 50.5 % der Stimmrechte in dem Konzern.
Ein erneuter Streik der Trucker in Brasilien nach dem Megastreik 2018 ist Anfang Februar 2021 gescheitert und blieb relativ klein. Dennoch ist Bolsonaro durch die Mobilisierung beunruhigt, da die Trucker als Teil seiner Machtbasis wahrgenommen werden. Die Dieselpreise sind seit Anfang des Jahres um ca. 30 % angestiegen, und eine der Forderungen der Trucker war eine Änderung der Preispolitik der Petrobras, die sich seit dem Putsch gegen Rousseff im Jahr 2016 an Weltmarktpreisen orientiert. Diese Weltmarktpreise bilden aber zusammen mit der Pandemie und der Inflation der Lebensmittelpreise ein explosives Gemisch, vor allem bei den Truckern. Über das letzte Jahr hinweg sind die Dieselpreise sogar um 2 % gefallen, aber Lebensmittelpreise sind um 14 % gestiegen im letzten Jahr, und die Frachtpreise für Transport auf der Straße sind im 2. Halbjahr 2020 stark gefallen. Für Grundnahrungsmittel wie Reis, Bohnen und Kartoffeln betragen die Preissteigerungen mehr als 50 %. Dies liegt unter anderem am Anstieg der Exporte von Nahrungsmitteln (11 % im letzten Jahr), insofern vermeidet Bolsonaro den Konflikt mit den Agrarkonzernen, indem er in die Politik der Petrobras eingreift.
Bolsonaro hat am 18. Februar zunächst die durch den Bund erhobenen Steuern auf Gas (3% des Gesamtpreises) und auf Diesel (9 %) ab 1. März abgeschafft, die Dieselsteuer allerdings zunächst nur für 2 Monate. Einen Tag später hat Bolsonaro verkündet, dass er den bisherigen Chef von Petrobras, dessen Mandat am 20. März endet, ablösen und stattdessen einen mit Bolsonaro verbündeten General einsetzen will. Formal kann nur der Administrationsrat der Petrobras ihren Chef absetzen oder einen anderen wählen. Bolsonaros Kalkül hier ist klar: er will Handlungsfähigkeit zugunsten des breiten Volkes zeigen. Im Fall der Petrobras, deren Marktorientierung und Öffnung für die multinationalen Ölkonzerne eines der Hauptmotive für das Impeachment gegen Dilma Rousseff waren, gerät Bolsonaro allerdings in direkten Konflikt mit den wichtigsten Kapitalfraktionen in Brasilien, und auch mit den nicht-staatlichen Aktionären der Petrobras. Wie dieser Konflikt sich entfalten wird, ist völlig offen, aber er kann Bolsonaro dienlich sein in punkto Popularität.
Diese Wendung, in die Petrobras zu intervenieren, hat zu harscher Kritik der Finanz- und Wirtschaftselite an Bolsonaro geführt, die bisher zu den autoritären Maßnahmen des Präsidenten und der fehlenden Koordination der Pandemiebekämpfung geschwiegen hat. Nur gegen die Umweltpolitik hatten große Konzerne eine Initiative gestartet, aus Furcht vor einem Boykott europäischer Supermarktketten.
Vor allem das Schweigen des erzliberalen Wirtschaftsminister Guedes zur Petrobras hatte erneute Spekulationen zu seinem Abgang ausgelöst. Bolsonaro hat darauf schnell reagiert, indem er Gesetzesinitiativen zur Privatisierung der Staatskonzerne der Post und der Eletrobras eingebracht hat – deren Privatisierung ist ein Steckenpferd von Guedes. Insofern könnte man die Lage so interpretieren, dass Bolsonaro sich eine Intervention in die Petrobras durch Pläne zur Privatisierung von Post und Eletrobras ermöglicht. Eine andere Interpretation wäre, dass die Auswechslung der Führung der Petrobras nur ein ideologisches Nebelfeuer ist, um die Privatisierung von Post und Eletrobras mit weniger Widerstand durchzuziehen. So oder so hat die Intervention von Bolsonaro in die Petrobras innerhalb einer Woche zur größten Kapitalflucht von ausländischen Investitionen in den letzten 10 Jahren geführt, im Volumen von 10 Milliarden Real (etwa 1.8 Milliarden Euro). Das Signal ist klar: Jedes Abweichen von den Vorgaben neoliberaler Politik wird entsprechend vom Finanzkapital sanktioniert.
Dass der Hauptkonflikt in Brasilien sich derzeit zwischen dem staatsinterventionistischen Militär und marktliberalen Kräften abspielt, sagt einiges aus über die allgemeinen Kräfteverhältnisse und politischen Optionen. Dazu gehört auch, dass Bolsonaro Teile einer traditionell linken Agenda besetzt, wenn auch symbolisch, nämlich die partiellen Schutzmechanismen durch Staatsunternehmen in Zeiten von allgemeinen Preissteigerungen. Ein weiterer Aspekt ist, dass Bolsonaro an den eigentlichen Wurzeln der Preissteigerungen keine Kritik übt. Maximalpreise bei Lebensmitteln und höhere Löhne für Arbeiter/innen im Agrarsektor würden erheblich stärker zum allgemeinen Wohlstand beitragen als günstigere Benzin- und Dieselpreise.
Quelle: labournet.de… vom 1. März 2021
Tags: Brasilien, Covid-19, Gesundheitswesen, Imperialismus, Neoliberalismus, Neue Rechte, Politische Ökonomie, Service Public
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