Der französische Eisenbahnerstreik beginnt stark
Bernard Schmid. Auch die Müllversorgung fängt an zu streiken, Air France bereitet sich auf einen neuen Streik am 10. und 11. April vor. Eine Studierendenbewegung scheint in die Gänge zu kommen.
Am Dienstag, den 03. April 18 begann der Streik der französischen Eisenbahner/innen mit einem außerordentlich starken Auftakt. Laut offiziellen Angaben (wie sie durch die Direktion bekannt gegeben wurden) traten 48 Prozent des Gesamtpersonals der Bahngesellschaft SNCF, jedoch 77 Prozent der Lokomotivführer/innen in den Streik. (Vgl. bspw. challenges.fr…) Nur circa 12 Prozent der Hochgeschwindigkeitszüge (TGV) und 28 Prozent der Regionalzüge TER konnten verkehren. (Vgl. bfmtv.com…) Im Raum Paris bildeten sich am Dienstag früh rund 400 Kilometer Stau (vgl. leparisien.fr…) – dies mag vielleicht eine ökologische Kehrseite darstellen, doch in Wirklichkeit wird natürlich umgekehrt ein Schuh draus: Nur wenn es gelingt, den öffentlichen Dienst des Schienenverkehrs in dieser Auseinandersetzung zu verteidigen (oder perspektivisch zu verbessern), wird es auch möglich werden, den motorisierten Individualverkehr richtigerweise einzudämmen.
Die Direktion der Bahngesellschaft setzt als Abwehrstrategien gegen den Streik darauf, eine Streikbruchprämie in Höhe v. 150 Euro dafür zu zahlen, dass Bedienstete – i.d.R. Führungskräfte, die ansonsten ihre Arbeitszeit im Büro und nicht hinter dem Steuer verbringen – ausnahmsweise als Zugfahrer/innen einspringen. (Vgl. francetvinfo.fr… und europe1.fr…) Nun können wir nur hoffen, dass dies zu keinen Unfällen beitragen wird… Dem Vernehmen nach sollen ferner Streikbrecher aus dem Vereinigten Königreich – britisches Bahnpersonal – herübergeholt werden; vgl. lefigaro.fr…
Auf einer der Pariser Vorstadtlinien (ungefähr mit deutschen S-Bahnen vergleichbar), dem RER D, ist demzufolge sogar an zwangsweise Dienstverpflichtungen gedacht, was im Prinzip nur in dezidierten Notsituationen/Notstandsfällen rechtlich zulässig ist (vgl. dieselbe AFP-Meldung wie zuvor zitiert).
Auch die Müllentsorgung streikte am Dienstag besonders im Raum Paris, in Nord- und Westfrankreich (vgl. lefigaro.fr…). Dort wird unter anderem die Umwandlung der Abfallentsorgung in einen landesweiten öffentlichen Dienst gefordert. Bei der Luftfahrtgesellschaft Air France, wo Lohnverhandlungen bislang scheiterten, rufen mehrere Gewerkschaften nun für den 10. und 11. April zu einem erneuten Arbeitskampf (nach den Streiktagen im März dieses Jahres) auf. Und, vgl. unten, eine Studierendenbewegung scheint ganz allmählich in die Gänge zu kommen.
Kampf um die Bahn; erster kleiner Teilrückzieher der Regierung
In Frankreich geht es derzeit für die Eisenbahner/innen um viel. Eine im Januar d.J. angekündigte, am 20. Februar 18 im Kabinett beschlossene so genannte Reform soll die bisherige öffentlich-rechtliche Bahngesellschaft SNCF in eine Aktiengesellschaft umwandeln. Das Personalstatut der Eisenbahner/innen, das bislang Laufbahn- und Gehaltsgarantien enthält, soll jedenfalls für alle neueingestellten Beschäftigten durch privatrechtliche Arbeitsverträge mit mehr oder minder frei verhandelbarem Inhalt ersetzt werden. Daneben planen die Regierung sowie die SNCF-Direktion, 9.000 Streckenkilometer Bahn als „wirtschaftlich unrentabel“ wegzusparen. (Auch wenn die Regierung es derzeit offiziell dementiert, und die Verantwortung dafür aller Voraussicht nach an die französischen Regionen weiterreichen wird, so ist der Fall inhaltlich dennoch sonnenklar. Vgl. dazu bspw. lavoixdunord.fr…)
Der damalige Premierminister Alain Juppé scheiterte mit vergleichbaren Vorhaben im Herbst 1995 an einer Streikfront, er wollte damals 11.000 Kilometer Schienen wegsparen. In beiden Fällen würden dabei halbe Regionen vollständig vom Bahnnetz abgeschnitten. Offiziell dementiert die Regierung derzeit, dass auch dieses Vorhaben – das im Januar 18 explizit angekündigt worden war – Teil der jetzigen Reform sei, denn um diese nicht scheitern zu lassen, sollen die Pläne stückweise umgesetzt zu werden.
Ähnlich wie bei der zweiten Stufe der Arbeitsrechtsreform im Herbst 2017 sollte zunächst auch dieses Mal mit ordonnances, also Regierungsvorhaben mit Gesetzeskraft, statt auf gesetzgeberischem Wege operiert werden. Also erneut ohne Aussprache im Parlament. Die französische Verfassung erlaubt ein solches Eilverfahren bei dringenden und nicht aufschiebbaren Beschlüssen, doch auch viele bürgerliche Demokraten sind der Auffassung, ihre Verwendung bei längerfristig geplanten, wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen diene allein der Knebelung der Opposition. Inzwischen hat die Regierung bei dieser Verfahrensfrage jedenfalls einen Teilrückzieher übernommen: Jedenfalls das Thema „Öffnung des Schienenverkehrs für private Konkurrenz“ soll nun doch nicht auf dem ordonnance-Weg geregelt werden. (Vgl. huffingtonpost.fr…)
Und wie steht die öffentliche Meinung dazu? Bislang zeigt sie sich durchwachsen. Und es kommt auch jeweils darauf an, wie die konkrete Fragestellung lautet, welche an die Öffentlichkeit gerichtet wird. Ende Februar dieses Jahres – kurz nach Bekanntgabe der Regierungspläne am 20. Februar 18 – antworteten etwa 69 Prozent bei einer Umfrage // vgl. AFP-Meldung zu selbiger: lefigaro.fr…// mit „Ja“ auf die Frage, ob die Regierung (wie geplant) den „Eisenbahnerstatus“ abschaffen und durch privatrechtliche Arbeitsverträge ersetzen solle. An dieser Stelle schlägt der öffentliche Neiddiskurs in vielen Medien, der die Laufbahn- und Mindestgehalts-Garantien im Bahndienst (wo die Gehälter keineswegs, keineswegs üppig ausfallen!) als unverdiente „Privilegien“ darstellt, voll durch. Hätte das Umfrageinstitut nachgefragt, ob die Menschen für die Stilllegung von 9.000 Kilometern Schienenstrecken sind, wäre das Ergebnis noch erheblich klarer mit „Nein“ ausgefallen.. Gleichzeitig, in derselben Umfrage, erntete die Unterstützung für die sich damals anbahnende Streikbewegung (mit 43 Prozent „dafür“, 38 Prozent „dagegen“ und 19 Prozent unentschiedenen Befragten) jedoch eine relative Mehrheit; vgl. ebenfalls unter lefigaro.fr…
Derzeit scheint die Unterstützung leicht anzuwachsen. In einer Befragung am 30./31. März d.J. erklärten, dem demoskopischen Institut Ifop zufolge, 46 Prozent der Umfrageteilnehmer/innen die sich abzeichnenden Streiks bei der Bahngesellschaft SNCF für „berechtigt“. Demnach waren es bei vergleichbaren Umfragen zuvor 42 Prozent (am 14./15. März) und dann 44 Prozent (am 20./21. März) gewesen; vgl. lefigaro.fr…
Sicherlich fällt die Unterstützung derzeit nicht derart durchschlagend aus wie im berühmten Streikherbst vom November und Dezember 1995 (damals äußerten jeweils stabile Mehrheiten zwischen 60 und 70 Prozent, den ganzen über dreiwöchigen Arbeitskampf hindurch, permanent ihre Unterstützung in Umfragen). Die öffentliche Meinung zeigt sich gespalten und beeinflussbar. Die Frage wird nur sein, in welche Richtung der Zeiger in Kürze ausschlagen wird. Dies wird sicherlich auch von der Durchschaubarkeit der Streik-Strategie und den erkennbaren Chancen, gegen die Regierung zu gewinnen, abhängen. Denn merke, die Faustregel lautet: Je unverständlicher eine Kampfstrategie wirkt, je geringer die Durchsetzungschancen gegen eine (durchaus viele soziale Frustrationen in unterschiedlichen Bereichen verkörpernde) Regierung erscheinen, desto schneller droht eine Bewegung unpopulär zu werden…
Im Spätherbst 1995 blieb die Streikbewegung ohne Unterbrechung populär, obwohl diese damals für das Publikum doch mit relativ starken Beeinträchtigungen verbunden war – über drei Wochen lang verkehrte etwa im Raum Paris buchstäblich kein Zug und kein Bus, fast keine Briefe wurden verteilt. Doch die Bewegung zeigte sich in den Augen der Öffentlichkeit in der Lage, eine auf manifeste Weise zum brachialen Durchregieren entschlossene, konservativ-wirtschaftsliberale Regierung mehr und mehr in die Enge zu treiben, und zog dadurch Sympathien auf sich. Die Herzen flogen ihr vielleicht nicht dafür entgegen, dass keine öffentlichen Verkehrsmittel fuhren, doch die Menschen ertrugen es mit manifester Leichtmut und erwiesen sich zugleich kreativ: In jenen Tagen kamen Skateboard-Fahren (auf dem täglichen Weg zur Arbeit), Tretroller, Car-sharing respektive Mitfahrdienste unter Nachbar/inne/n und andere Fortbewegungsmethoden in Mode.
Es bleibt nur zu hoffen, dass die derzeitige Streikbewegung ebenfalls in der Lage sein wird, in die Gesellschaft hinein auszustrahlen.
Studierendenprotest
Neben den übrigen öffentlichen Diensten, die sich unter anderem gegen die Einführung eines „Karenztags“ – unbezahlten Krankheitstags – und gegen Personalmängel in Krankenhäusern und Pflege sowie den geplanten Abbau von 120.000 Arbeitsstellen wehren, geraten derzeit auch Teile der Studierendenschaft in Bewegung. Dort geht es um die Neueinführung von Aufnahmehürden für Universitäten, die bislang mit dem Abitur jedenfalls im ersten Studienjahr für Alle zugänglich waren. Ein Gesetzentwurf im Spätherbst 1986, welcher dem ein Ende setzen wollte, die Loi Devaquet – der gleichnamige Minister verstarb kürzlich // vgl. francetvinfo.fr…// – musste im Dezember jenes Jahres infolge aufflammender Proteste und nach dem spektakulären Tod des Demonstranten Malik Oussekine ersatzlos zurückgenommen werden.
Dies ändert sich nun durch die Einführung des neuen Einschreibportals „Parcourssup” und den Gesetzentwurf unter dem Titel ORE // vgl. assemblee-nationale.fr…//, wobei – je nach Studiengang – neben dem Abitur zusätzliche Anforderungen eingeführt werden. Auf nationaler Ebene, wo es erstmals im Januar dieses Jahres Demonstrationen dazu gab, die jedoch zunächst relativ schwach besucht waren (knapp 2.000 Teilnehmer/innen in Paris), kommt eine Bewegung dazu bislang nur schleppend in Gang. Bei der gemeinsamen Demo von Eisenbahner/inne/n und öffentlichen Diensten am vorigen Donnerstag, den 22. März 18 war jedoch die studentische Komponente etwa in Paris deutlich sichtbar vertreten.
Örtlich hat die Streikbewegung der Studierenden jedoch begonnen, Fuß zu fassen. In Reaktion darauf kam es mehrfach dazu, dass neofaschistische Aktivistengrüppchen – wie insbesondere der GUD (Groupe Union Défense) und Untergruppen der „identitären Bewegung“ – Teilnehmer/innen des Studierendenprotests körperlich attackieren. Solche, im Wortsinne faschistischen Gewalttaten ereigneten sich in Montpellier am 22. März (wir berichteten ausführlich bei Labournet), im nordfranzösischen Lille am 26. März sowie im ostfranzösischen Strasbourg am 28. März dieses Jahres. In Montpellier wurden deswegen (also wg. aktiver Teilnahme an einem solchen Angriff) mittlerweile immerhin ein Dekan der juristischen Fakultät – er musste deswegen von diesem Amt zurücktreten – sowie ein Hochschullehrer in Polizeigewahrsam genommen, unter Anklage gestellt sowie vom Dienst suspendiert… (Vgl. u.a, unter vielen Artikeln, zusammenfassend: lejdd.fr…)
Eine frankreichweite Studierendenmobilisierung soll nun genau deswegen, in Antwort darauf, mit einer Zentraldemonstration am 14. April in Montpellier stattfinden. (Vgl. lefigaro.fr…) Dazu ruft eine mittlerweile gegründete, frankreichweite studentische Koordination auf.
Sektorenübergreifende Sozialprotestdemo(s)?
Ferner plant die CGT zu einer gemeinsamen Demonstration aller laufenden sozialen Protestbewegungen am 19. April d.J. aufzurufen. Am Montag, den 26. März erklärte jedoch Force Ouvrière (FO) – der drittstärkte, politisch schillernde gewerkschaftliche Dachverband in Frankreich, der seit 1995 an der Mehrzahl der Streikbewegungen teilnahm, jedoch aufgrund wechselnder Interessenlagen seines Apparats oft unberechenbar auftritt -, es sei nicht einzusehen, warum man daran teilnehmen soll. Auch die CFDT als stärkster oder zweitstärkster Dachverband – ungefähr gleichauf mit der CGT – sieht „keinerlei Grund“, daran teilzunehmen.
Neben den eher regierungsfreundlichen Positionen dieser beiden Dachverbände bzw. ihrer Spitzen in den jetzigen Auseinandersetzungen (sowie, was FO betrifft, ihrem kurz bevorstehenden Kongress) kommt hinzu, dass die Leitung der CGT bei der Ankündigung des Mobilisierungstermins offensichtlich auf Bündnisgespräche keinerlei Rücksicht genommen hat – und dadurch selbst den grundsätzlich teilnahmewilligen, linken Gewerkschaftszusammenschluss Solidaires vor den Kopf stieß. Allem Anschein nach handelt die CGT-Führung derzeit eher, um interne Gleichgewichte auszutarieren, als um handlungsfähige Bündnisse nach außen hin zu bilden. (Vgl. in der bürgerlichen Presse dazu auch, allerdings in der ohnehin CGT-feindlichen und eher CFDT-freundlich gesonnenen, keinesfalls neutralen Pariser Abendzeitung Le Monde: lemonde.fr…)
Die gewerkschaftliche Spaltung vertieft sich derzeit gegenüber den Vorjahren tendenziell. Zwar könnte es zu einigen nötigen inhaltlichen Klärungen in der Gewerkschaftslandschaft sein, gleichzeitig ist dieser Zustand dennoch ein Hemmfaktor für die Ausweitung der Mobilisierung.
Hinzu kommt nun noch der Linkssozialdemokrat und Linksnationalist Jean-Luc Mélenchon: Letzter insistiert darauf, nun in naher Zukunft für einen Samstag zum Sozialprotesttag aufzurufen – mit dem Argument, die Gewerkschaften wie die CGT verträten jeweils Beschäftigtenkategorien, an die sich ihre Streikaufrufe richteten. Er (Mélenchon) und die Seinen verträten jedoch „das Volk“, das eine übergreifendere Kategorie darstelle und deswegen auch nicht lohnabhängig arbeitende Sektoren umfasse, so dass es eher an einem Wochenende zu mobilisieren sei. (Vgl. dazu Mélenchon glasklar in dieser Ausgabe seines wöchentlichen Videos, ab circa 9 Minuten und 35 Sekunden: melenchon.fr…)
Rund um den ersten gewerkschaftlichen Aktionstag vom 22. März d.J (öffentliche Dienste und Eisenbahn, plus die sich dranhängende Studierendenbewegung) hatte es bereits einen Aufruf der politischen Linkskräfte zur Aktionseinheit in der Unterstützung für den Sozialprotest gegeben. Ursprünglich hatte dazu Olivier Besancenot von der „Neuen Antikapitalistischen Partei“ (NPA), Mitglied der Postgewerkschaft SUD-PTT, Anfang März 18 aufgerufen. (Vgl. bfmtv.com… und liberation.fr…) Schlussendlich kam dabei ein beinahe erstaunlicher Bogen der unterstützenden Kräfte – von Benoît Hamon, im Frühjahr 2017 (gescheiterter) Präsidentschaftskandidat der Regierungssozialdemokratie und Mitglied ihres linken Flügels und inzwischen Chef einer eigenen Kleinpartei unter dem Namen Génération.s, bis zu Teilen der antikapitalischen radikalen Linken – zustande. (Vgl. europe1.fr…)
Doch Jean-Luc Mélenchon, in dessen Augen seine eigene Partei/Wahlplattform La France insoumise („Das unbeugsame Frankreich“) im Zentrum zu stehen hat und „das rebellische Volk“ als solches verkörpert, mochte von dieser Aktionseinheit noch nie viel wissen, obwohl er sich ihr im Vorfeld des 22. März noch unterordnen musste. (Vgl. lemonde.fr… und challenges.fr… sowie marianne.net…) In seinem oben zitierten Interview tut der linksautoritäre Ex-Präsidentschaftskandidat (2012, 2017) diese bisherige Aktionseinheit zur Unterstützung der Sozialproteste als bedeutungslose Allianz von „drei Grüppchen“ ab: Auf die Bewegung „des Volkes“ komme es an; und diese(s) verkörpert nun mal er.
Auch auf politischer Ebene dürfte es also in naher Zukunft noch so manchen Hader rund um die Sozialproteste und ihre tatsächliche und/oder vermeintliche Unterstützung geben…
Quelle: labournet.de… vom 4. April 2018
Tags: Arbeiterbewegung, Frankreich, Gewerkschaften, Grossbritannien, Neoliberalismus, Widerstand
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