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Tạ Thu Thâu und die vergessene Revolution in Vietnam im Jahr 1945

Eingereicht on 25. April 2025 – 10:59

Jens-Hugo Nyberg. Es ist eine gängige Behauptung, dass der Trotzkismus nirgendwo eine Massenkraft war. Das stimmt jedoch nicht, und abgesehen von Sri Lanka, wo die LSSP in den 1940er, 1950er und 1960er Jahren zu einer Massenpartei wurde, ist die wichtigste Ausnahme ein Land, das für seinen späteren heldenhaften Widerstand gegen den US-Imperialismus bekannt ist: Vietnam.

Die von den Stalinist:innen kontrollierte Kommunistische Partei unter Hồ Chí Minh sollte die Macht im Norden des Landes übernommen haben, bevor Vietnam zu einem Symbol für die Welt wurde, aber davor waren die Trotzkist:innen eine Zeit lang die dominierende Kraft unter den vietnamesischen Massen. Am Ende des Zweiten Weltkriegs standen auch sie am Rande einer echten Revolution, die hätte verhindern können, dass die Imperialist:innen wieder im Lande Fuß fassen und den Massen einen jahrzehntelangen Krieg ersparen können. Dies wurde jedoch von den Stalinist:innen verhindert, die die trotzkistischen Führer:innen, die sie in die Finger bekamen, hinrichteten, wie den berühmtesten unter ihnen: Tạ Thu Thâu.

Tạ Thu Thâu (1906–1945)

Thâu wurde 1906 in einer armen Familie in Tân Bình, im Süden des späteren Vietnams, geboren. Nach dem Tod seiner Mutter musste er ab seinem 11. Lebensjahr für den Unterhalt der Familie sorgen. Trotz dieser Umstände und seiner zunehmend aktiven Beteiligung am aufkeimenden Widerstand gegen den Kolonialismus war er gut in der Schule und kam 1927 nach Paris, um an der Universität zu studieren. Zu dieser Zeit begannen sich antikoloniale Bewegungen zu formieren, von denen viele durch die Russische Revolution inspiriert waren. Mehrere der Bewegungen in Frankreichs Kolonien begannen, sich im Paris des 20. Jahrhunderts zu formieren.

Ein großes Problem für diese Entwicklung stellte die stalinistische Degeneration der Sowjetunion und der Kommunistischen Internationale dar. In den frühen 1920er Jahren, zunehmend unter der Führung von Bucharin und Stalin, schwenkte die Politik der Komintern nach rechts, hin zu einer Annäherung an nationalistische Kräfte, mit verheerenden Folgen, insbesondere in China 1925–27. Nach einigen Jahren des ultralinken Abenteurertums gipfelte diese Entwicklung in einem erneuten, stärkeren Rechtsruck und einer direkten Ausrichtung auf die Kolonialmächte im Rahmen der Volksfrontpolitik ab 1934. Dies bedeutete, dass die aufkeimenden revolutionären und kommunistischen Bewegungen an nationalistische und bürgerliche Kräfte gebunden waren.

In Paris gab es Trotzkist:innen, und während Thâu sich über den Opportunismus der moskautreuen Organisationen zu ärgern begann, trat er in Kontakt mit Alfred Rosmer und anderen und kam bald zu dem Schluss, dass die vietnamesische Bourgeoisie zu schwach und unzuverlässig war: Die Befreiung konnte nur durch den Kampf der Arbeiter:innen und Bäuer:innen kommen, sie konnte nicht auf die nationale Unabhängigkeit beschränkt werden. Seine Zeit in Paris wurde jedoch bald beendet, als er verhaftet und aus Frankreich ausgewiesen wurde, nachdem er 1930 an Demonstrationen zur Unterstützung des Yên-Bái-Aufstandes teilgenommen hatte (von der Vietnamesischen Nationalistischen Partei organisierter Aufstandsversuch mit einer Meuterei vietnamesischer Kolonialsoldat:innen in der gleichnamigen Garnison Französisch-Indochinas im Zentrum). Es war an der Zeit, seine marxistische Ausbildung zu Hause in die Praxis umzusetzen.

Die Gründung des Trotzkismus in Vietnam

1931 wurde eine vietnamesische Sektion von Trotzkis Internationaler Linker Opposition gegründet. Sie spaltete sich jedoch bald aufgrund taktischer Unstimmigkeiten ab und bestand im Wesentlichen aus zwei Gruppierungen: La Lutte (Der Kampf) mit Tạ Thu Thâu und die Liga Internationalistischer Kommunist:innen für den Aufbau der Vierten Internationale (ICF, LICCFI; Chanh Doan Cong San Quoc Te Chu Nghia–Phai Tan Thanh De Tu Quoc) mit Hồ Hữu Tường. Die radikaleren Slogans der Trotzkist:innen, wonach die Arbeiter:innen und Bäuer:innen für ihre Interessen kämpfen sollten, ohne ihre Hoffnungen auf die schwache und unzuverlässige Bourgeoisie zu setzen, gewannen an Boden, als der Widerstand gegen die Kolonialmacht zunahm. Dies bedeutete jedoch auch, dass die Trotzkist:innen stärker unter den französischen Repressionen zu leiden hatten. Anführer:innen wie Thâu verbrachten einen Großteil ihrer verbleibenden Jahre im Gefängnis, wurden misshandelt und manchmal gefoltert. Leider bildete die Gruppe La Lutte jedoch einige Jahre lang eine merkwürdige Einheitsfront mit den Stalinist:innen, mit gemeinsamen Listen bei den Wahlen zur Kolonialversammlung und einer Politik, sich nicht gegenseitig zu kritisieren. Sie unterschätzten die Notwendigkeit, die Massen von der opportunistischen Politik der Stalinist:innen zu überzeugen. Diese Notwendigkeit wurde besonders deutlich, als 1936 die Volksfrontregierung in Frankreich gebildet wurde.

Die Arbeiter:innen und Bäuer:innen Vietnams wurden durch die Streiks und die scheinbar radikale Regierung in Frankreich zu einer Welle des radikalen Kampfes ermutigt, mit massiven Streiks und Kämpfen um Land. Aber gleichzeitig wurde die Kommunistische Partei angewiesen, nicht gegen die französische Kolonialherrschaft zu kämpfen. Zusätzlich zu diesen unüberbrückbaren Differenzen war die Einheitsfront durch die immer bösartigeren Angriffe der Stalinist:innen auf die Trotzkist:innen zur Spaltung verurteilt, und 1937 wurde Letztere zu einer Tatsache. Dass es eine starke Basis für den revolutionären Marxismus gab, zeigte sich daran, dass die Vertreter:innen von La Lutte bei den Wahlen zur Kolonialversammlung 1939 mit ihrem Programm der sozialen Revolution über 80 % der Stimmen der vietnamesischen Massen erhielten. Diese Entwicklung hin zu einem trotzkistisch geführten Massenkampf wurde jedoch durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und die Eskalation der Unterdrückung unterbrochen.

Der Krieg bot völlig andere Bedingungen für Trotzkist:innen und Kommunist:innen, um ihre Kräfte zu erhalten. Die ICF und La Lutte versuchten, ihre Hochburgen in den Städten zu halten und im Untergrund unter den Arbeiter:innen zu arbeiten, wurden aber von der französischen Repression hart getroffen und konnten ihre Strukturen nicht aufrechterhalten. Die Stalinist:innen hatten die Việt Minh gegründet – eine Front, die vollständig von ihnen dominiert wurde, aber mit einer nationalistischen Plattform, die ein breiteres Publikum ansprechen konnte. Es gelang ihnen, in China eine Guerillatruppe unter der Ägide der Kuomintang aufzubauen, und in der zweiten Hälfte des Krieges erhielten sie etwas Waffenhilfe von den USA. Als sich die armen Massen Vietnams nach der japanischen Kapitulation erhoben, besaßen die Stalinist:innen daher eine stärkere Ausgangsposition.

Die Revolution von 1945

Während des Krieges hatten die japanischen Streitkräfte mehrere Jahre lang die französische Herrschaft über Vietnam aufrechterhalten. Im Frühjahr 1945 lösten sie die französische Vorherrschaft auf und übernahmen selbst die Macht. Als Japan im August 1945 kapitulierte, wurde die herrschende Macht somit aufgelöst und es entstand ein Machtvakuum. Dies löste eine massive Welle von Kämpfen aus, bei denen die Arbeiter:innen die Kontrolle über ihre Stadtviertel, Städte und Arbeitsplätze übernahmen. Vielerorts übernahmen die Bäuer:innen die Kontrolle über ihre Bezirke, manchmal nachdem sie die Großgrundbesitzer:innen auf das Gründlichste beseitigt hatten.

Den Trotzkist:innen war es gelungen, sich ab Ende 1944 wieder zu organisieren, vor allem nach der Freilassung von Führer:innen wie Tạ Thu Thâu nach mehreren Jahren Haft. Im August stürzte sich die Internationale Kommunistische Liga (IKL; wiedervereinigte Sektion seit 1939) um die Zeitung La Lutte in die Massenbewegung, und ihre Slogans von der Bewaffnung der Massen zur Verteidigung gegen den Imperialismus waren weithin zu hören. Eine große Zahl von Arbeiter:innen, die an den in Saigon organisierten Massendemonstrationen teilnahmen, schloss sich ihren Parolen an: Land für die Bäuer:innen, Kontrolle der Fabriken für die Arbeiter:innen, Waffen für das Volk und für eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung. Sie wurden zu einer wichtigen Kraft in den Volkskomitees, die auf breiter Basis organisiert waren und immer größere Massen von Menschen in Südvietnam umfassten. Allen anderen politischen Kräften war klar, dass die Trotzkist:innen ein radikaler Anziehungspunkt waren, der explosionsartig wuchs, Zeitungen herausgeben konnte und auf dem Weg war, die Massen für sich zu gewinnen.

Nun kehrten die Việt Minh auf breiter Front zurück, nachdem sie ihre Hauptstreitkräfte auf chinesischem Boden hatten. Sie übernahmen ohne große Schwierigkeiten die Kontrolle über den Norden, aber im industrialisierten Süden war die revolutionäre Strömung der Massen am stärksten. In dieser Situation unterstützten die verzweifelten nationalistischen und bürgerlichen Kräfte gerne die von den Stalinist:innen dominierte Front, die ihnen versicherte, dass es in der kommenden Zeit nur um den Kampf für die Nation – und nicht um den Klassenkampf – gehen könne, und die zudem die Seriosität besaß, während des Krieges von „demokratischen“ westlichen Verbündeten unterstützt worden zu sein.

Selbst was die nationale Befreiung anging, präsentierten die Việt Minh ein sehr bescheidenes Programm. Stalin hatte mit seinen Verbündeten über die Aufteilung der Welt verhandelt, einschließlich Vietnam, das tatsächlich seine Unabhängigkeit erlangen würde, allerdings erst in 5–10 Jahren, nach einer Übergangsregierung durch China im Norden und die britischen Imperialist:innen im Süden. Und das, obwohl das französische Regime von Japan liquidiert worden war. Was für ein Verrat an dem jahrelangen Kampf der vietnamesischen Massen gegen die Unterdrückung, die imperialistische Herrschaft wieder zuzulassen, werden viele vielleicht denken, und sie haben Recht. Dagegen setzten Tạ Thu Thâu und die anderen echten Revolutionär:innen die Losung: Bewaffnet die Massen, um die Imperialist:innen jetzt zu vertreiben!

Die Revolution in Vietnam im August 1945: Die Stalinist:innen laden die Imperialist:innen ein und zerschlagen die Revolution

Der Konflikt zwischen den Kompromissen der Stalinist:innen mit der einheimischen Bourgeoisie und dem Imperialismus auf der einen Seite und dem Klassenkampf der Arbeiter:innen und Bäuer:innen als Vorrecht der echten Kommunist:innen auf der anderen Seite war unvermeidlich. Die Việt Minh behaupteten natürlich, die „realistische“ Linie gegen die abenteuerliche Politik der Trotzkist:innen zu vertreten – obwohl er sie in klassischer stalinistischer Manier oft als Verräter:innen oder sogar „Faschist:innen“ beschuldigte. Die Việt Minh befürworteten die Auflösung der Volkskomitees, die Rückgabe der Fabriken an ihre Eigentümer:innen, die Wiederaufnahme der Arbeit der streikenden Arbeiter:innen und die Rückgabe eines Großteils des Landes an seine früheren Eigentümer:innen. Dies sollte, wie sie sehr deutlich erklärt hatten, ein Kampf für Vietnam sein, nicht für die Arbeiter:innen oder Bäuer:innen als Klassen. „Der ‚Kampf‘ für Vietnam“, so Hồ Chí Minh, würde jedoch aus einem Kompromiss bestehen, was bedeutete, die Imperialist:innen wieder ins Land zu lassen – „um nicht zu ‚provozieren’“, wie Reformist:innen immer argumentieren. Eine britische Truppe unter Generalmajor Douglas Gracey wurde einfach wieder willkommen geheißen. Die Trotzkist:innen und ein Großteil der Arbeiter:innen- und Bäuer:innenmassen versuchten, Widerstand zu leisten, aber angesichts einer etwas unklaren Strategie und vor allem der gut bewaffneten Unterdrückung durch die Việt Minh und obendrein durch britische und bald auch französische Truppen waren sie rasch zum Rückzug gezwungen. Der Erfolg der Befreiung Vietnams durch einen Kompromiss mit den Kolonialmächten wurde von Gracey selbst auf den Punkt gebracht: „Als ich ankam, wurde ich von den Việt Minh begrüßt. Ich habe sie herausgeworfen.“ Wie jede/r denkende revolutionäre Marxist:in hätte erklären können – und wie es die denkenden revolutionären Marxist:innen in Vietnam auch taten – würde der Kompromiss nicht funktionieren. Die Brit:innen luden die Französ:innen ein, die die Việt Minh bald aus Südvietnam vertrieben. Die stalinistische Politik des „realistischen“ Kompromisses war der Beginn von fast 30 Jahren Krieg und Millionen von Toten. So realistisch war sie. Die trotzkistische Idee, die Massen zu bewaffnen, sofort zum Gegenangriff überzugehen und den Imperialist:innen die Landung in Vietnam zu verweigern, wurde nicht erprobt, aber sie hätte sicherlich enorm weniger Leid, Verwüstung und Tod verursacht.

Die Việt Minh wurden, wie gesagt, aus Südvietnam vertrieben, aber bevor sie abzogen, gelang es ihnen, die Volkskomitees aufzulösen und die gesamte bestehende revolutionäre Situation abzublasen – und die Trotzkist:innen und andere, die sich ihnen in den Weg stellten, rücksichtslos hinzurichten. Es gelang ihnen, ihre Macht im Norden des Landes zu konsolidieren, aber dort war keine Rede davon, dass die eigenen Organe der Massen an der Macht waren – die Việt Minh konsolidierten ihre Macht auf die übliche stalinistische Weise.

All dies schmälert natürlich nicht den heroischen Charakter des Kampfes Vietnams gegen den französischen und dann den amerikanischen Imperialismus, und natürlich war es die Pflicht aller Kommunist:innen, diesen voll zu unterstützen. Doch die wenig bekannte Geschichte verdient es, erzählt zu werden, wie die stalinistische Führung um Hồ Chí Minh eine laufende Revolution niederschlug, die konsequentesten Revolutionär:innen hinrichtete und die Imperialist:innen in einem äußerst erfolglosen Versuch, sie zu besänftigen, ins Land einlud.

Literatur

Mehr in Ngô Văn: Revolutionaries They Could Not Break: The Fight for the Fourth International in Indochina, 1930–1945, London 1995, Index Books.

Siehe auch die Buchrezension von Al Richardson: https://www.marxists.org/history/etol/revhist/backiss/vol5/no4/richardson4.html.

Quelle: arbeiterinnenmacht.de… vom 25. April 2025

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