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Globale Arbeiterklasse: Wachstum, Wandel und Rebellion

Eingereicht on 12. März 2021 – 12:25

Kim Moody. Die Arbeiterklasse des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist eine Klasse in der Entstehung, wie man es in einer Welt erwarten würde, in der der Kapitalismus erst vor kurzem universal geworden ist. Gleichzeitig erinnerte uns Marx selbst vor langer Zeit daran, als er über die Entwicklung der Klassen in England sprach, wo sie «am klassischsten entwickelt» waren, dass «diese Klassengliederung selbst hier nicht in reiner Form hervor[tritt]».[1] Die Arbeiterklasse greift natürlich weit über diejenigen hinaus, die zu einem bestimmten Zeitpunkt lohnabhängig beschäftigt sind. Sich nur auf die Zahlen der Erwerbstätigen zu verlassen, verschleiert wichtige Aspekte des breiteren Lebens der Arbeiterklasse, einschließlich ihrer Reproduktion. Nichtsdestotrotz bilden die Erwerbstätigen und Nichterwerbstätigen den Kern der Arbeiterklasse, die früher als eine männliche Domäne galt, heute aber fast zur Hälfte aus Frauen besteht. Darüber hinaus ist es aus Platz- und Forschungsgründen notwendig, sich in diesem Beitrag auf die erwerbstätigen und ihnen nahestehenden Teile dieser globalen Klasse zu konzentrieren. Mit diesen Vorbehalten im Hinterkopf betrachten wir zunächst das Wachstum der globalen Arbeiterklasse im 21. Jahrhundert.

Die zeitgenössischen treibenden Kräfte hinter dieser Dynamik waren die ungleichmäßige Globalisierung des Kapitalismus im Allgemeinen mit dem gleichzeitigen Aufstieg der multinationalen Unternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg; die sinkende Profitrate, die in den späten 1960er Jahren begann, das Kapital über seine alten Grenzen hinauszutreiben und immer wiederkehrende Krisen produzierte; die marktwirtschaftliche «Öffnung» der ehemaligen bürokratischen «kommunistischen» Volkswirtschaften für den Kapitalismus; und in jüngerer Zeit die Vertiefung der globalen Wertschöpfungsketten (GVC). Die letztgenannten haben sich schon seit einiger Zeit entwickelt, aber in den letzten paar Jahrzehnten haben sie das Wirtschaftswachstum und den Wandel in vielen Entwicklungsländern geprägt, indem sie die ehemals unbezahlte Heimarbeit der Reproduktion, die kleinteilige Warenproduktion und die bereits existierenden inländischen Lieferketten in die Sphäre der Wertschöpfungsketten des multinationalen Kapitals gezogen haben. Dies hat einige Industrien und Arbeitsplätze aus den entwickelten Volkswirtschaften abgezogen, hat aber meist zu einer Ausweitung in neue Bereiche geführt. So wird beispielsweise, obwohl der Anteil entwickelten Länder an der weltweiten Produktion gesunken ist, sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in der EU heute mehr Mehrwert produziert als noch vor zwanzig oder dreißig Jahren.

Wachstum der lohnabhängigen Erwerbsbevölkerung

Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wuchs die Zahl der Erwerbstätigen weltweit von 2000 bis 2019 um 25 Prozent. Die Zahl der Lohnabhängigen stieg in diesen ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts von 2,6 Milliarden auf 3,3 Milliarden, ebenfalls um 25 Prozent. Von den «Erwerbstätigen» im Sinne der ILO waren 53 Prozent Lohn- oder Gehaltsempfänger, gegenüber 43 Prozent im Jahr 1996; 34 Prozent galten als «Selbständige», gegenüber 31 Prozent im Jahr 1996; 11 Prozent als «mithelfende Familienangehörige», gegenüber 23 Prozent im Jahr 1996; und 2 Prozent als Unternehmer, gegenüber 3,4 Prozent in jenem Jahr.[2]

Offensichtlich gehören nicht einmal alle Nicht-Unternehmer in dieser ILO-Zählung zur Arbeiterklasse. Viele sind angestellte Fachkräfte oder Manager verschiedener Art, andere sind Kleinunternehmer, Straßenverkäufer und so weiter. Hier ist es wahrscheinlich, dass etwa zwei Drittel, oder etwas mehr als 2 Milliarden, der von der ILO als erwerbstätig betrachteten Personen zur Arbeiterklasse gehören. Diese Beschäftigten aus der Arbeiterklasse sind jedoch nicht nur diejenigen, die im Lohn- und Gehaltssektor arbeiten. Viele derjenigen, die als «Selbständige» oder Einzel-Selbstständige gelten, sowie «mithelfende Familienangehörige» sind in der Tat über die erweiterten und vertieften inländischen und globalen Wertschöpfungs- oder Versorgungsketten, die das kapitalistische Wachstum seit einiger Zeit kennzeichnen, in das Beschäftigungsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit eingebunden. «Eigene» oder selbständige Arbeiter werden von Unternehmern oft einfach falsch klassifiziert, um Steuern, Sozialleistungen und Verantwortung für diese Arbeiter zu umgehen. Frauen sind weitaus häufiger informell beschäftigt als Männer.

Diese Informalität ist jedoch eine legale Definition von Arbeitern außerhalb der meisten Formen staatlicher Regulierung von Beschäftigung. Nach dieser Definition waren die meisten Arbeiter zu Marx‘ Zeiten «informell». Wie Ursula Huws es in Bezug auf verschiedene Formen unbezahlter Reproduktionsarbeit oder «unproduktiver» (des Mehrwerts) individueller Dienstleistungserbringung ausdrückt: «Die Geschichte des Kapitalismus kann synoptisch als die Geschichte der dynamischen Umwandlung jeder dieser Arten von Arbeit in eine andere betrachtet werden, mit dem (von Marx vorhergesagten) Gesamteffekt, dass ein immer höherer Anteil menschlicher Arbeit in die ‚produktive‘ Kategorie getrieben wird, wo sie von den Kapitalisten diszipliniert wird und Wert für sie produziert.»[3]

So stellt die Weltbank fest, dass «Heimarbeiter», die überproportional häufig weiblich sind, einen beträchtlichen Anteil am unteren Ende der globalen Wertschöpfungs-(Liefer-)Ketten der Unternehmen ausmachen. Darüber hinaus zeigen Studien über die Auswirkungen solcher Lieferketten, dass eine enorme Beteiligung von «informellen» Arbeitern, die als «Selbständige» oder «mitarbeitende Familienangehörige» in Südasien, Afrika und in der gesamten Dritten Welt klassifiziert werden, häufig in GVCs eingebunden sind.[4]

Diese von grossen Unternehmen dominierten Lieferketten verbinden nicht nur Entwicklungsländer mit multinationalen Konzernen. Sie passen die lokale Wirtschaft und Belegschaft an die Bedürfnisse der Unternehmen an. Selbst wenn die Mehrheit der Arbeiter in einem Land nicht direkt mit der Wertschöpfungskette eines Unternehmens verbunden ist, werden der Grad der Informalität, die Löhne, das Arbeitstempo und das Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern für die meisten Arbeiter durch die Dynamik und die Geschwindigkeit der «Just-in-time»-GVCs der multinationalen Unternehmen bestimmt. Wie Bhattacharya und Kesar aufzeigen, hat das Wachstum der kapitalistischen Produktion in Indien den informellen Sektor vergrößert, weil es billiger ist, von ehemals kleinen Rohstoffproduzenten zu beziehen und mit Haushaltsarbeitern zu arbeiten, wo die Frauen sowohl (schlecht) bezahlte Arbeit als auch die unbezahlte Arbeit der Reproduktion leisten, die die Kosten für jeden Arbeiter reduziert. Weit davon entfernt, «vorkapitalistisch» zu sein, ist solche informelle Beschäftigung ein Produkt des sich universalisierenden Kapitalismus.[5]

GVCs wuchsen von etwa 45 Prozent des Welthandels Mitte der 1990er Jahre auf fast 55 Prozent im Jahr 2008, bevor sie etwas auf etwa die Hälfte zurückgingen.[6] Infolgedessen waren die am schnellsten wachsenden Sektoren diejenigen, die mit der Infrastruktur und dem Betrieb dieser GVCs verbunden waren. Nach Schätzungen der ILO wuchs die Beschäftigung im Transport- und Kommunikationssektor um 83 Prozent und im Baugewerbe um 118 Prozent in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts, schneller als in allen anderen großen Sektoren. Was die direkte Beschäftigung angeht, so sind in diesen Sektoren überwiegend männliche Arbeitskräfte beschäftigt. Ein wichtiges Ergebnis des Wachstums der GVCs ist jedoch der Anstieg des Frauenanteils von 40 Prozent der Beschäftigten im Jahr 2000 auf fast die Hälfte (49 Prozent) im Jahr 2019, während im verarbeitenden Gewerbe, das von diesen Wertschöpfungsketten abhängt, der Frauenanteil von 41 Prozent auf 44 Prozent im Jahr 2019 steigt.[7]

Darüber hinaus wurden immer mehr Arbeiter «in den Knoten» der kapitalistischen Produktionsverhältnisse hineingezogen, wie Huws es ausdrückt, und zwar durch die zunehmende Kommodifizierung sowohl öffentlicher Dienstleistungen als auch der zuvor unbezahlten Arbeit der sozialen Reproduktion, d. h. durch die kapitalistische Organisation von Dienstleistungen, die zuvor vom Staat gegen Lohn oder im Haushalt oder in der Gemeinde ohne Bezahlung erbracht wurden. Überproportional viele dieser Beschäftigten sind Frauen, die weltweit zwei Drittel der Beschäftigten im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesen ausmachen.[8] Ein Indiz für diesen Trend ist der rasante Anstieg der «marktbestimmten Dienstleistungen» von 20 Prozent der Beschäftigung in der Definition der ILO im Jahr 1991 auf 31 Prozent im Jahr 2018. Ein weiteres ist der Rückgang des «öffentlichen Kapitals» und Vermögens als Anteil am Volksvermögen in allen führenden Industrieländern auf weniger als 10 Prozent für die meisten.[9]

Bei der Betrachtung der Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse in den entwickelten Ländern wird häufig auf den Anstieg der Dienstleistungen und den Rückgang der Warenproduktion verwiesen und angenommen, dass dies auf eine Verringerung der Arbeiterklasse hinausläuft. Tatsächlich ist die Linie zwischen den beiden weitgehend eine Verschleierung dessen, wie Wert von der globalen Arbeiterklasse im heutigen Kapitalismus geschaffen wird. Auch die Dienstleistungsproduktion wird zunehmend von riesigen Konzernen dominiert und ist in GVCs involviert, wobei ihr Anteil an der Wertzirkulation von 31 Prozent im Jahr 1980 auf 43 Prozent im Jahr 2009 gestiegen ist. Es ist wichtig zu bedenken, dass die Erbringung von Dienstleistungen für die Warenproduktion unabdingbar ist und vice versa. Es gibt keine Dienstleistungen, die ohne «Dinge» erbracht werden, und es gibt keine Güter, die ohne den Input von «Dienstleistungen» produziert werden. Die Arbeit, die in beidem steckt, ist dazu da, Mehrwert zu produzieren zw. zu zirkulieren. Der Gebrauchswert der damit produzierten Ware ist sekundär. Während die weltweite Beschäftigung im Dienstleistungssektor in den ersten beiden Jahrzehnten des einundzwanzigsten Jahrhunderts um 61 Prozent gewachsen ist, ist die internationale Zahl der Beschäftigten in der Industrie um 40 Prozent gestiegen.[10] Dieser relative Wachstumsunterschied ist zum Teil auf den anhaltenden Produktivitätsanstieg in der globalen Fertigung zurückzuführen, der schneller verläuft als in der Weltwirtschaft insgesamt, und nicht auf einen Rückgang der industriellen Produktion.

Tatsächlich ist die weltweite Wertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes selbst in dieser Periode des langsameren Wachstums keineswegs verschwunden, sondern wuchs von 2000 bis 2019 um 123 Prozent in laufenden Dollars bzw. um etwa die Hälfte in realen Werten. Entgegen der Vorstellung einer «postindustriellen» Welt wuchs die Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe von 393 Millionen im Jahr 2000 auf 460 Millionen im Jahr 2019, während die Zahl der Beschäftigten in der Industrie (Fertigung, Baugewerbe und Bergbau) in diesem Zeitraum von 536 Millionen auf 755 Millionen stieg. Darin nicht enthalten sind die Beschäftigten in den Bereichen Transport, Kommunikation und Versorgung, die für die Güterproduktion ebenfalls unverzichtbar sind und im Jahr 2019 zusätzlich 226 Millionen Beschäftigte ausmachen, gegenüber 116 Millionen zwei Jahrzehnte zuvor. Zusammen machte dieser industrielle «Kern» im Jahr 2019 41 Prozent der weltweiten nicht-landwirtschaftlichen Arbeitskräfte aus.[11] Mit anderen Worten: Die Industriearbeiter der Welt, um einen Ausdruck zu gebrauchen, bleiben ein massiver Kern der Wertproduktion und der arbeitenden Bevölkerung. Ihre globale Verteilung hat sich jedoch verändert.

Geografische Streuung und Ungleichheit

Das Wachstum der Weltproduktion und damit auch der Arbeiterschaft war jedoch nicht gleichmäßig über den Globus verteilt. Während die Industrieländer immer noch den größten Anteil an der industriellen Wertschöpfung (IWS) produzieren, haben die Entwicklungsländer ihren Anteil von 18 Prozent im Jahr 1990 auf etwa 40 Prozent im Jahr 2019 erhöht, während der Anteil der Industrieländer in diesem Zeitraum von 79 Prozent auf 55 Prozent fiel. Der Anteil der EU sank von 33 Prozent der weltweiten IWS-Leistung im Jahr 1990 auf 22 Prozent im Jahr 2018, während der Anteil Asiens in diesem Zeitraum von 24 Prozent auf 37 Prozent stieg. China allein stieg von etwa 5 Prozent der weltweiten IWS-Leistung im Jahr 2000 auf 20 Prozent im Jahr 2018. In jüngster Zeit ging ein Großteil des gestiegenen Anteils Asiens an der IWS auf nur vier Länder zurück: China, Indien, Indonesien und die Republik Korea. Der Anteil der Industrieländer an den Arbeitsplätzen im verarbeitenden Gewerbe sank von 30 Prozent im Jahr 1991 auf 18 Prozent im Jahr 2018.[12] Im 21. Jahrhundert haben das Wachstum der «informellen» Arbeit, das der Warenproduktion und die wachsende Rolle der Frauen in beiden Bereichen vor allem in den Entwicklungsländern stattgefunden.

Gleichzeitig haben wirtschaftliche, politische und kriegsbedingte Vertreibung und Enteignung eine wachsende internationale Migrantenbevölkerung hervorgebracht. Die Zahl der Menschen, die außerhalb ihres Heimatlandes leben, ist von 173.588.441 im Jahr 2000 auf 271.642.105 im Jahr 2019 gestiegen, ein Anstieg von 57 Prozent. Die meisten dieser Migranten waren im arbeitsfähigen Alter, und 48 Prozent, also fast die Hälfte, waren Frauen. Etwa 111 Millionen wurden von der Internationalen Organisation für Migration im Jahr 2017 als Arbeitsmigranten eingestuft, die 2018 Rücküberweisungen in Höhe von 689 Milliarden Dollar in ihre Heimat zurückschickten.[13] Mindestens eine halbe Milliarde Menschen erhalten diese Rücküberweisungen und tragen damit erheblich zur sozialen Reproduktion der globalen Arbeiterklasse bei und senken so die Arbeitskosten für das internationale Kapital. Wie Ferguson und McNally hervorgehoben haben, wird durch die Vernachlässigung der Rolle der Arbeitsmigranten «der Blick auf internationale Prozesse der Enteignung und der primitiven Akkumulation verloren, die unter anderem globale Reserven an Arbeitskraft erzeugen, deren grenzüberschreitende Bewegungen das Herzstück der weltweiten Produktion und Reproduktion von Kapital und Arbeit sind.» So bewegen sich zusätzliche 111 Millionen Arbeiter in und aus den statischen Zahlen der ILO über die Beschäftigung und den Prozess der Klassenbildung, besonders in wichtigen Produktionszentren wie den Vereinigten Staaten, Europa und dem Nahen Osten.[14]

Das Kapital als Ganzes hat die geographischen Veränderungen, den technologischen Fortschritt, die Reorganisation der Produktion und des Arbeitsprozesses und sogar die Krisen des Systems als Ganzes sehr gut überstanden. Insgesamt ist in den meisten entwickelten und in den sich entwickelnden Volkswirtschaften, egal ob die Reallöhne fielen oder stiegen, der Anteil des Arbeitseinkommens am BIP seit Mitte der 1970er Jahre mit einigen Auf- und Abschwüngen bis 2019 gesunken. Dafür stieg der Anteil des Kapitals. Ein Indiz dafür ist, dass der Anteil des Volkseinkommens der obersten 10 Prozent in allen großen Volkswirtschaften gestiegen ist, während der der untersten 50 Prozent gesunken ist.[15] Armut ist nach wie vor ein zentrales Merkmal der Arbeit in den Entwicklungsländern, obwohl behauptet wird, dass ihre Verringerung weitgehend durch Manipulation der Armutsdefinition erreicht wurde. Selbst in Europa, dem einstigen Höhepunkt des Wohlfahrtsstaates, stellt der sozialdemokratische Theoretiker Wolfgang Streeck fest: «Im Folgenden wird die Entwicklung der europäischen Sozialpolitik über die longue durée analysiert, die von einem geplanten föderalen sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat zu einem Programm für wettbewerbsorientierte Anpassungen an die globalen Märkte mutiert ist. «[16] Kurz gesagt, die Arbeiterklasse hat überall verloren.

Ein großer Teil dieser zunehmenden Ungleichheit ist auf den relativen Niedergang der Gewerkschaften und die anschließende Lohnstagnation in den entwickelten Volkswirtschaften, die anhaltenden Produktivitätssteigerungen im verarbeitenden Gewerbe in der ganzen Welt und die zunehmende Einbeziehung von formellen und informellen Niedriglohnarbeitern in den Entwicklungsländern in die weltweiten Produktionssysteme zurückzuführen. Diese Trends haben überall zu einem Anstieg der Ausbeutung beigetragen. Wie der politische Ökonom Anwar Shaikh argumentiert: «Der Gesamtgrad der Einkommensungleichheit beruht letztlich auf dem Verhältnis von Gewinnen zu Löhnen, also auf der Aufteilung des Mehrwerts.»[17] Um dieses Verhältnis zugunsten des Kapitals zu erhöhen, waren hochgezüchtete Methoden zur Überwachung, Messung, Quantifizierung und Standardisierung von Arbeit implementiert worden, die sich letztlich auf alle Arbeiter überall auswirken.

Technologie und die Kontrolle der Arbeit

Für hunderte Millionen Arbeiter auf der ganzen Welt bleibt Arbeit in erster Linie eine kräftezehrende körperliche Anstrengung, die scheinbar von dem High-Tech-Regime der Automatisierung und des digitalen Managements, das die Arbeit intensiviert hat, entfernt ist. Unabhängig davon, wo oder wie ein Arbeiter beschäftigt ist, werden seine Geschwindigkeit und sein Einsatz jedoch von dieser digitalen Messung und Steuerung der Arbeit entlang der riesigen «Just-in-Time»-Korridore des Kapitals bestimmt, die sich mittlerweile über die ganze Welt erstrecken.

Was sich in der Natur der Arbeit in den letzten zwei Jahrzehnten am meisten verändert hat, ist das Ausmaß, die Durchdringung und die Anwendung digitaler Technologien, die die Arbeit von Individuen und Gruppen überwachen, quantifizieren, standardisieren, modularisieren, verfolgen und lenken.[18] Diese bauen auf den Bemühungen des Taylorismus und der schlanken Produktion auf, gehen aber darüber hinaus, individuelle und kollektive Arbeit zu quantifizieren, zu fragmentieren, zu standardisieren und dadurch zu kontrollieren, unabhängig davon, welches Produkt oder welche Dienstleistung sie produziert. Die Digitalisierung vieler arbeitsbezogener Technologien bedeutet, dass Arbeit gemessen und auf Nanosekunden heruntergebrochen werden kann, im Gegensatz zu Taylors Minuten und Sekunden, und dass ihr eine Präzision verliehen wird, die der einfachen Eliminierung von «Verschwendung» durch «Management-by-Stress» in der Lean Production fehlt. Es bedeutet auch, dass jeder Aspekt der Arbeit quantifiziert wird. Vereinfachung durch Quantifizierung ermöglicht Geschwindigkeit, und Geschwindigkeit erfordert Quantifizierung. Stress kann gemessen werden, aber nicht die Emotionen, die Auswirkungen der beruflichen Ausbildung oder die stillschweigenden Fähigkeiten aller Mitarbeiter.

All dies gilt für Dienstleistungen, die sich bereits im zwanzigsten Jahrhundert von häuslichen Dienstleistungen und Arbeiten, die von lokalen Handwerkern oder kleinen Firmen ausgeführt wurden, zu Unternehmensanbietern gewandelt haben, dann nach dem Prinzip der Kostenoptimierung reorganisiert wurden und nun digital gesteuert werden – von Call-Centern über Hotels bis hin zur Gebäudewartung. Die heutigen digital gesteuerten Messungen gelten auch für professionelle Arbeit in Bereichen wie dem Gesundheitswesen und der Bildung. In diesen Bereichen werden Daten von Arbeitern gesammelt und dann gegen sie verwendet, wie in einer Fabrik oder in einem Lager. So werden Lehrer an den Noten der Schüler (angeblich das Produkt des Lehrers) in standardisierten Tests gemessen, die auf «standardisiertem Wissen» basieren, und sie werden gezwungen, sich im Unterricht messen zu lassen. Gleichzeitig können Krankenschwestern im Krankenhaus per GPS geortet und von den algorithmischen Clinical Decision Support Systems angeleitet werden, die Standardbehandlungen empfehlen. Oder, in beiden Fällen, können sie durch weniger qualifizierte und kostengünstigere Arbeiter ersetzt werden, die standardisierte Aufgaben ausführen. Da es sich dabei meist um weibliche Arbeitskräfte handelt, die «emotionale Arbeit» verrichten, wird der emotionale Inhalt der Arbeit als ein uneingestandenes Gratisgeschenk für das Kapital betrachtet – der unbezahlte Aspekt der Arbeit der sozialen Reproduktion, die am Arbeitsplatz und nicht zu Hause verrichtet wird.[19]

Amazon ist aus gutem Grund das meistzitierte Beispiel für digital gesteuerte Arbeiter. Eine aktuelle Studie über ein Amazon-Fulfillment-Center in Kalifornien beschreibt den Kontext, in dem die Beschäftigten arbeiten: «Um das brutale Ballett zu choreografieren, das folgt, sobald ein Verbraucher auf ‚Bestellung aufgeben‘ für die Lieferung am nächsten Tag bei Amazon Prime klickt, nutzt das Unternehmen seine algorithmischen und technischen Fähigkeiten innerhalb seines massiven Netzwerks aus Kommunikations- und Digitaltechnik, Lagereinrichtungen und Maschinen, während es seine Belegschaft synchron mit der schwankenden Verbrauchernachfrage numerisch auf und ab schwingen lässt.» In identischen Einrichtungen auf der ganzen Welt wird die Arbeit selbst von Scannern und an der Hand oder am Handgelenk getragenen Computern geleitet, die die Zeit erfassen und die Arbeiter zum richtigen Produkt führen. Den Arbeitern stehen pro Schicht dreißig Minuten «Off-Task»-Zeit zu, also Zeit, in der sie sich nicht bewegen. Zusätzlich werden sie von Kiva-Robotern angetrieben, die ebenfalls Produkte herausgreifen.[20] Es ist der universelle Prototyp der Arbeit, es sei denn, der Widerstand der Arbeiter gebieten dem Einhalt.

Eine andere Dimension der heutigen Arbeitsplatztechnologie wird nur selten erwähnt: Wie die globale Belegschaft selbst, ist auch die im Amazon-Lagerhaus multirassisch und multinational. Wie der internationale Black-Lives-Matter-Aufstand von 2020 unterstrich, sind Rasse und Rassismus zwar in den Vereinigten Staaten besonders tief verwurzelt, aber weltweit und seit den Tagen der Sklaverei und des Kolonialismus eingebettet. Rassismus im Kapitalismus ist nicht nur ein Mittel, um die Arbeiterklasse zu spalten, sondern auch, um jenen rassischen oder ethnischen Gruppen den Status der Arbeiterklasse aufzuzwingen, deren «Lebenschancen» durch rassische oder ethnische Barrieren eingeschränkt sind. Er ist eine Kraft in der Klassenbildung. Daher sind Afroamerikaner überproportional in der Arbeiterklasse und arm. Auch wenn der Kapitalismus den Rassismus aus der Ära der Sklaverei und der kolonialen Eroberung geerbt haben mag, so hat er doch über Generationen hinweg Arbeit und Arbeiter auf ungleicher rassischer, ethnischer, geschlechtlicher und nationaler Basis zugeteilt.[21] Wie Managementpraktiken im Allgemeinen trägt auch die Technologie, die Arbeiter nach Beruf, Rang, Fähigkeiten, Einstellung usw. aussortiert, die Spuren dieses Erbes.

Künstliche Intelligenz und Algorithmen werden von Menschen programmiert, die in diesem historischen Kontext aufgewachsen sind und viele ihrer uralten, oft unbewussten Annahmen übernehmen, während sie gleichzeitig Daten verwenden, die notwendigerweise in der Vergangenheit wurzeln. Wie ein Analyst es ausdrückte: «Die Vergangenheit ist ein sehr rassistischer Ort. Und wir haben nur Daten aus der Vergangenheit, um Künstliche Intelligenz zu trainieren».[22] Das Argument eines Mathematikers über die rassistischen Ergebnisse von KI-Programmen, die von der Polizei zur «Vorhersage» von Gegenden mit hoher Kriminalität eingesetzt werden, gilt für jeden Aspekt des Lebens: Rassisch voreingenommene Daten «schaffen eine verhängnisvolle Rückkopplungsschleife», die rassische Stereotypen und damit die Verteilung von Arbeitskräften und rassische «Lebenschancen» verstärkt.»[23]

Eines der ungeheuerlichsten Beispiele ist die Gesichtserkennungstechnologie, die von Unternehmen und Polizeibehörden eingesetzt wird und bei der es routinemäßig nicht gelingt, dunkelhäutige Personen voneinander zu unterscheiden.[24] Es ist kaum ein Zufall, dass die meisten der schlecht bezahlten, überarbeiteten Arbeiter in diesem kalifornischen Amazon-Lagerhaus Latinx oder Schwarze sind. Rassismus ist schließlich eine der Waffen des Kapitals für den Klassenkampf, die jetzt in seine Technologie eingebettet ist. Das Gleiche gilt für Gender und Sexismus. Zum Beispiel basieren die Clinical Support Decision Systems, die Krankenpflegern auferlegt werden, auf klinischen Studien, die «systematisch Frauen und Minderheiten ausschlossen»[25].

Arbeit und die Kontrolle der Korridore des Kapitals

Die Technologie, die Beschäftigungsmuster und die Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalströme, die die heimische Produktion charakterisieren und die Welt der Arbeit formen, beruhen wiederum auf einer sich vertiefenden internationalen materiellen Infrastruktur für den Transport von Gütern und Werten in der ganzen Welt. Diese materiellen Korridore des Kapitals bestehen hauptsächlich aus den bekannten Straßen, Schienen, Schifffahrtswegen, Häfen, Pipelines, Flughäfen und traditionellen Lagerhäusern. Aber sie umfassen jetzt auch massive städtische Logistikcluster mit Einrichtungen und Arbeitskräften, kilometerlange Glasfaserkabel, die erst seit den späten 1990er Jahren in großem Umfang eingesetzt werden, Rechenzentren, die sogar noch neueren Datums sind, und Lagerhäuser, die eher für die Bewegung als für die Lagerung neu konfiguriert und durch Technologie verändert wurden. Diese größtenteils eingebettete Infrastruktur wird durch die Arbeit von Millionen von Arbeitern, die sie aufbauen und warten, geschaffen und ist von ihnen abhängig. Wenn Technologie Kontrollen auferlegt, bietet die Abhängigkeit der Infrastruktur von kontinuierlichen Arbeitsinputs den Arbeitern ihre eigene potenzielle Kontrolle – die Fähigkeit, die unerbittliche Bewegung des Werts durch das Kapital und damit den Prozess der Akkumulation zu verlangsamen oder zu stoppen.

Marx betrachtete das Transport- und Kommunikationswesen als Teil des Gesamtprozesses der Wertproduktion.[26] Die zig Millionen Arbeiter auf der ganzen Welt in diesen eingebetteten Lagerstätten des konstanten Kapitals und in den Lastwagen, Zügen, Schiffen, Flugzeugen, Kabelstationen und Rechenzentren, die Waren, Daten und Finanzen über diese Infrastruktur bewegen, sind also ebenso Produktionsarbeiter wie jene in den Fabriken oder an den Orten der Dienstleistungserbringung. Sie lassen die Kreisläufe des Kapitals funktionieren und sorgen für einen Großteil der Geschwindigkeit, mit der sich diese Kreisläufe drehen. Über und durch diese Transport- und Kommunikationswege bewegen sich diese Kreisläufe des Kapitals mit der bekannten Marx’schen Formel G-W-G‘, die sequenziell und gleichzeitig Millionen Mal am Tag wiederholt wird. Die Geschwindigkeit, mit der dies geschieht, beeinflusst den potenziellen Profit.[27] Und natürlich sind, angetrieben durch den globalen Wettbewerb, Geschwindigkeit und «Just-in-time»-Lieferung zu Hauptmerkmalen der heutigen Produktion und Logistik geworden.

Das gilt für diejenigen, die in der Bewegung von Daten, Informationen und Geld arbeiten, ebenso wie für diejenigen, die auf einer Straße fahren, ein Containerschiff beschicken, eine Pipeline warten oder in einer Fabrik arbeiten, also für all jene Arbeiter, die lebendige Arbeitskraft mit akkumulierter toter Arbeit verschmelzen, um Wert zu produzieren. Keine dieser Infrastrukturen, auch nicht die Kapitalanlagen, die über und durch sie laufen, werden ohne die Hand und den Verstand von lebendiger Arbeit zum Leben erweckt. Selbst das am meisten automatisierte System erfordert ständige Wartung und Reparatur. Zum Beispiel beschäftigten die 39 angeblich vollautomatisierten Rechenzentren von Amazon in den USA und Irland Anfang 2020 zehntausend Arbeiter, um sie am Laufen zu halten.[28]

Was als «die Wolke» oder Cyberspace bezeichnet wird, ist nichts anderes als ein ausgedehnter materieller Komplex aus Glasfaserkabeln, Rechenzentren, Sendern und Computern. In einem Artikel der New York Times hieß es: «Die Leute denken, dass die Daten in der Wolke sind, aber das sind sie nicht. Sie sind im Ozean.» Tatsächlich befinden sie sich auch auf und unter dem Land sowie unter dem Meer, auf Wegen, die ursprünglich Mitte des 19. Jahrhunderts für Telegrafenkabel verlegt wurden. 95 Prozent des Internetverkehrs werden heute über Glasfaserkabel abgewickelt. Das gesamte vernetzte Materialsystem und seine Teile sind hochgradig anfällig, und Brüche oder Störungen sind häufig. [29]

Das System wird von Arbeitern auf Kabelschiffen verlegt und repariert, von Arbeitern in Kabelstationen auf der ganzen Welt, von Arbeitern, die bei nationalen Telekommunikationsunternehmen angestellt sind, und von Arbeitern in der wachsenden Zahl riesiger Rechenzentren, die, wie James Bridle es ausdrückt, «riesige Mengen an Abwärme erzeugen und entsprechende Mengen an Kühlung durch Unmengen von Klimaanlagen benötigen»[30], für deren Betrieb wiederum menschliche Arbeit erforderlich ist. An jedem Punkt dieser scheinbar immateriellen Bewegung von Daten und Geld gibt es Arbeiter verschiedener Art und mit unterschiedlichen Fähigkeiten, ohne die es keine Bewegung geben würde. Es gibt keine Digitalisierung ohne menschliche Manipulation.

In einer Zeit relativ geringer Investitionen sind unzählige Milliarden in den Ausbau und die Vertiefung dieser Infrastruktur geflossen. Betrachtet man ein etwas breiteres Maß an Infrastruktur, so schätzt Price Waterhouse Coopers, dass von 2010 bis 2017 1,7 Billionen Dollar von privater Seite in die Infrastruktur investiert wurden, in einem Sektor, in dem staatliche Investitionen oft die Hauptrolle spielen.[31] Regelmäßig werden neue Kabel verlegt, Häfen und Kanäle gegraben oder ausgebaggert, neue kontinentübergreifende Schienenwege verlegt, mehr Flughäfen gebaut und alte erweitert.[32] So bedeutend diese neuen Investitionen auch sind, sie stellen nur den anfänglichen Kosten- und Arbeitsaufwand dar. Wie Akhil Gupta über die vielen neuen Infrastrukturprojekte auf der ganzen Welt argumentiert: «Sobald das Projekt fertiggestellt und offiziell für eröffnet erklärt ist, beginnt es, repariert zu werden.»[33] Das heißt, die «tote» Arbeit, die in der Infrastruktur geronnen ist, erfordert den ständigen Einsatz von lebendiger Arbeit über ihre gesamte funktionierende «Lebensdauer».

Eine wichtige Triebkraft für den Ausbau der Infrastruktur ist die 2013 vom chinesischen Präsidenten Xi Jinping ins Leben gerufene Belt and Road Initiative. Diese hat, größtenteils durch Kredite, ein Netzwerk von Superautobahnen, Eisenbahnlinien (drei von China nach Europa), Häfen und Flughäfen finanziert, das sich «in den Pazifik, den Indischen Ozean und tief nach Afrika» sowie in den Nahen Osten und nach Europa erstreckt. Im Jahr 2015 hatte China 890 Milliarden Dollar für 900 Projekte vorgesehen.[34] Bis 2019 wird sich das Land «auf Energie, Infrastruktur und Transport mit einem geschätzten Gesamtinvestitionspotenzial von etwa 1,4 Billionen Dollar konzentrieren – eine Größenordnung, die es noch nie zuvor gesehen hat», so der Analyst Daniel Yergin.[35] Solche Vorhaben ziehen die Beschäftigung einer riesigen Zahl von Arbeitern in den weiten Räumen Zentral- und Südasiens, des Nahen Ostens und Afrikas nach sich, die diese Projekte zum Leben erwecken und durch kollektive Aktionen auch wieder stilllegen könnten.

Eine Ära der Rebellion: Klasse oder Multitude?

All dies geschah in einer Zeit wirtschaftlicher Turbulenzen und wiederkehrender Krisen, einer Klimakrise, die nicht mehr ignoriert werden kann, und zuletzt der COVID-19-Pandemie. Jedes dieser Ereignisse hat in dem einen oder anderen Maße zu einem dramatischen Anstieg von sozialem Aktivismus, Streiks und Massenmobilisierung gegen den Status quo beigetragen. Fast überall waren diese Streiks, Massendemonstrationen und Mobilisierungen das Ergebnis wirtschaftlicher Veränderungen, Verwerfungen und Notlagen, die manchmal durch Kriege noch verschärft wurden. Aber sie waren insofern politisch, als sie sich meist gegen die Regierungen und die neoliberale Politik und die damit einhergehende Korruption richteten, die der Mehrheit der Menschen auf der ganzen Welt Leid zufügten. Der internationale Aufstand, der mit dem Arabischen Frühling 2011 begann und sich während der COVID-19-Pandemie im Jahr 2020 fortsetzte und sogar noch beschleunigte, war viel zu bedeutsam und komplex, um hier im Detail beschrieben zu werden. Vielmehr werde ich versuchen, einige seiner wichtigsten Merkmale und die Rolle der Arbeiterklasse in diesem allgemeinen Aufschwung zu analysieren.

Laut einer Analyse der «zivilen Unruhen» im Jahr 2019 durch das Risikobewertungsunternehmen Versisk Maplecroft gab es allein im Jahr 2019 in 47 Ländern, also in fast einem Viertel aller Nationen, größere zivile Unruhen. Diese Zählung zeigt, dass diese Proteste in allen Regionen der Welt mit Ausnahme von Nordamerika stattfanden.[36] Dabei wurden jedoch einige wichtige Aktionen in Nordamerika übersehen, darunter mehrere große Streiks, der enorme Aufschwung von Black Lives Matter und die Massenstraßenmobilisierungen und Streiks im Juli in Puerto Rico.[37] Zu diesen «zivilen Unruhen» kamen neue, sehr sichtbare Massenmobilisierungen und laufende Demonstrationen im Jahr 2020 in Weißrussland, Thailand und im Fernen Osten Russlands, Massenstreiks in Indonesien sowie der Aufschwung von Black Lives Matter in den Vereinigten Staaten und einem Großteil der Welt.[38]

Viele dieser Mobilisierungen wurden von Studenten oder Aktivisten mit unterschiedlichem Klassenhintergrund begonnen, so dass die Frage, welche Rolle Menschen und Organisationen der Arbeiterklasse bei all diesen «zivilen Unruhen» spielten, angesprochen werden muss.

David McNally hat «die Rückkehr des Massenstreiks» sehr detailliert analysiert. Mit Blick auf die Massenstreiks seit der Rezession 2008 schreibt er im Jahr 2020: «In dem Jahrzehnt seit der Großen Rezession haben wir eine Reihe enormer Generalstreiks erlebt (Guadeloupe und Martinique, Indien, Brasilien, Südafrika, Kolumbien, Chile, Algerien, Sudan, Südkorea, Frankreich und viele mehr) sowie Streikwellen, die zum Sturz von Staatschefs beigetragen haben (Tunesien, Ägypten, Puerto Rico, Sudan, Libanon, Algerien, Irak).»[39]

Darüber hinaus gab es weltweit Massenstreiks verschiedener Größenordnungen, die oft mit Fragen der sozialen Reproduktion verbunden waren, darunter die Lehrerstreiks 2018-2019 in den Vereinigten Staaten. Wie McNally betont, wurde der Massenstreik auch von der Frauenbewegung übernommen, insbesondere in den Internationalen Frauenstreiks, die 2017 und 2018 im Namen des «Feminismus der 99 Prozent» durch 50 Nationen zogen. Einige Massenstreiks, so berichtet er, fanden inmitten breiterer Mobilisierungen auf Straßen und Plätzen in der ganzen Welt statt, wie etwa in Hongkong, Chile, Thailand, der Ukraine, dem Libanon und dem Irak.[40]

Dass die Aktionen der Arbeiterklasse im Zentrum des Aufstandes standen, lässt sich an einigen allgemeinen Zahlen ablesen. Das Europäische Gewerkschaftsinstitut rechnet vor, dass es zwischen 2010 und 2018 in der Europäischen Union 64 Generalstreiks gab, fast die Hälfte davon in Griechenland.[41] Allgemeiner ausgedrückt, schätzt die ILO, die nur 56 Länder betrachtet, dass es zwischen 2010 und 2019 44.000 Arbeitsniederlegungen gab, hauptsächlich in der verarbeitenden Industrie. Der ILO-Autor merkt jedoch an, dass die Zahl der Streiks angesichts der begrenzten Datenlage «weitaus höher als 44.000 sein könnte».[42] Allein in China zählte das China Labour Bulletin zwischen 2015 und 2017 rund 6.694 Streiks in einer Vielzahl von Branchen. Lu Chunsen schätzt 3.220 Streiks von Arbeitern des verarbeitenden Gewerbes in China von 2011 bis Mai 2019, trotz der prekären Natur der Arbeit, der massenhaften Binnenmigration in die Städte und des Streikverbots der Regierung.[43] Hier sehen wir ein klares Beispiel für die Verschmelzung von informellen Wanderarbeitern mit der formellen Belegschaft – und ihre nachfolgenden Aktionen.

Wir wissen, dass die Gewerkschaften in vielen der jüngsten Kämpfe eine wichtige Rolle spielten, selbst dort, wo sich die Führer der Mittelschicht vor die Massen stellten. In Weißrussland zum Beispiel enthüllte ein Interview der BBC mit einem Gewerkschaftsführer, dass er einer der obersten Anführer des Aufstandes war. In einer detaillierten Analyse des Arabischen Frühlings stellt Anand Gopal fest, dass gewerkschaftlich organisierte Arbeiter zwar eine Schlüsselrolle bei den meisten arabischen Rebellionen spielten, dass aber in der Anfangsphase des syrischen Aufstands die zersplitterten Arbeitermassen aus den Elendsvierteln kamen und dass «die Basis der Bewegung aus prekären, halbbeschäftigten Arbeitern bestand, die einfach nicht die strukturelle Kraft besaßen, um die syrische Elite zu bedrohen».[45]

Mit anderen Worten: Ein Großteil der Massenbasis von 2011 kam sowohl aus der organisierten Arbeiterklasse als auch aus Segmenten der informellen Arbeiter in den meisten arabischen Ländern, von denen viele, wie wir oben gesehen haben, zu einem bestimmten Zeitpunkt in die GVC des multinationalen Kapitals hineingezogen wurden, die auf den Ölfeldern, an den Pipelines, am Suezkanal und in den vielen Häfen des Nahen Ostens und Nordafrikas arbeiten. Gopal argumentiert, dass gerade ihre Prekarität und informelle Beschäftigung bedeutet, dass sie wenig Macht hatten. Dennoch haben sich diese Arbeiter in vielen Entwicklungsländern in ihren Nachbarschaften und über nationale Gewerkschaften, informelle Arbeiterverbände, Wanderarbeiterorganisationen und Kooperativen sowie in den Betrieben organisiert, um die Straßen und Plätze zu stürmen, wie es Arbeiter seit Generationen getan haben.[46]

Das scheinbar klassengemischte Erscheinungsbild vieler Massenstreiks und Demonstrationen war auch ein Ergebnis der «Proletarisierung» von gebildeten Menschen wie Lehrern und Krankenschwestern, deren Jobs durch die oben beschriebenen Prozesse standardisiert und einem strengeren Management unterworfen wurden, sowie des Abstiegs vieler gebildeter «Millennials» in Arbeiterjobs. Hier scheinen die Klassenlinien zu verschwimmen, aber das soziale Schicksal der Mehrheit dieser und der nächsten Generation ist eindeutig die Arbeiterklasse. Einige von ihnen zeigen sich in Streiks von «Plattform»-Arbeitern oder Zustellern und anderen Arbeitern, die im Zusammenhang mit der Pandemie, die diesen sozialen Wandel wahrscheinlich noch beschleunigen wird, als «unverzichtbar» für die soziale Reproduktion neu entdeckt werden.

Klar scheint zu sein, dass die Massenbasis der meisten Rebellionen des letzten Jahrzehnts aus der Arbeiterklasse stammte und dass sie in erheblichem Maße die traditionelle Waffe des Massenstreiks einsetzten, unabhängig davon, ob Studenten eine auslösende Rolle spielten oder nicht und ob Berufstätige aus der Mittelschicht und Politiker Führungsrollen übernahmen. Dies war der Fall, unabhängig davon, ob sie Gewerkschaftsmitglieder waren oder nicht oder eine feste Anstellung hatten, ähnlich wie die Massen, die Rosa Luxemburg in der Russischen Revolution von 1905 analysierte, deren Streiks «eine grosse Mannigfaltigkeit der verschiedensten Aktionsformen aufweisen».[47] Diese ganze Periode war ein Beispiel für die Selbstaktivität der Arbeiterklasse mit sowohl wirtschaftlichen als auch politischen Forderungen.

Doch nirgendwo strebten die Streiks oder Massenmobilisierungen nach politischer Macht für die Arbeiter selbst oder nach einem Programm, das sich dem Sozialismus näherte. Nirgendwo waren die Arbeiterklasse oder gemischte Klassen im Übergang für solche Ziele organisiert. In einigen Fällen schien es keine erkennbaren Anführer zu geben. Dennoch waren die Teilnehmer in «einer Vielzahl unterschiedlichster Aktionsformen» und Organisationen organisiert, oft über Netzwerke, die durch soziale Medien ermöglicht wurden.

Die Schwierigkeit, das Potenzial dieser Ära der Rebellion zu analysieren, wird durch die ungewissen Auswirkungen der drei Krisen des Kapitalismus und insbesondere die Auswirkungen der Pandemie auf eine Vielzahl von Branchen und die GVCs verstärkt. Solche Spekulationen sind für einen anderen Artikel vorgesehen. Das nützlichste Verständnis des Potenzials des gegenwärtigen Aufschwungs wird am besten von McNally beschrieben, der schreibt: «Die neuen Streikbewegungen sind Vorboten einer Periode der Neuzusammensetzung militanter Widerstandskulturen der Arbeiterklasse, des Bodens, aus dem sozialistische Politik wachsen kann».[48] Ob diese Neuzusammensetzung dazu beitragen wird, einen allgemeinen Aufschwung der Arbeiterklasse hervorzubringen, ist unmöglich vorherzusagen. Aber wie der Vertreter der United Electrical Workers, Mark Meinster, in Labor Notes schreibt: «Aufstände der Arbeiterklasse finden oft im Kontext tiefgreifender sozialer Veränderungen in der Gesellschaft als Ganzes statt, wie z. B. abrupte und weit verbreitete wirtschaftliche Verwerfungen, ein tiefgreifender Legitimitätsverlust der herrschenden Eliten oder abnorme politische Instabilität.»[49] Das beschreibt in etwa die Situation, mit der die Arbeiterklasse heute weltweit konfrontiert ist.

Anmerkungen

  1. Karl Marx, Das Kapital. Buch III: Der Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion (MEW 25, Dietz), 892.
  2. International Labour Office, World Employment and Social Outlook: Trends 2020 (ILO, 2020), 19; International Labour Organization, “ILO Modelled Estimates: Employment by Sector: Annual”, Nov. 2019, MBI_33_EN(2).xlsx; International Labour Office, Global Wage Report 2008/09 (ILO, 2008), 10.
  3. Ursula Huws, “Social Reproduction in Twenty-First Century Capitalism,” in Leo Panitch and Greg Albo, eds. Socialist Register 2020 (London: The Merlin Press, 2019), 169.
  4. The World Bank, Report 2020, 88; Snehashish Bhattacharya and Surbhi Kesar, “Precarity and Development: Production and Labor Process in the Informal Economy in India,” Review of Radical Political Economics (Vol 52, Issue 3, 2020), 387-408;Kate Maegher, “Working in chains: African informal workers and global value chains,” Agrarian South: Journal of Political Economy (Vol. 8, Issue 1-2, 2019), 64-92; ILO, Interactions Between Workers’ Organizations and Workers in the Informal Economy: A Compendium of Practice (ILO, 2-19), 13-14.
  5. Bhattacharya and Kesar, “Precarity,” 387-408.
  6. World Bank, Report 2020, 19.
  7. ILO, World Employment, 19; ILO, “ILO Modelled Estimates,” Nov. 2019; Bhattacharya and Kesar, “Precarity,” 387-408; Maegher, “Working in chains,” 64-92.
  8. Ursula Huws, Labor in the Digital Economy: The Cybertariat Comes of Age (Monthly Review, 2014), 149-181; ILO, “ILO Modelled Estimates.”
  9. World Inequality Lab, World Inequality Report 2018, Executive Summary (World Inequality Lab, 2017), 11; ILO, World Employment and Social Outlook – Trends 2019(ILO, 2019), 14.
  10. World Bank, “Employment in Industry (% of total employment) (modeled ILO estimate)”; World Bank, “Employment in Services (% of total employment) (modeled ILO estimate).
  11. World Bank, “Manufacturing Value Added ($US current); World Bank, World Development, 27; UNIDO, Industrial Development Report 2020 (United Nations Industrial Development Organization, 2019), 150; ILO, “ILO Modelled Estimates.”
  12. UNIDO, Report 2020, 144-149; BDI, Global Power ShiftNov. 11, 2019,
  13. International Organization for Migration, World Migration Report 2020 (International Organization for Migration, 2019), 3, 21.
  14. Susan Ferguson and David McNally, “Precarious Migrants: Gender, Race and the Social Reproduction of a Global Working Class,” in Leo Panitch and Greg Albo, eds., Socialist Register 2015 (Merlin Press, 2014), 1, 3.
  15. UNCTAD, Trade and Development Report 2020 (UN Conference on Trade and Development, 2020), 6; World Inequality Lab, Report 2018, 5-8.
  16. Wolfgang Streeck, “Progressive Regression: Metamorphoses of European Social Policy,” New Left Review (118, July/August 2019), 117.
  17. Anwar Shaikh, Capitalism: Competition, Conflict, Crises (Oxford, 2016), 755, emphasis in original.
  18. Huws, Digital Economy, 94-96.
  19. Institute for Health and Socio-Economic Policy, Health Information Basics(Institute for Health and Socio-Economic Policy, 2009), 4-7; Lois Weiner, “Walkouts Teach U.S. Labor a New Grammar for Struggle,” New Politics (No. 65, Summer 2018), 3-13; Will Johnson, “Lean Production,” in Shawn Gude and Bhaskar Sunkara, eds., Class Action: An Activist Teacher’s Handbook (Jacobin Foundation, 2014), 11-31; Huws, Digital Economy, 34-41.
  20. Jason Struna and Ellen Reese, “Automation and the Surveillance-Driven Warehouse in Inland Southern California,” in Jake Alimahomed-Wilson and Ellen Reese, eds., The Cost of Free Shipping: Amazon in the Global Economy (Pluto Press, 2020), 90-92; James Bridle, New Dark Age: Technology and the End of the Future (Verso, 2018), 114-116.
  21. For example, see David R. Roediger and Elizabeth D. Esch, The Production of Difference: Race and the Management of Labor in U.S. History (Oxford, 2012).
  22. Bridle, Dark Age, 144-145.
  23. Cathy O’Neil, Weapons of Math Destruction: How Big Data Increases Inequality and Threatens Democracy (Penguin, 2016), 87.
  24. Bridle, Dark Age, 139-144.
  25. Institute for Health, 4-7.
  26. Karl Marx, Grundrisse: Introduction to the Critique of Political Economy (Penguin Books, 1973), 533-534; Karl Marx, Capital, Volume II (Penguin Books, 1978), 226-227.
  27. Marx, Grundrisse, 517-518.
  28. Datacenters.com, “Amazon AWS, maps and photos,” (accessed 4/20/20).
  29. Alan Satariano, “How the Internet Travels Across Oceans,” New York Times, March 10, 2019. Nicole Starosielski, The Undersea Network (Duke University Press, 2015).
  30. Bridle, Dark Age, 61; Starosielski, The Undersea Network.
  31. PwC, Global Infrastructure Investment: The role of private capital in the delivery of essential assets and services (Price Waterhouse Coopers, 2017), 5.
  32. For examples of harbor and canal dredging and construction mainly in the Middle East see, Laleh Khalili, Sinews of War and Trade: Shipping and Capitalism in the Arabian Peninsula (Verso, 2020).
  33. Akhil Gupta, “The Future in Ruins: Thoughts on the Temporality of Infrastructure,” in Nikhil Anand, et al., eds., The Promise of Infrastructure (Duke University Press, 2018), 72.
  34. Peter Frankopan, The New Silk Roads: The Present and Future of the World (Bloomsbury, 2018), 89-114.
  35. Daniel Yergin, The New Map: Energy, Climate, and the Clash of Nations (Allen Lane, 2020)181.
  36. Miha Hribernik and Sam Haynes, “47 countries witness surge in civil unrest – trend to continue in 2020,” Maplecroft, Jan. 16, 2020; Saceed Kamali Dehghan, “One in four countries beset by civil strife as global unrest soars,” Guardian, Jan. 16, 2020.
  37. Rafael Bernabe, “The Puerto Rican Summer,” New Politics (No. 68, Winter 2020), 3-10.
  38. Dera Menra Sijabat and Richard C. Paddock, “Protests Spread Across Indonesia Over Job Law,” New York Times, Oct. 8, 2020.
  39. David McNally, “The Return of the Mass Strike: Teachers, Students, Feminists, and the New Wave of Popular Upheavals,” Spectre (Vol. 1, Issue 1, Spring 2020), 20.
  40. McNally, “Mass Strike,” 15-27.
  41. European Trade Union Institute, Strikes in EuropeApril 7, 2020.
  42. Rosina Gammarano, “At least 44,000 work stoppages since 2010,” ILO, Nov. 4, 2019.
  43. Yu Chunsen, “All Workers Are Precarious: The ‘Dangerous Class’ in China’s Labour Regime,” in Panitch and Albo, eds., Socialist Register2020, 156.
  44. Ksenia Kunitskaya and Vitaly Shkurin, “In Belarus, the Left Is Fighting to Put Social Demands at the Heart of the Protests,” Jacobin, Aug. 17, 2020.
  45. Anand Gopal, “The Arab Thermidor,” Catalyst (Vol. 4, No. 2, Summer 2020), 125-126.
  46. For multiple examples of this see ILO, Interactions Between Workers’ Organizations and Workers in the Informal Economy: A Compendium of Practice (ILO, 2019); Ronaldo Munk, et al.,Organising Precarious Workers in the Global South (Open Society Foundations, 2020).
  47. Rosa Luxemburg, “The Mass Strike, the Political Party and the Trade Unions,” in Mary-Alice Waters, ed., Rosa Luxemburg Speaks (Pathfinder Press, 1970), 163, 153-218.
  48. McNally, “Mass Strike,” 16.
  49. Mark Meinster, “Let’s Not Miss Any More Chances,” Labor Notes (No. 500, November 2020), 3.

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About Author

*Kim Moody was a founder of Labor Notes and is the author of several books on labor and politics, including On New Terrain: How Capital Is Reshaping the Battleground of Class War (Haymarket Books, 2017). He is currently a visiting scholar at the University of Westminster in London and a member of the University and College Union and the National Union of Journalists.

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Quelle: newpol.org… vom 12. März 2021; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch. Die Fussnoten wurden nicht übersetzt und nur in Ausnahmefällen bearbeitet.

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