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Iran – Saudi-Arabien: Zwei konterrevolutionäre Regimes im Konflikt

Eingereicht on 5. Februar 2016 – 14:29

Joseph Daher. Die politischen Spannungen zwischen der Islamischen Republik Iran (IRI) und Saudi-Arabien haben seit der Hinrichtung von Scheich Nimr Baker al-Nimr [i], einem Führer der 2011 einsetzenden breiten Mobilisierungen gegen das saudische Regime im mehrheitlich schiitischen Osten der Halbinsel, zugenommen. Neben Scheich Nimr al-Nimr wurden 46 weitere Personen hingerichtet, darunter 43 Angehörige des Dschihad im Umfeld von Al-Kaida. Dies hat im Iran zu öffentlichen Kundgebungen geführt, wo die saudische Botschaft in Teheran und das saudische Konsulat in Maschhad im Nordosten gestürmt und in Flammen gesetzt wurden; ähnliche Vorfälle ereigneten sich in anderen Ländern der Region, insbesondere in Bahrain und im Irak. Saudi-Arabien hat seine diplomatischen Beziehungen mit dem Iran abgebrochen, worauf Bahrain, Sudan und Djibouti dasselbe taten. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben ihrerseits beschlossen, ihre diplomatischen Beziehungen mit Teheran herabzustufen, und Kuweit wie auch Katar haben ihre Botschafter aus Teheran zurückbeordert. Jordanien seinerseits hat den iranischen Botschafter in Amman vorgeladen.

Einige Tage später, am 7. Januar, haben die Führer der IRI die saudische Luftfahrt beschuldigt, die iranische Botschaft in Jemen bombardiert zu haben und haben, als Gegenmassnahme, die Einfuhr sämtlicher saudischer Produkte untersagt.

Die konfessionellen Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten, von Syrien bis Jemen, von Irak bis Libanon werden durch diese Ereignisse nur noch vertieft werden. Dies umso mehr, da diese beiden Staaten die Waffe des Konfessionalismus seit langem benutzen, um ihre politischen Interessen voranzubringen.

Politische Rivalitäten

Seit dem Sturze des Schahs und der Gründung der IRI im Jahre 1979 unter der Ägide von Khomeini waren die Beziehungen zwischen Teheran und Riyad stets eine Quelle von Spannungen und einer Zunahme des Konfessionalismus in der Region. Sie haben ihre diplomatischen Beziehungen zwischen 1987 und 1991 abgebrochen, nachdem es zwischen iranischen Pilgern und saudischen Sicherheitskräften anlässlich der Haddsch im Juli 1987 in Mekka zu blutigen Zusammenstössen gekommen war. Damals kamen 402 Pilgerinnen und Pilger in Mekka, der heiligen Stadt der Moslems, ums Leben, davon 275 Iranerinnen und Iraner. Als Antwort darauf besetzte eine aufgebrachte Menge in Teheran die Botschaft von Saudi-Arabien und die Botschaft Kuweits wurde in Flammen gesetzt. Dabei erlag ein saudischer Diplomat, Mou Saad al-Ghamdi, den Verletzungen, die er sich bei dem Sturz aus einem Fenster der Botschaft zugezogen hatte. Riyad beschuldigte daraufhin die iranische Führung, seine Überführung in ein Spital in Saudi-Arabien verzögert zu haben.

Nach einer kurzen Periode der Beruhigung zu Beginn der 2000-er Jahre, nach der Wahl von Mahammad Khatami zum Präsidenten im Jahre 2001, flammten die Rivalitäten nach der US-amerikanischen und britischen Invasion im Irak erneut auf; das Land fiel nun zunehmend in die Hände fundamentalistischer schiitischer Kräfte, die mit der IRI verbündet waren. Die Spannungen zwischen den beiden Ländern haben die Lage in der Region in der Folge weiter destabilisiert.

Anfangs der 1980-er Jahre haben die Errichtung der IRI und die erklärte Absicht des Regimes in Teheran, das Modell der «islamischen Revolution» mit der Finanzierung von bestimmten konfessionellen schiitischen Gruppen in die Region zu exportieren, eine Reaktion Saudi-Arabiens und der Golfmonarchien provoziert, die ihrerseits ein Ziel der iranischen Propaganda waren.

Die IRI, die mit ihr verbündeten Gruppen und die schiitischen Bevölkerungen in der gesamten Region wurden ab dann zu dem Hauptfeind Saudi-Arabiens und der Golfmonarchien. Sie traten damit an die Stelle der nationalistischen und fortschrittlichen Kräfte, die in den vorhergehenden Jahrzehnten deren Hauptfeind gewesen waren, und die sie mit einer Stärkung der fundamentalistischen islamistischen Bewegungen bekämpft hatten. Das monarchistische Regime von Bahrain hat beispielsweise in seinem Kampf gegen die nationalistischen arabischen und die linken Kräfte die fundamentalistischen schiitischen Kräfte (die Al-Dawa Partei und die Mitglieder der Bewegung der Schirazisten) von den 1950-er bis gegen Ende der 1970-er Jahre unterstützt, die heute unterdrückt und beschuldigt werden, einfach nur Werkzeuge der IRI zu sein.

Die saudische Herrscherfamilie der Saud sieht in der Ausdehnung des politischen Einflusses der IRI im Nahen Osten eine Bedrohung ihrer Sicherheit und ihres Anspruchs auf eine Führungsrolle innerhalb der arabischen Welt. Die neue, junge Generation, die im saudischen Königreich nun an der Macht ist, scheut sich überdies nicht, sich von der US-amerikanischen strategischen Vormundschaft zu befreien; sie zeigt, dass sie durchaus imstande ist, angesichts der Furcht vor einer Ausdehnung des Einflusses der IRI selbst die Initiative zu ergreifen. Dabei spielen der Erbprinz und Innenminister Mohammed Ben Nayef und der Vizeerbprinz und Innenminister Mohammed Ben Salman eine führende Rolle.

Im saudischen Königreich wurde die soziale und politische Ausgrenzung der schiitischen Minderheiten verschärft. Diese Minderheiten wurden zunehmend einer gehässigen salafistischen und wahhabitischen Hetzkampagne ausgesetzt und direkt als Elemente einer «fünften iranischen Kolonne» gebrandmarkt. Dies hat sich übrigens bis heute nicht geändert. Bei einer Untersuchung der Angriffe auf die religiösen Versammlungen von Schiiten im Dorfe Al-Dalwa im Jahre 2015, in der im Osten des Königreiches gelegenen Provinz, hat ergeben, dass von den 77 Verdächtigen 44 in den Genuss des Programmes für Rehabilitierung und Entradikalisierung «Munasaha» gekommen waren, das 2004 für ehemalige Dschihadisten eingeleitet wurde. Zu einem Angriff gegen eine ismaelische Moschee in Nadschran vom 26. Oktober bekannte sich ein Mitglied des islamischen Staates in Saudi-Arabien, das ebenfalls durch dieses Programm gegangen und einige Monate zuvor befreit worden war. Dies überrascht kaum, da das wahhabitische Regime einen offiziellen Diskurs voller Hass und Verschwörungstheorien gegen die Schiiten pflegt (siehe weiter unten).

Zudem wird die Lage verschärft durch die Anwendung einer Politik der Spaltung zwischen den Schiiten und Sunniten, damit die saudische Politik in Bahrain, in Syrien und im Jemen vorangetrieben werden kann. Im Jemen hat die saudische Militärintervention gegen die von der IRI unterstützten Kräfte der Huthis und des ehemaligen Diktators Abdallah Saleh den Tod von über 5´800 Personen, darunter 2´800 Zivilpersonen, verursacht; dabei wurden mehr als 27´900 Personen verletzt und über 2,5 Millionen wurden im Lande vertrieben.

Saudische Geistliche haben am 3. Oktober 2015 als Antwort auf die russische Intervention in Syrien ein Kommuniqué veröffentlicht, in dem sie die Rechtgläubigen aufrufen, gegen das «safavidische» Regime in Syrien und seine Verbündeten zu kämpfen. Sie beschrieben den Konflikt in Syrien als eine Neuauflage der Kreuzzüge, wobei die «schiitischen Häretiker» gemeinsame Sache mit den russischen Kreuzfahrern machen würden.

Dazu muss man wissen, dass die IRI gleichfalls ihre arabische Bevölkerung sunnitischen Glaubens politisch und sozial diskriminiert, und dass das Regime jeden Bau einer sunnitischen Moschee in der Hauptstadt verboten hat. Auch sei daran erinnert, dass die sunnitischen Politiker und Bewohner der Hauptstadt Teheran 2011 durch die iranischen Sicherheitskräfte gezwungen wurden, sich an den offiziellen Gebetstagen zu beteiligen, um so ihre Loyalität gegenüber der höchsten Führung von Ayatollah Khamenei zu bezeugen.

Ferner hat jedes dieser beiden Länder extremistische schiitische und sunnitische Gruppen im Irak unterstützt und zwischen 2006 und 2008 einen Bürgerkrieg geführt, der die konfessionellen Spannungen in der ganzen Region ebenfalls angeheizt hat. Die US-amerikanische und britische Invasion des Iraks führte das Land nach dem Sturze des Diktators Saddam Hussein und nachdem fundamentalistische schiitische Gruppierungen an die Macht gelangt waren in den Orbit der IRI. Diese Gruppierungen waren dann verantwortlich für die Politik der sozialen und politischen Diskriminierung gegenüber der sunnitischen Bevölkerung im Irak; diese Gruppen begingen auch zahlreiche gewaltsame Ausschreitungen und konfessionelle Verbrechen gegen die Sunniten.

Angesichts der Volkserhebungen, die die Region seit dem Winter 2010-2011 erschüttert haben, haben ebendiese Akteure den Konfessionalismus benutzt, um Interventionen in der Region und die Unterstützung von Diktaturen zu rechtfertigen, oder um die Volksbewegungen zu diskreditieren, indem sie sie als vom Ausland inszenierte Verschwörungen darzustellen versuchen. In Syrien hat jedes Lager gleichermassen konfessionelle und reaktionäre Kräfte unterstützt und einen konfessionellen Diskurs angeheizt. Der Iran und der libanesische Hisbollah, der ideologisch durch den Willayat al Faqih und politisch und finanziell an die IRI gebunden ist, haben ihrerseits nicht gezögert, ihre militärische Intervention an der Seite des Regimes von Assad gelegentlich mit einem konfessionellen Diskurs zu rechtfertigen. Zur selben Zeit hat Saudi-Arabien mit anderen Golfmonarchien hauptsächlich fundamentalistische islamische Gruppen in Syrien finanziell unterstützt, indem sie über ihre Satellitenkanäle einen konfessionellen Diskurs vorwärtsgetrieben haben, um diese breite Revolution, die als Ziel die Freiheit und die Gleichheit hatte, in einen konfessionellen Bürgerkrieg zu verwandeln.

Die Waffe des Konfessionalismus wird von diesen beiden Ländern immer mehr eingesetzt, um die lokale Bevölkerung von den immer schwereren wirtschaftlichen und sozialen Problemen abzulenken. Mit einem Preiszerfall des Erdöls konfrontiert, hat Saudi-Arabien Anfang Jahres ein Budget mit einem vorgesehenen Fehlbetrag von annähernd 80 Milliarden Euro und mit Austeritätsmassnahmen angenommen, die eine Preiserhöhung für Benzin um mehr als 50 % vorsehen. Riyad möchte ferner die Steuern auf Dienstleistungen erhöhen, neue Steuern einführen und, in Zusammenarbeit mit den anderen Golfmonarchien, die Vorbereitungen zur Einführung einer Mehrwertsteuer abschliessen. Diese Massnahmen werden ohne Zweifel die 25 % der saudischen Bevölkerung, die bereits unterhalb der Armutsschwelle leben, weiter verarmen lassen. Im Jahre 2011 sind drei saudische Blogger für zwei Wochen ins Gefängnis gesteckt worden, da sie in einem Film die Armut in Saudi-Arabien aufgezeigt hatten.

In Iran liegt – gemäss der offiziellen Statistik – die Inflation um die 20 %, während der Mangel an notwendigen Gütern, wie etwa Medikamenten, anhält und die Arbeitslosenquote um die 25 % liegt. 40 % der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Die neoliberale Politik der früheren Regierungen, darunter unter vor allem diejenige des Populisten Ahmadinedschad, wurden weitergeführt.

Eshagh Dschahangiri, der Vizepräsident des Regimes von Hassan Rohani, hat Anfang 2016 erklärt: «Das Regime befindet sich in einer speziellen politischen und wirtschaftlichen Lage, die weitreichende Massnahmen erfordert. Wir müssen auf wichtige Herausforderungen eine Antwort finden, darunter die Arbeitslosigkeit, die wichtigste von ihnen», und er fuhr fort, dass «der Iran über einen grossen Bevölkerungsanteil von Jungen verfügt. Wenn wir nicht in der Lage sind, diese Probleme zu lösen, so verwandelt sich diese Chance in eine Bedrohung».

Diese beiden Länder unterdrücken die Arbeiterinnen und die Arbeiter und die Gewerkschaften brutal. So stürzen sich in Iran die Regierung und die Unternehmer auf die Arbeiterinnen und Arbeiter, die eine unabhängige Gewerkschaft aufbauen wollen und sperren sie ein. Sie entlassen systematisch die Wortführerinnen und Wortführer von Streikbewegungen und verhaften sie unter der Anklage wegen «Wirtschaftssabotage»…. In Saudi-Arabien hat der Innenminister erklärt, im Verlaufe der letzten fünf Monate des Jahres mehr als 370´000 ausländische Migrantinnen und Migranten ausgewiesen zu haben, während weitere 18´000 weiterhin in Haft sind.

Ferner muss festgehalten werden, dass diese beiden Länder ebenfalls mit der Anzahl ihrer Hinrichtungen wetteifern. Im Iran wurden in den ersten neun Monaten des Jahres 2015 über 800 Personen hingerichtet, ein Rekord seit 1989, während in Saudi-Arabien im selben Zeitraum 135 Personen hingerichtet wurden.

Auch gegen die Dschihadisten

Die Hinrichtungen vom 2. Januar waren auch eine Botschaft an die Adresse einer anderen Kraft, die das saudische Königreich bedroht: die salafistisch-dschihadistischen Strömungen der Art von Al-Kaida und Daech. Die Hinrichtung von 43 Dschihadisten in Riyad, alles Mitglieder von Al-Kaida, wegen Bombenattentaten und Angriffen mit Feuerwaffen verurteilt, hatte in Wirklichkeit als Ziel, eine klare Botschaft zu senden, dass jede Unterstützung von oder Teilnahme an solchen Strömungen mit der allergrössten Entschlossenheit unterdrückt würden. Das am 14. Dezember 2015 angekündigte «Antiterror-Bündnis» aus 34 Ländern, angeführt durch Saudi-Arabien, sollte auch unter dieser Perspektive des Kampfes gegen die dschihadistischen Strömungen gesehen werden.

Al-Kaida und Daech, die beide gelobt haben, das Regime der Saudis zu stürzen, haben ebenfalls gelobt, diese Hinrichtungen zu rächen. Al-Kaida hat Saudi-Arabien beschuldigt, diese Hinrichtungen von «Mudschaheddin» mit dem Ziel durchgeführt zu haben, das Regime der Saud-Dynastie zu festigen, quasi als ein Geschenk an die Kreuzfahrer, mit anderen Worten, an die westlichen Verbündeten Riyads.

Der jemenitische Zweig von al-Kaida hat bereits im Dezember 2015 gedroht, «das Blut der Soldaten von al-Saud zu vergiessen», falls seine Mitglieder hingerichtet würden, während zu Beginn des Jahres 2016 Daech nach den Hinrichtungen damit gedroht hat, die saudischen Gefängnisse zu zerstören, in denen Dschihadisten einsitzen. Die beiden Organisationen haben Saudi-Arabien den Krieg erklärt, das sie als terroristische Gruppen betrachtet und Tausende ihrer Anhängerinnen und Anhänger verhaftet hat. Übrigens hat sich Daech zu einer Reihe von Bombenattentaten und Gewehrattacken seit November 2014 in Saudi-Arabien bekannt, bei denen mehr als 50 Personen getötet wurden; ein grosser Teil von ihnen waren saudischer Herkunft und Schiiten, aber auch 15 Angehörige der Sicherheitskräfte.

Al-Kaida ihrerseits hat bereits 2003 mit terroristischen Aktionen in Saudi-Arabien begonnen, bei denen mehrere Hundert Personen umkamen. Die Organisation al-Kaida hat das saudische Königreich exkommuniziert, betrachtet dieses als anti-islamisch. Dies vor allem aufgrund der Tatsache, dass es sich im Krieg gegen das von den Taliban regierte Afghanistan mit den Ungläubigen zusammengetan und verbündet hat.

Dies ist nicht das erste Mal in der Geschichte des Königreiches, dass die Familie Saud im Lande von fundamentalistischen und ultra-fundamentalistischen Strömungen bedroht wird:

  • Die bewaffnete Rebellion der «Ikhwan» zwischen 1927 und 1930, einer fundamentalistischen bewaffneten Gruppe im Dienste der Saud. Diese Gruppe hatte es den Sauds übrigens ermöglicht, bedeutende Gebiete zu erobern und über die eroberte Bevölkerung eine autoritäre islamische und wahhabitische Ordnung zu errichten. Diese Gruppen verübten 1913 in Hasa und 1924 in Taef ein Massaker an der schiitischen Bevölkerung, die sich gegen die Macht der Sauds wandte. Dieses Vorgehen wirkte sich nachteilig auf die Beziehungen der Sauds zu den Engländern aus (diese wurden als Nichtgläubige und die Beziehungen zu ihnen als Verbrechen betrachtet), schwächte die Legitimität des Königreiches und die islamische Legitimität der Steuern der Sauds. Der Lebensstil des Herrschers Saud (Ehen und Luxus), die Zwangsislamisierung der schiitischen Bevölkerung, die Durchsetzung eines streng-islamischen Verhaltenskodexes, der sich bis in die Musik und den Gesang erstreckte usw. – all dies tat ein Übriges zur Untergrabung der Legitimität der Herrschhaft der Sauds.
  • Die Besetzung der Grossen Moschee in Mekka während zweier Wochen im Jahre 1979, unter der Führung von Dschuhaiman al-Utaibi (der in einer «Ikhwan» – Kolonie in Saudi-Arabien geboren wurde) und Muhammad ibn Abdullah al-Qahtani mit einer Gruppe von mehreren Hundert von Personen (zwischen 200 und 400). Sie stellten ihre Aktion als einen islamischen Aufstand dar, um damit gegen die religiöse und moralische Nachlässigkeit und die Degeneration der herrschenden Saud-Familie, die diplomatischen Beziehungen mit «ungläubigen Staaten», usw. zu protestieren.
  • In den 1990er Jahren forderte die Opposition der «Sahwa», die sich von allen anderen fundamentalistischen Oppositionen durch eine Ablehnung der Gewalt und die Anerkennung der Legitimität der herrschenden Familie Saud unterscheidet, eine politische Öffnung des Systems. Sie kritisierte die Aufforderung des herrschenden Königs Fahd an die Ungläubigen, dem Königreich bei der Befreiung von Kuweit von der irakischen Besetzung beizustehen und sie verlangte eine Islamisierung der Politik in den Bereichen der Wirtschaft, des Sozialen, der Medien und des Militärs.

Dieser Krieg zwischen dem saudischen Königreich einerseits und al-Kaida und Daech andererseits dürfen uns nicht zur Annahme verleiten, dass ihre fundamentalistischen und reaktionären Ideologien grundsätzlich unterschiedlich seien. Das saudische Königreich kann wohl seit Jahren behaupten, dass die Ideologie dieser Organisationen nichts mit derjenigen ihres Landes und seiner Institutionen zu tun habe. Diese sei vielmehr da Ergebnis der Radikalisierung der Bewegungen der Muslimbrüder und der Reden von Sayyeb Qotb und von Ayman al-Zawahiri; diese Erklärungen aber überzeugen niemanden. Sicher sind Sayyeb Qotb und Ayman al-Zawahiri die Inspirationsquelle für einige Formen des Dschihadismus. Aber die ultra-fundamentalistischen Organisationen vom Typ einer al-Kaida und einer Daech finden bereits im offiziellen wahhabitischen Diskurs, wie er vom Klerus und den Institutionen des saudischen Königreiches verbreitet wird, und auf viel grundsätzlichere Art sicher eine reichhaltigere Nahrung.

Beispielsweise verurteilt der offizielle saudische Diskurs die laizistischen Ideologien und den arabischen Nationalismus – der als eine atheistische «Dschahaliyya» (Unwissenheit) angesehen wird; der arabische Nationalismus sei europäischen Ursprungs und habe eine jüdische Motivation, er sei eine unwissende Bewegung und habe die Bekämpfung des Islams und seiner Lehre als oberstes Ziel. Es seien dies die Feinde des Islams, gefördert durch den Westen und die Zionisten, und sie wollten die Moslems spalten. Daneben verurteilt der offizielle saudische Diskurs den Kommunismus, der als eine Bewegung dargestellt wird, der auf eine Unterwerfung der Personen unter den Materialismus und auf den Verlust moralischer und spiritueller Qualitäten aus sei. Während alldem wird die Gefahr der Verwestlichung beschworen, als eine Übernahme westlicher politischer Systeme mit politischen Parteien und Parlamenten, ganz zum Schaden des sozialen Zusammenhalts und des Konsenses.

Gesellschaftlich untergrabe und erschüttere die Verwestlichung die islamische Kultur und führe zu einer Vermischung von Männern und Frauen, zum Aufblühen von Bars und Diskotheken, zur Feier von nicht-moslemischen Festen, wie etwa dem Muttertag, Weihnachten oder dem Tag der Arbeit am 1. Mai. Einen grossen Teil dieser Themen findet man heute in der Propaganda von al-Kaida und Daech.

Ein gewisser Teil der saudischen Dschihadisten beziehen sich auf die ersten Texte des Wahhabismus, die als Quelle des offiziellen Islams im Lande gelten; oder dann auf andere Autoren, die sich auf den Wahhabismus beziehen, diesen aber anders interpretieren.

Im Allgemeinen stehen die wichtigste Rekrutierungsquelle dieser Organisationen in Saudi-Arabien im Zusammenhang von politischen und sozio-ökonomischen Bedingungen: In seinem autoritären Regime und dem Fehlen von Demokratie, in der grausamen Unterdrückung jeglicher Form von Opposition gegen die regierende Dynastie, in den sozialen Ungleichheiten, in wachsender Armut und Arbeitslosigkeit, im Bündnis mit den westlichen imperialistischen Mächten, die sich der Verbrechen gegen andere arabische und muslimische Völker schuldig gemacht haben,… usw. Um es noch einmal zu wiederholen: die Gründe für die Existenz solcher Gruppen sind in der aktuellen Epoche zu finden und nicht in einer fernen Vergangenheit. Es handelt sich um die aktuelle Moderne in der diese Bevölkerung lebt.

Schlussfolgerungen

Am Schluss möchten wir festhalten, dass diese beiden Staaten und ihre Verbündeten reaktionäre und zerstörerische Mächte für ihre Gesellschaften und die ganze Region darstellen, denen man sich unermüdlich entgegenstellen muss. Zu glauben, dass eine dieser beiden Mächte für die Revolutionen der Völker für Freiheit und Würde, die die Region in den vergangenen Jahren erlebt hat, eine Stütze sei, ist illusorisch und strategisch gefährlich. Dies sind zwei konterrevolutionäre Mächte, die ihre eigenen und fremde Völker unterdrücken und anderen Diktaturen und reaktionären Gruppen beistehen, indem sie den Diskurs konfessioneller Spannung anheizen und intensivieren. Vielmehr muss man sich mit allen demokratischen und fortschrittlichen Kräften in diesen beiden Ländern solidarisieren, die ihre herrschenden Klassen herausfordern.

Weder Teheran noch Riyad!

Solidarität mit den Völkern der Region, die für ihre Befreiung und ihre Unabhängigkeit kämpfen!

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Der Autor ist Mitglied der Syrischen Revolutionären Linken, Mitbegründer des Blogs Cafe Thawra, Gründer des Blogs Syria Freedom Forever und Ko-Autor mit John Rees von The People Demand. A short history of the Arab Revolutions, Counterfire, London 2011. Er arbeitet als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Lausanne, Schweiz.

Dieser Aufsatz erschien am 12. Januar (in Französisch) unter Syria Freedom forever

Die deutsche Fassung erscheint in der Inprekorr vom März-April 2016.

Übersetzung: Redaktion maulwuerfe.ch

[i] In Saudi-Arabien wird jede Person als terroristisch eingestuft, die gemäss einem 2014 neu erlassenen Gesetz aktiv «an der Schwächung des politischen Systems, an der Schädigung des Rufes des saudischen Königreiches arbeitet», oder atheistische Propaganda betreibt. Ein saudisches Gericht hat dann unter Anrufung dieses Gesetzes Scheich Nimr al-Nimr  zum Tode verurteilt.

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