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150 Jahre Pariser Kommune: Das ökonomische Umfeld

Eingereicht on 19. März 2021 – 18:21

Michael Roberts. Am 18. März 2021 ist der 150. Jahrestag des Beginns der Pariser Kommune.  Die Kommune (Rat) entwickelte sich als Ergebnis des ersten Aufstandes und der ersten Revolution unter Führung der Arbeiter:innenklasse in der Geschichte.  Diese neue Klasse war das Produkt der industriellen Revolution im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise, von der Marx und Engels zum ersten Mal am prominentesten im Manifest der Kommunistischen Partei sprachen, das im März 1848 veröffentlicht wurde.

Vor der Pariser Kommune hatten die Revolutionen in Europa und Nordamerika darin bestanden, die feudalen Monarch:innen zu stürzen und schließlich die Bourgeoisie an die politische Macht zu bringen.  Während der Sozialismus als Idee und Ziel unter der radikalen Intelligenz bereits an Glaubwürdigkeit gewann, waren es Marx und Engels, die als erste die Arbeiter:innenklasse als Trägerin der revolutionären Veränderung für den Sozialismus identifizierten, nämlich diejenigen, die keine Produktionsmittel ausser ihrer eigenen Arbeitskraft besaßen.

Die Pariser Kommune war eine unmittelbare Folge des französisch-preussischen Krieges.  Dieser Krieg war von Louis Bonaparte, einem Neffen Napoleons, angezettelt worden, der nach der Niederlage der Revolution von 1848 durch einen Staatsstreich die Macht ergriffen hatte.  Er regierte Frankreich für die nächsten zwei Jahrzehnte autokratisch.  In diesen Jahrzehnten erlebte der Kapitalismus in Europa und Amerika einen assergewöhnlichen wirtschaftlichen Aufschwung.  Wirtschaftliche Rezessionen gab es nur selten (1859 und 1864) und sie waren relativ mild.  In der Tat stieg die Profitrate in den 1850er Jahren auf einen Höchststand (7.5 %), fiel dann aber in den 1860er Jahren auf 4 % zurück.

Frankreich wandelte sich von einer rückständigen Agrarwirtschaft in eine schnell wachsende Industriegesellschaft.  Bonaparte startete eine Reihe von öffentlichen Bauvorhaben und Infrastrukturprojekten, um Frankreichs Städte zu modernisieren. Paris entwickelte sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem internationalen Finanzzentrum, das nur von London übertroffen wurde. Es verfügte über eine starke Nationalbank und zahlreiche aggressive Privatbanken, die Projekte in ganz Europa und im expandierenden französischen Kolonialreich finanzierten. Die Banque de France, gegründet 1796, entwickelte sich zu einer mächtigen Zentralbank.

Unter Bonaparte koordinierte die französische Regierung mehrere Finanzinstitutionen, um grosse Projekte zu finanzieren, darunter die Crédit Mobilier, die zu einer mächtigen und dynamischen Finanzierungsagentur für grosse Projekte in Frankreich wurde, darunter eine transatlantische Dampfschifffahrtslinie, städtische Gasbeleuchtung, eine Zeitung und das Pariser U-Bahn-System.  Frankreich vergrösserte seine Eisenbahnlinien um das Achtfache und verdoppelte seine Eisenerzproduktion. Die Bevölkerung wuchs um 10 % und noch viel mehr in den Städten, die nun zu urbanen Zentren der neuen industriellen Arbeiterklasse wurden. 1855 und erneut 1867 fand in Paris eine Weltausstellung statt, die der vorangegangenen Great Exhibition der britischen Industriemacht von 1851 Konkurrenz machte. Und Ferdinand de Lesseps organisierte den Bau des Suezkanals.

Doch Bonapartes Kriegspolitik und die Neugestaltung von Paris durch den Architekten Haussmann erwiesen sich als kostspielig; Frankreichs Staatsverschuldung stieg massiv an. Und Frankreichs Industrie sah sich einer verstärkten internationalen (d.h. vor allem britischen) Konkurrenz ausgesetzt.  Zwischen 1848 und 1870 verdreifachte sich das Defizit des öffentlichen Sektors.  Das, was David Harvey als «ursprünglichen Keynesianismus» bezeichnet hat, begann, sich zu erschöpfen.  Die Regierung griff auf die Monetarisierung der Schulden im Stil der modernen Geldtheorie zurück, in der Hoffnung, dass dies weiterhin Investitionen und Wachstum stimulieren würde.  Marx nannte dies den «Katholizismus» der monetären Basis, wodurch das Bankensystem zum «Papsttum der Produktion» wurde und sich das zu eigen machte, was Marx den «Protestantismus des Glaubens und Kredits» nannte.

Frankreich: Staatliche Einnahmen und Ausgaben, 1848 bis 1870

Finanzielle Zusammenbrüche folgten, als die Profite zu sinken begann.  Die Bewegung der Aktienkurse und Aktienrenditen geben einen Eindruck von den wachsenden Problemen in diesem französischen kapitalistischen Boom.  Es gab einen Gewinnrückgang in der Rezession von 1859 und in den Jahren 1864 und 1868 vor der Katastrophe des französisch-preussischen Krieges.

Quelle: Eine Herausforderung für triumphierende Optimisten? Aktienindex für die Pariser Börse, 1854-2007, meine Berechnungen

Da die Profitrate in den 1860er Jahren sank, wenn auch von einem historisch hohen Niveau aus, ging auch das jährliche Gewinnwachstum zurück, mit deutlichen Einbrüchen in den Jahren 1859 und 1864.


Die Ungleichheit von Vermögen und Einkommen stieg in dem Masse, wie die Arbeiter:innenklasse zahlenmässig dramatisch zunahm.  Die sozialen Spannungen begannen sich zu verschärfen.  Man könnte sagen, es war eine ähnliche Situation im Mai 1968 nach zwei Jahrzehnten des Wirtschaftsbooms unter der Herrschaft der gaullistischen Präsidentschaft – nur dass 1870 der Krieg dazwischenkam und zum Katalysator für den Aufstieg der Kommune wurde.

Man könnte argumentieren, dass Bonaparte in seiner Hybris einen Krieg anzettelte, um den Klassenkampf zu Hause abzuwehren; zudem musste er Frankreichs wirtschaftliche Hegemonie in Kontinentaleuropa wiederherstellen.  Bonaparte dachte, die französische Armee sei Bismarcks Preussen überlegen.  Aber er unterschätzte die von Preussen angeführte deutsche Wirtschafts- und Militärmacht gewaltig.  Die Franzosen wurden schnell besiegt und gedemütigt.  Bonaparte wurde gefangen genommen, dankte ab und floh.  Die bürgerlich-republikanische Regierung versuchte weiter zu kämpfen, handelte aber schliesslich einen demütigenden Frieden aus, während die preussische Armee die hungernde Bevölkerung von Paris belagerte.  Zu diesem Zeitpunkt entstand die Pariser Kommune – ein Rat von Arbeiter:innendelegierten aus den Bezirken – um im Interesse der Bevölkerung die politische Macht zu ergreifen.

Dieser Beitrag kann unmöglich alle Ereignisse und Themen in den kurzen 72 Tagen abdecken, in denen die Arbeiter:innenklasse von Paris durch ihre eigenen demokratischen Strukturen regierte, während die bürgerliche Regierung nach Versailles floh und die Preussen dazu drängte, die Kommune zu zerschlagen.  Die Kommune überlebte nicht lange.  Sie blieb innerhalb Frankreichs weitgehend isoliert und wurde schliesslich von den Kräften der Versailler Regierung blutig niedergeschlagen.

Die besten Berichte über die Pariser Kommune sind die vom Kommunarden Lissagaray, die Geschichte der Pariser Kommune, übersetzt von Eleanor Marx und veröffentlicht  1876 (unter https://www.marxists.org/history/france/archive/lissagaray/index.htm), und natürlich der Bürgerkrieg in Frankreich, Marx‘ eigener Bericht, geschrieben direkt nach der Niederschlagung der Kommune (unter https://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/1871/05/burfrndx.htm).  Und der belgische Marxist Eric Toussaint hat hier einen ausgezeichneten modernen Bericht über die wirtschaftlichen Machenschaften der Banque de France und der Kommune gegeben. La Commune de Paris, la banque et la dette (unter http://www.cadtm.org/La-Commune-de-Paris-la-banque-et-la-dette

In diesem kurzen Beitrag möchte ich nur einige Beobachtungen zur Wirtschaftspolitik der Kommune machen.  Am wichtigsten war das Versäumnis, die finanziellen Hebel des Kapitals zu übernehmen, insbesondere die Banque de France.  Zehn Jahre nach der Zerschlagung der Kommune argumentierte Marx, dass die Kommune vielleicht überlebt hätte, wenn die Banque de France übernommen worden wäre. «Abgesehen davon, dass sie einfach der Aufstand einer Stadt unter aussergewöhnlichen Umständen war, war die Mehrheit der Kommune keineswegs sozialistisch und konnte es auch nicht sein. Mit ein wenig gesundem Menschenverstand hätte sie jedoch von Versailles einen für die gesamte Masse des Volkes günstigen Kompromiss erwirken können – zu dieser Zeit das einzig erreichbare Ziel.»

Tatsächlich war die grösste Angst, die die Versailler Regierung vor der Kommune hatte, der Verlust der Gelder der Banque.  Lissagaray merkt an: «Alle ernsthaften Aufstände begannen damit, dass man sich des Nervs des Feindes bemächtigte, der Kasse. Die Kommune ist der einzige dieser Aufstände, der sich weigerte, das zu tun. Sie verharrte in Ekstase vor der Kasse der Grossbourgeoisie, über die sie verfügte.»

Und Engels in seiner Einleitung zur Neuauflage von Der Bürgerkrieg in Frankreich 1891: «Vieles [wurde] versäumt, was nach unserer heutigen Auffassung die Kommune hätte tun müssen. Am schwersten zu begreifen ist sicherlich der heilige Respekt, mit dem man vor den Türen der Banque de France stehen blieb. Darüber hinaus war es ein schwerer politischer Fehler. Die Bank in den Händen der Kommune war mehr wert als zehntausend Geiseln. Das hätte bedeutet, dass die gesamte französische Bourgeoisie Druck auf die Regierung in Versailles ausgeübt hätte, um mit der Kommune Frieden zu schliessen.»

Warum haben die Führer der Kommune die Bank nicht übernommen?  Nun, die Mehrheit der Delegierten der Kommune war nicht sozialistisch, sondern republikanische Demokraten.  Der sozialistische Flügel war eine Minderheit.  Und innerhalb dieser sozialistischen Minderheit waren die Marxisten eine noch kleinere Minderheit.  Die meisten Sozialisten waren Proudhonisten.  Sie sahen den Sozialismus durch die Kontrolle des Geldes kommen, nämlich durch den Einsatz von Krediten.  Der Mann, dem die Verantwortung für die Finanzen der Kommune übertragen wurde, Charles Beslay, ein Freund von Proudhon, hatte ein blindes Vertrauen in das Bankwesen und die Finanzwirtschaft im Allgemeinen.  Er war seit 1866 Mitglied der Ersten Internationale und hatte einen grossen Einfluss auf die Kommune.  Beslay hatte einen Hintergrund als Kapitalist, da er Besitzer einer Werkstatt mit 200 Angestellten gewesen war

Charles Beslay

Der stellvertretende Gouverneur der Banque und Monarchist De Ploeuc kommentierte: «Herr Beslay ist einer jener Männer, deren Phantasie unausgeglichen ist und die sich an der Utopie erfreuen; er träumt davon, alle Gegensätze in der Gesellschaft zu versöhnen, die Bosse und die Arbeiter, die Herren und die Knechte.»  Beslay bestätigte seinen Proudhonismus in der Praxis: «Eine Bank muss unter einem doppelten Gesichtspunkt gesehen werden; wenn sie sich uns unter ihrer materiellen Seite durch ihr Bargeld und ihre Noten präsentiert, so wird sie auch von einer moralischen Seite, dem Vertrauen, getragen. Nimm das Vertrauen weg, und die Banknote ist nur ein Assignat.»  Beslay griff die Marxisten an: «Das System der Kommune und das meine lassen sich in diesem heiligen Wort zusammenfassen: ‚Achtung vor dem Eigentum, bis zu seiner Umwandlung‘. Das System des Bürgers Lissagaray resultiert in diesem abstossenden Wort: Enteignung»

Anstatt die Kontrolle übernehmen zu wollen, setzte Beslay alles daran, die Integrität der Banque de France zu erhalten und ihre Unabhängigkeit zu garantieren. Das Ergebnis war, dass die Kommune während der 72 Tage ihres Bestehens nur 16,7 Millionen Francs für ihre Bedürfnisse erhielt: die 9,4 Millionen Guthaben, die die Kommune bereits auf dem Konto hatte, und 7,3 Millionen, die von der Bank geliehen wurden. Zur gleichen Zeit schickte die Banque der Versailler Regierung 315 Millionen Francs aus ihrem Netz von 74 Filialen!

Das Geld, das die Kommune erhielt, wurde im Allgemeinen gut verwendet.  Ungefähr 80 % wurden für die Verteidigung von Paris verwendet, aber es gab auch Gelder, die an die ärmsten Teile der Stadt verteilt wurden.  Die Kommune führte ein progressives Steuersystem ein, senkte die Stadtsteuer für die Ärmsten um 50 % und führte höhere Unternehmenssteuern ein.  Vermieter wurden gezwungen, die letzten neun Monatsmieten zurückzuzahlen und die Mieten wurden ausgesetzt.  Es gab ein Moratorium für alle Schulden, die nun über drei Jahre ohne Zinsen zurückgezahlt werden konnten.

Aber das Versäumnis, die Banque zu übernehmen, war die Achillesferse für das Fortbestehen der Kommune.  Und der Vorstand der Banque wusste das. Sie befürchteten eine «Besetzung der Bank durch das Zentralkomitee, das dort eine Regierung seiner Wahl einsetzen, Banknoten ohne Mass und Grenze herstellen lassen und damit den Ruin des Hauses und des Landes herbeiführen kann.» Und ein anderes Vorstandsmitglied aus der Industrie behauptete, dass «der Rat nicht […] die Bank der Plünderung aussetzen darf. Das Übel wäre unkorrigierbar und die Zerstörung der Werte der Brieftasche und des Gewächshauses der Einlagen wäre ein furchtbares Unglück, weil es um einen grossen Teil des öffentlichen Vermögens geht.»

Wäre die Bank übernommen worden, hätte Versailles keine Mittel mehr gehabt, um die Kommune zu besiegen, denn sie besass Einlagen von 899 Millionen Francs, die sich aus 120 Millionen Francs in Wertpapieren zusammensetzte, die als Sicherheit für Vorschüsse hinterlegt waren, und 900 Millionen Francs in Wertpapieren als Depot.  Stattdessen befolgte Beslay die Anweisungen des Banken-Ministers und erlaubte der Bank, Geld nach Versailles zu schicken, während der stellvertretende Minister den Befehl gab, alle Wertpapiere in die Keller zu bringen und dann die Zugangstreppe zuzuschütten.

Zwei Jahre nach der Niederschlagung der Kommune fasste Beslay sein Handeln in einem Brief an die rechte Tageszeitung Le Figaro zusammen, der am 13. März 1873 veröffentlicht wurde: «Ich ging zur Bank mit der Absicht, sie vor jeglicher Gewalt der extremen Partei der Kommune zu schützen, und ich bin überzeugt, dass ich die Anstalt, die unsere letzte finanzielle Ressource war, für unser Land bewahrt habe.»  Die Kommune wurde schliesslich im Mai 1871 niedergeschlagen, wobei etwa 20.000 Kommunard:innen getötet wurden, 38.000 wurden verhaftet und mehr als 7.000 deportiert.  Beslay wurde freigelassen und zog in die Schweiz.

Etwa 45 Jahre später, nach einer weiteren Revolution, die durch einen Krieg und eine Niederlage für die herrschende Klasse ausgelöst wurde, erinnerte Lenin an diese Lehre aus der Niederlage der Pariser Kommune: «Die Banken sind, wie wir wissen, Zentren des modernen Wirtschaftslebens, die Hauptnervenzentren des gesamten kapitalistischen Wirtschaftssystems. Von der ‘Regulierung des Wirtschaftslebens’ zu sprechen und dennoch der Frage der Verstaatlichung der Banken auszuweichen, bedeutet entweder, die tiefste Unwissenheit zu verraten oder das ‘gemeine Volk’ durch blumige Worte und grossspurige Versprechungen zu täuschen, mit der bewussten Absicht, diese Versprechungen nicht zu erfüllen.»

#Titelbild: Barrikade an der Place Blanche, die von Frauen verteidigt wird. Quelle: investigaction.net…

Quelle: thenextrecession.com… vom 18. März 2021; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch

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