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Ökonomie: Was kommt nach dem Pandemieeinbruch?

Eingereicht on 12. März 2021 – 10:23

Der britische Ökonom Michael Roberts* über die wirtschaftlichen Prognosen für das Jahr 2021, die Wirtschaftspolitik der kapitalistischen Staaten und die kommenden sozialen Kämpfe. Wir publizieren hier ein Gespräch von Ashley Smith mit ihm, das auf Spectre publiziert wurde.

Als wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben, befanden wir uns in der Anfangsphase der Pandemie und der globalen Rezession. Du hast argumentiert, dass das kapitalistische System bereits auf eine Krise zusteuere, bevor die Pandemie diese auslöste. Wie ist der Gesamtzustand der Weltwirtschaft, insbesondere ihrer wichtigsten Zentren wie den USA, der EU und China?

Ich glaube, es ist fast genau ein Jahr her, dass wir das letzte Mal über die Weltwirtschaft gesprochen haben. Damals wies ich darauf hin, dass die großen kapitalistischen Volkswirtschaften bereits auf eine lange verzögerte Rezession zusteuerten, da sich die Industrieproduktion, die Investitionen, der Handel und das Profitwachstum auf ein Minimum hin verlangsamten – und einige Länder wie Japan sowie einige große so genannte „aufstrebende“ Volkswirtschaften wie Argentinien, die Türkei und Mexiko befanden sich bereits in einer Flaute.

Nun, im letzten Jahr haben die Covid-Pandemie und die darauffolgenden Lockdowns, die soziale Isolation usw. zum tiefsten Einbruch in den großen Volkswirtschaften seit fast 100 Jahren geführt. Im Fall von Großbritannien ist es der tiefste Einbruch seit 300 Jahren!

Im letzten Sommer hoffte man, dass sich die meisten Volkswirtschaften schnell erholen könnten, da die Covid-Fälle zurückgingen. Doch dann kam es zu einer zweiten „Winter“-Welle von Infektionen, und erneut wurden Lockdowns verhängt. Im Fall der USA gab es eigentlich keine „zweite Welle“, da die Fälle das ganze Jahr über kaum zurückgingen, weil viele Bundesstaaten keine angemessenen Einschränkungen verhängten und sich dafür entschieden, alles normal weiterlaufen zu lassen.

Aber die Fakten sind eindeutig. Die Staaten, die mit Unterstützung der Bevölkerung strikte Lockdowns und Social Distancing durchsetzten, hatten viel niedrigere Todesraten und die geringsten Einbußen bei wirtschaftlicher Aktivität, Einkommen und Beschäftigung. Es gab und gibt keinen Kompromiss zwischen Leben und Lebensgrundlagen.

Ende 2020 befanden sich 93 Prozent aller Länder der Welt in einem Abschwung. Die wirtschaftliche Produktion dieser Länder war um 5 bis 15 Prozent geschrumpft, ebenso die Investitionen und die Beschäftigung. Die US-Wirtschaft schrumpfte weniger als andere – um etwa 4 bis 5 Prozent, aber die Beschäftigung ging um über 20 Millionen zurück, und die Arbeitslosigkeit stieg auf etwa 15 Prozent. Auch Japans Wirtschaft ging um etwa 6 bis 7 Prozent zurück.

Den größten Einbruch erlebte jedoch Europa. Die britische Wirtschaft schrumpfte um 10 Prozent, nachdem die katastrophale Pandemiepolitik in Kombination mit den Handelsunsicherheiten rund um den Brexit zum Tragen kam. Spanien schrumpfte sogar noch stärker, während die Volkswirtschaften der Eurozone im Durchschnitt um 6 bis 9 Prozent zurückgingen.

Nur eine große Volkswirtschaft entging diesem Desaster: China. Die drastischen Einschränkungen des Regimes zusammen mit massiven staatlichen Investitionen in das Testing, das Contact Tracing und das Gesundheitssystem führten zu einem sehr schnellen Rückgang der Infektionen. Die Todesfälle pro Million waren die niedrigsten unter den großen Volkswirtschaften.

So begann die chinesische Wirtschaft in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 wieder zu expandieren. Es handelte sich um eine V-förmige Erholung, etwas, das die Trump-Regierung letztes Jahr um diese Zeit für die USA behauptete und was die meisten Mainstream-Prognostiker für die G7-Volkswirtschaften erhofft hatten. Tatsächlich ist Chinas Wirtschaft bis Ende 2020 im Vergleich zu 2019 um etwa 2-3 Prozent gewachsen!

Unabhängig davon, was wir über die Art des chinesischen Regimes in Bezug auf Menschenrechte und Demokratie denken mögen, hat Chinas Entwicklung meines Erachtens gezeigt, dass staatlich geplante Investitionen in das Gesundheitssystem, die Industrie und den Handel bei der Bewältigung der Covid-Pandemie viel effektiver waren als die Pandemiepolitik der G7 [Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten; die Europäische Kommission hat Beobachterstatus; Anm. d. Red.].

Welche Auswirkungen haben die Pandemie und die globale Rezession auf den globalen Süden? Stehen diese Staaten und Volkswirtschaften vor einer weiteren Schuldenkrise? Wie wird sich das auf sie und den Rest der Welt auswirken?

Die Covid-Pandemie hatte katastrophale Folgen für den sogenannten „globalen Süden“. Viele dieser Länder, vor allem die ärmsten in Bezug auf das Pro-Kopf-Einkommen, waren schon vor der Pandemie in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Viele hatten eine erhebliche Schuldenlast gegenüber den Konzernen und Finanzinstitutionen des imperialistischen Nordens. Ihre Gesundheitssysteme waren stark unterfinanziert, schwach und meist privatisiert.

Viele Lohnabhängige des globalen Südens arbeiten im informellen Sektor, ohne festen Arbeitsplatz oder die Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten, wie es ein beträchtlicher Teil der besser gestellten Lohnabhängigen im Norden tun konnte. So waren sie gezwungen, unter großer Ansteckungsgefahr für Unternehmer:innen zu arbeiten oder ihre kleinen Geschäfte aufrechtzuerhalten. Infolgedessen war die Ausbreitung des Virus in Ländern wie Mexiko, Brasilien, Ecuador und Peru gravierend.

In Ländern mit einer relativ jungen Bevölkerung, in denen man eine geringere Sterblichkeitsrate erwarten konnte, gab es dennoch kein Entrinnen. Indien hat den größten wirtschaftlichen Rückgang der großen „Schwellenländer“ erlitten, und Südafrikas Wirtschaft (die sich bereits vor Covid in einer Rezession befand) ist stark eingebrochen. Die Arbeitslosigkeit ist im gesamten globalen Süden um über 150 Millionen gestiegen. Und die begrenzte Verbesserung der Armutsraten in diesen Ländern, die im letzten Jahrzehnt erreicht wurde, hat sich komplett umgekehrt.

Mit Blick auf die Zukunft besteht die Möglichkeit, dass es in den Jahren 2021 und 2022 zu schwerwiegenden Schulden-„Ereignissen“ kommen wird. Die internationalen Agenturen wie der IWF und die Weltbank haben nur „Schuldenerleichterungen“ angeboten – also niedrigere Zinssätze oder mehr Zeit zur Rückzahlung. Aber die Regierungen, die diese Agenturen leiten, haben sich geweigert, den Ländern Schulden zu erlassen. Letztere werden sich im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung und der Zahlungsfähigkeit in den nächsten Jahren weiter erhöhen. […]

Wie schon während der Finanzkrise 2008 und der folgenden Großen Rezession, sind Staaten auf der ganzen Welt wieder einmal eingesprungen, um das System vor dem Zusammenbruch zu retten. Was haben sie getan? Hat es funktioniert? Warum oder warum nicht?

Es gibt zwei wirtschaftspolitische Instrumente, die den Regierungen zur Verfügung stehen, um mit Einbrüchen im Kapitalismus umzugehen. Es gibt die geldpolitische Lockerung [Zinssenkung und Kreditspritzen durch Nationalbanken; Anm. d. Red.] und es gibt die fiskalische Stimulierung [expansive Fiskalpolitik: öffentliche Investitionspolitik, Steuersenkungen für Unternehmen und soziale Abfederungsmassnahmen; restriktive Fiskalpolitik: Sparpolitik und Steuererhöhungen auf Einkommen und Verbrauch; Anm. d. Red.].

[…] In diesem pandemischen Einbruch wurden beide politischen Instrumente eingesetzt und zwar in einem gewaltigen Ausmaß. Die Kombination aus Kreditspritzen und Staatsausgaben erreichten in den meisten großen Volkswirtschaften im Jahr 2020 zwischen 10 und 20 Prozent des BIP, aufgeteilt zu je 50/50. Diese „Großzügigkeit“ hat es den meisten Unternehmen (aber nicht allen) ermöglicht, im Jahr 2020 zu überleben, indem sie sich auf eine Mischung aus Krediten und Zuschüssen [in der Schweiz: Härtefallprogramme; Anm. d. Red.] verlassen haben, während die Lohnabhängigen „beurlaubt“ wurden, einmalige Zuschüsse erhielten oder auf „Pandemiehilfe“, also Kurzarbeit, gesetzt wurden.

Trotzdem sind die Beschäftigungsraten stark gesunken und viele kleine und mittlere Unternehmen stehen am Rande des Bankrotts. Etwa 20 Prozent der US-amerikanischen und europäischen Unternehmen waren schon vor der Pandemie so genannte „Zombie-Unternehmen“, deren Gewinne kaum die Löhne und Schuldzinsen abdeckten und die nichts für Investitionen und Expansion übrighatten. Im Laufe dieses Jahres könnten viele dieser „Zombies“ untergehen, wenn die fiskalischen und monetären [geld- bzw. kreditbezogenen] Finanzspritzen nicht aufrechterhalten werden.

Darüber hinaus haben diese geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen [billige Kredite und staatliche Zuschüsse; Anm. d. Red.] wenig dazu beigetragen, die produktiven, beschäftigungswirksamen Sektoren der Wirtschaft wiederzubeleben, insbesondere den großen Dienstleistungssektor. Stattdessen ist die Wertschöpfung zusammengebrochen, während fiktives Kapital in die Aktien- und Anleihemärkte geflossen ist.

Die Biden-Administration plant ein enormes neues Konjunkturprogramm, eine weitere massive Investition in die Infrastruktur und erwägt offen eine Industriepolitik, um die US-Industrieproduktion zu stärken – vor allem im High-Tech-Bereich. Stellt dies eine Abkehr vom Neoliberalismus hin zum Keynesianismus dar? Wird es funktionieren? Werden wir einen zyklischen Aufschwung erleben, wie viele bürgerliche Ökonom:innen vorhersagen, nachdem die Pandemie abgeklungen ist?

In diesem Pandemieeinbruch hat es im Gegensatz zur Großen Rezession 2008/09 einen Politikwechsel der Regierungen gegeben. Das liegt zum Teil an den Lehren, die a) aus dem Versagen der Geldpolitik [Leitzinssenkungen der Nationalbanken zur Stimulierung des Kreditwesens; Anm. d. Red.] nach der Großen Rezession gezogen wurden, und b) an dem zusätzlichen Schaden, der durch die Verabschiedung fiskalischer Sparmaßnahmen zur Schuldenkontrolle (und deren Scheitern) verursacht wurde [weil durch die Ausgaben- und Lohnsenkungen die Nachfrage zusätzlich eingebrochen ist; Anm. d. Red]. Außerdem ist der pandemische Einbruch mindestens doppelt so stark wie während der Großen Rezession.

Also wurde im letzten Jahr die Austeritätspolitik aufgegeben (zumindest für den Moment) und der Ruf ertönt: „Wir sind jetzt alle Keynesianer.“ [will heissen: Befürworter:innen staatlicher Investitionspolitik in der Krise; Anm. d. Red.] Der IWF, die OECD und die EZB sagen nun alle: „Macht euch vorerst keine Sorgen um die Defizite und die Schulden, gebt einfach aus, um die Volkswirtschaften zu retten.“ Da die Zinssätze so niedrig sind wie nie zuvor, werden die Kosten für den Schuldendienst überschaubar sein, und sobald die Wirtschaft sich erholt hat, können wir uns dem Schuldenproblem zuwenden, so das Argument.

In gewisser Weise ist das auf kurze Sicht auch richtig. Aber das Problem für kapitalistische Volkswirtschaften ist, dass, wenn die Rentabilität in den nächsten Jahren nicht deutlich ansteigt, das Investitionswachstum schwach sein wird und damit auch das Wirtschaftswachstum. Und wenn die Zinsen zu steigen anfangen, dann wird die Schuldenlast die „Zombie-Unternehmen“ in den Bankrott treiben, was durch die Reduktion der fiskalischen und monetären Unterstützung noch verschärft wird.

Außerdem, selbst wenn die Zinsen niedrig bleiben, ist der Umfang der angehäuften Schulden, sowohl bei den Unternehmen als auch beim Staat, so groß, dass die Kosten für den Schuldendienst ohnehin steigen, und damit werden die verfügbaren Gewinne für produktive Investitionen verkleinert. Steigende und hohe Schulden können nicht unbegrenzt ignoriert werden, insbesondere wenn die Gewinne nicht ausreichend steigen.

Genau das ist das Problem mit Bidens Konjunkturprogramm. Auf den ersten Blick scheint es groß zu sein. Mainstream-Wirtschaftsprognosen deuten darauf hin, dass es in den nächsten Jahren mindestens 1 Prozent zum BIP-Wachstum beitragen könnte. Aber selbst wenn Bidens Investitionsprogramm vollständig umgesetzt wird, wird das den Anteil der staatlichen Investitionen am BIP in den USA auf nur 4 Prozent bringen, während die Investitionen des kapitalistischen Sektors im Durchschnitt 15 bis 20 Prozent des BIP betragen. Letzteres ist also entscheidend für die Wiederherstellung des US-Kapitalismus.

Das bedeutet, dass die Profitabilität von ihrem derzeitigen Allzeittief stark ansteigen muss. Sicher, die sehr großen Tech- und Medienunternehmen wie die FAANGs (Facebook, Amazon, Apple, Netflix, Google) machen riesige Gewinne, aber die Mehrheit der US-amerikanischen und europäischen Unternehmen hat eine sehr niedrige Profitabilität. Um die Profitabilität nach oben zu bringen und sich von einem Einbruch im Kapitalismus zu erholen, bedarf es 3 Dinge.

Erstens müssen unproduktive Mitarbeiter entlassen und die Löhne für diejenigen, die weiter beschäftigt werden, niedrig gehalten werden. Zweitens müssen expandierende Firmen darauf abzielen, neue arbeitssparende Technologien einzuführen, um die Arbeitsproduktivität zu steigern. Und drittens muss es den „Zombie-Unternehmen“ erlaubt werden, pleite zu gehen, übernommen oder liquidiert zu werden, um den Markt zu bereinigen und die Rentabilität für den Rest zu erhöhen. Keine dieser drei Anforderungen wird in absehbarer Zeit erfüllt werden.

Bidens Konjunkturprogramm hat eine Debatte zwischen bürgerlichen Ökonom:innen über die Gefahr einer Inflation ausgelöst. Larry Summers hat argumentiert, dass Bidens Programm zu groß ist und dass es sowohl die Gefahr birgt, eine Inflation auszulösen, als auch Geld verschwendet, das für Investitionen in die Infrastruktur und die Industriepolitik gespart werden sollte. Andere Befürworter:innen der Austerität, die du „Austerianer“ nennst, stimmen ihm zu. Im Gegensatz dazu weist Finanzministerin Janet Yellen diese Bedenken als übertrieben zurück und argumentiert, dass die größte Gefahr darin besteht, nicht genug Geld für die Stimulierung auszugeben. Welche Seite hat Recht?

Die Mainstream-Ökonomie hat zwei Haupttheorien, um Inflation [Anstieg des allgemeinen Preisniveaus von Waren und Löhnen; Anm. d. Red.] zu erklären. Es gibt die Quantitätstheorie des Geldes, die von Monetarist:innen vertreten wird. Sie argumentieren, dass die Inflation ein monetäres Phänomen ist, d.h. die Preisinflation in Bezug auf Waren nimmt immer dann zu, wenn es „zu viel“ Geld in der Wirtschaft gibt: zu viel Geld jagt zu wenig Güter. Nun, die letzten 10 Jahre haben Zweifel an dieser Theorie aufkommen lassen, da die Geldinjektionen enorm waren und die Inflation in der „Realwirtschaft“ sich verlangsamt hat.

Die andere Mainstream-Theorie ist die keynesianische, die besagt, dass es einen Trade-off [Zielkonflikt; Anm. d. Red.] zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation gibt. Wenn also die Produktionskapazitäten maximiert werden und Vollbeschäftigung herrscht, dann steigen die Löhne, was die Unternehmen zwingt, die Preise zu erhöhen, um die Gewinne zu erhalten. Die Inflation wird also den Lohnabhängigen zugeschrieben, da sie zu viel verlangen.

Im Grunde ist dies das Argument des orthodoxen Keynesianers Larry Summers. Der Unterschied zwischen Summers und Yellen besteht darin, dass Summers glaubt, dass die wirtschaftliche Erholung so schnell vonstattengehen wird und die Expansionsfähigkeit der US-Wirtschaft so gering ist, dass die US-Wirtschaft schnell überhitzen wird. Dann werden die Löhne steigen und die Preisinflation wird schnell zurückkommen. Yellen (und Powell) hingegen sind der Meinung, dass die Volkswirtschaften viel Spielraum haben und dass es für das nächste Jahr oder so viel Platz zum Expandieren gibt, ohne dass die Löhne steigen und damit die Inflation anheizen.

Meiner Meinung nach haben beide Seiten Recht und Unrecht. Summers liegt falsch, dass die wirtschaftliche Erholung durch Bidens Pakete schnell und hoch sein wird, aber er hat Recht, dass die wirtschaftliche Kapazität der USA durch den Pandemieeinbruch geschwächt wurde und nicht in der Lage ist, einen Sprung nach vorne zu machen. Yellen liegt damit falsch, aber sie hat Recht, dass die wirtschaftliche Erholung bescheiden ausfallen und nicht zu einer „Überhitzung“ und starken Lohnsteigerungen führen wird.

Aber beide Mainstream-Theorien sind unzureichende Erklärungen für die Inflation. Änderungen der Warenpreise werden durch die Kaufkraft von Profiten und Löhnen angetrieben, d.h. durch die neue Wertschöpfung in der Wirtschaft. Ja, Lohnerhöhungen kurbeln die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen an, aber man darf auch die Profite nicht vergessen. Und wenn die Zentralbanken auch noch Geld in die Wirtschaft pumpen, wird das zur Preisinflation beitragen, weil Geldspritzen keinen neuen Wert schaffen.

Durch den Pandemieeinbruch sind in den USA die Gewinne um etwa 25 Prozent und die Lohnsummen (sinkende Beschäftigung) um etwa 10 Prozent gefallen. Obwohl also die Geldmenge um über 40 Prozent gestiegen ist, hat es keine Inflation gegeben. Da ein Großteil der Geldspritze gehortet wurde, ist die sogenannte Umlaufgeschwindigkeit des Geldes stark gesunken.

Für das Jahr 2021 ist jedoch ein Anstieg der Gewinne und sogar der Lohnsumme zu erwarten, und die Geldspritzen dürften sich fortsetzen, wenn auch langsamer. Ich erwarte also, dass die Inflation bei Waren und Dienstleistungen anziehen wird. Das wird die Währungsbehörden vor Probleme stellen, ob und wann sie die Zinsen anheben sollten, um die Inflation und die Lohnforderungen zu dämpfen. Wenn die Zinsen steigen, dann werden die Finanzmärkte einbrechen. Aber so weit sind wir noch nicht.

Du hast argumentiert, dass weder Keynesianismus noch neoliberale Austerität die Weltwirtschaft aus der langen Depression (seit 2008 bis heute) herausziehen können. Warum eigentlich? Was würde innerhalb des Kapitalismus funktionieren? Und wer würde den Preis dafür zahlen?

Wie ich oben sagte, kommt der Kapitalismus aus seinen regelmäßigen und wiederkehrenden Krisen heraus, indem er die Arbeit zahlen lässt. Er bringt Arbeit dazu, sich zu lohnen, indem er „unproduktive“ Arbeiter:innen entlässt und eine Reservearmee von Arbeiter:innen schafft, die die Löhne drückt. Und er führt neue Technologien ein, um die Arbeitsproduktivität zu steigern. Das Ziel ist es, die Profitabilität zu erhöhen, so dass die Unternehmen darauf mit Investitionen reagieren.

Das ist jedoch nach der Großen Rezession 2008/09 nicht geschehen. Die Profitabilität erholte sich nicht, weil die Liquidierung schwacher Firmen nicht zugelassen wurde. „Zombie-Firmen“ bleiben als lebende Tote bestehen. Die Preise für Finanzanlagen schossen in die Höhe, und genau dort wurden die Profite gemacht: in fiktivem Kapital. Investitionen in produktive Vermögenswerte waren schwach und das Produktivitätswachstum war sehr gering (nur 0,6 Prozent pro Jahr in den USA).

Der wirtschaftliche Pandemieeinbruch hat auch zu einer ernsthaften Vernarbung des Produktivvermögens geführt, einschließlich des Verlustes von Produktionskapazität [also Fabriken; Anm. d. Red.] und produktiven Arbeitskräften, die ohne ein massives Investitionsprogramm nur schwer wiederherzustellen sein werden. Statt einer V-förmigen wirtschaftlichen Erholung und einer schnellen Rückkehr zum vor-Pandemie-Niveau, wird das Trendwachstum ab 2021 sogar niedriger sein als in den 10 Jahren nach der Großen Rezession.

Mit anderen Worten: Die lange Depression bei Investitionen, Produktivität und Profitabilität, die die großen kapitalistischen Volkswirtschaften seit 2008 erlebt haben, würde sich noch einmal verstärken. Ich erinnere daran, dass es über 20 Jahre dauerte, um die Depression von 1873-96 in den großen Volkswirtschaften zu überwinden, und dass dazu mehrere schwere Einbrüche erforderlich waren. Die Große Depression der 1930er Jahre wurde erst 1940 durch die Kriegswirtschaften beendet, als staatliche Investitionen die kapitalistischen Investitionen für die Kriegsanstrengungen ersetzten.

Also, entweder kehrt der Kapitalismus irgendwann in diesem Jahrzehnt zu einem weiteren Einbruch zurück, um das System zu reinigen, oder er wird ersetzt.

Die weitsichtigen Sektoren der globalen Elite sind besorgt, dass die Pandemie tiefe Missstände aufstaut, die eine weitere Runde der politischen Polarisierung und explosive Kämpfe auf der Welt auslösen könnten. Wie siehst Du die Auswirkungen dieser Krise auf die Politik sowie auf die Klassen- und sozialen Kämpfe?

Es gab kürzlich eine sehr interessante Analyse des IWF, die zeigte, dass das Niveau der Unruhen und sozialen Kämpfe schon vor dem Einbruch der Pandemie deutlich gestiegen war. Die Pandemie im Jahr 2020 hat das durchkreuzt, aber der IWF rechnet damit, dass der frühere Trend zurückkehren könnte, wenn die Länder die Pandemie in diesem Jahr und darüber hinaus überwunden haben. Angesichts der bevorstehenden schwachen wirtschaftlichen Erholung gibt es allen Grund, dies zu erwarten. Sollte die Erholung tatsächlich stärker ausfallen, könnte dies wiederum das Vertrauen der Arbeiter:innenbewegungen weltweit wiederbeleben.

*Michael Roberts ist der Autor von The Long Depression: Marxism and the Global Crisis of Capitalism (Haymarket 2016) und schreibt regelmäßig Kommentare und Analysen in seinem Blog The Next Recession. Das Interview wurde am 25. Februar 2021 veröffentlicht. Übersetzung und leichte Kürzung durch die Redaktion.

Quelle: sozialismus.ch… vom 12. März 2021

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