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Verfassungswidriger Freihandel

Eingereicht on 11. März 2016 – 9:41

Andreas Fisahn. Gegen das Freihandelsabkommen CETA zwischen EU und Kanada soll in der BRD Verfassungsbeschwerde eingereicht werden.

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Marianne Grimmenstein, eine Musiklehrerin aus Lüdenscheid, organisiert eine Verfassungsbeschwerde gegen das Handelsabkommen CETA der Europäischen Union mit Kanada. Bis zum 12. März 2016 ist kostenlos eine Beteiligung daran möglich. Im Moment sind es rund 169.000 Personen, die sich auf der Internetseite www.change.org/p/bürgerklage-gegen-ceta eingetragen und eine Vollmacht unterschrieben haben. Autor der Verfassungsbeschwerde ist Professor Dr. Andreas Fisahn, der an der Universität Bielefeld den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Umwelt- und Technikrecht sowie Rechtstheorie innehat. Exklusiv für jW hat er einen Hintergrundartikel zu diesem Verfahren geschrieben. (jW)

Die EU will Freihandelsabkommen abschließen – mit Kanada das Comprehensive Economic and Trade Agreement, kurz ­CETA (Umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen), und mit den USA eine Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP (Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft). In den betroffenen Ländern gibt es scharfe Kritik an diesen Vorhaben. 250.000 Menschen haben am 10. Oktober 2015 in Berlin gegen CETA und TTIP demonstriert, was von den Mainstreammedien mehr oder weniger ignoriert wurde. Da die Regierungskoalition von CDU/CSU und SPD erklärt hat, beide Abkommen abzusegnen, organisiert die Musiklehrerin Marianne Grimmenstein aus Lüdenscheid eine Verfassungsbeschwerde gegen CETA. Sie hat den Autor dieses Beitrags damit beauftragt, selbige Beschwerde zu formulieren.

Bei Freihandelsabkommen geht es grundsätzlich darum, dass Waren, Dienstleistungen oder Kapital ohne Zölle und andere Hindernisse von einem Handelspartner zum anderen im- und exportiert werden können. Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden. Die Probleme verstecken sich in den Vertragsdetails und sind mit Gefahren für demokratische, rechtsstaatliche, sozialstaatliche und umweltrechtliche Standards verbunden.

TTIP und CETA sind keineswegs die ersten Freihandelsabkommen. Den Auftakt machte am 30. Oktober 1947 das General Agreement on Tariffs and Trade, kurz GATT (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen), das im Wesentlichen einen Abbau von Zöllen zwischen den anfangs 23 Unterzeichnerstaaten vorsah. 1994 wurde es zur World Trade Organization (WTO, Welthandelsorganisation) erweitert. Um den Handelsvertrag wurde also eine Organisation mit Sekretariat, Versammlungen und Gerichtsbarkeiten geschaffen. Zweck ist der Freihandel zwischen den Mitgliedsstaaten, der über den Zollabbau hinausgeht und insbesondere den ungehinderten Zugang zu weiteren, »fremden« Märkten anstrebt. Die WTO wurde damit beauftragt, weitere Handelserleichterungen zu initiieren. Die dafür 2001 eingerichtete »Doha-Runde« scheiterte im Juli 2008 an Interessenkonflikten: Der globale Süden verlangt vom Norden, dass dieser seine Märkte für Agrarprodukte des Südens öffnet und seine eigene Landwirtschaft nicht subventioniert, wodurch diejenige des Südens niederkonkurriert wird.

Weil es in der WTO nicht so richtig weitergeht, weichen die Staaten des Nordens auf bi- oder multilaterale Abkommen mit Staaten des Südens aus, was für erstere den Vorteil hat, dass in solchen Verhandlungen die Machtverhältnisse eindeutig sind – etwa wenn die EU mit der Andengemeinschaft (Bolivien, Kolumbien, Ecuador und Peru) feilscht. Eine Reihe solcher bilateraler Abkommen sind inzwischen geschlossen worden. Die Öffentlichkeit wurde darauf erst mit ihrem Interesse an TTIP und CETA aufmerksam. Diese beiden Abkommen unterscheiden sich aber von anderen. Es geht nicht nur um »Freihandel«, sondern um die geoökonomische Dominanz des Nordens, was von den Befürwortern apologetisch als Sicherung der Exportorientierung camoufliert wird.

Zum Stand des Verfahrens

Zu TTIP ist nur ein 25 Seiten starkes Verhandlungsmandat für die EU-Unterhändler bekanntgeworden. Weiteres eher propagandistisches Material hat die EU-Kommission ins Netz gestellt. Für das Abkommen mit Kanada liegt der Entwurf eines Vertragstextes im Umfang von rund 1.600 Seiten vor, der aus dem Englischen in alle EU-Sprachen übersetzt worden ist. Er wurde inzwischen in einigen Punkten, vor allem bei den Schiedsgerichtsverfahren, etwas modifiziert. Der geänderte Text lag bei der Verfassung dieses Beitrages noch nicht vor. Weil CETA als Blaupause auch für den Vertrag mit den USA gilt, ist es sinnvoll, sich mit diesem Text auseinanderzusetzen.

Für das Treffen des Ministerrats der EU im Mai dieses Jahres liegt eine »vorläufige Tagesordnung« vor, nach der ein Beschluss über die Unterzeichnung von CETA und seine »vorläufige Anwendbarkeit« gefasst werden soll. Die »vorläufige Anwendbarkeit« ist eine Besonderheit der EU, welche die Missachtung des Parlaments plastisch vor Augen führt. In der BRD müssen völkerrechtliche Verträge wie CETA vom Parlament beschlossen werden, erst dann kann der Bundespräsident sie ratifizieren, also den Vertragsparteien die Zustimmung übermitteln, womit der Vertrag in der BRD in Kraft treten kann. In der EU kann nach dem Vertrag von Lissabon der Rat, also die Regierungen der Mitgliedsstaaten, ohne Parlamentsbeteiligung die vorläufige Anwendbarkeit des Vertrags beschließen. Damit werden Fakten geschaffen. Das Parlament kommt in die Rolle eines Claqueurs, der die Fakten absegnen darf – falls die Kommission nicht guten Willen zeigt und das Parlament vorher beschließen lässt.

Voraussetzung für die vorläufige Anwendbarkeit von CETA ist, dass die EU die ausschließliche Kompetenz hat (EU only), also das Abkommen nur von den Gremien der EU verabschiedet werden kann. Die Mitgliedsstaaten stehen (mehrheitlich) auf dem Standpunkt, dass es sich um ein »gemischtes Abkommen« handelt, was dazu führt, dass auch die nationalen Parlamente zustimmen müssen. Ein Kontrakt, den der Bundestag billigen muss, kann nicht für vorläufig anwendbar erklärt werden – weder vom EU-Ministerrat noch von der Bundesregierung. Gegen die »EU only«-Kompetenz spricht auch, dass die Einrichtung von Tribunalen zum Investitionsschutz außerhalb der Zuständigkeit der EU liegt. Beschließt der Rat also über die vorläufige Anwendbarkeit, überschreitet er seine Kompetenzen – und zwar entweder, weil er die Rechte der nationalen Parlamente missachtet oder weil er die ausschließliche Kompetenz für CETA beansprucht. Der Punkt auf der Tagesordnung des Rates deutet darauf hin, dass die EU-Kommission bereit ist, die parlamentarische Kontrolle auszuhebeln.

Gefährdete Sicherheitsstandards

Die inhaltlichen Kritikpunkte an CETA werden gegenwärtig intensiv und vielschichtig diskutiert. Hier sollen sie erläutert werden, soweit sie verfassungsrechtlich problematisch sind. Es geht heute beim Freihandel nicht um Zölle, sondern um die Reduzierung von Regulierungsstandards, die als »nichttarifäre Beschränkungen« bezeichnet werden. Dazu gehören Regeln, die von der Zusammensetzung eines Produkts (z. B. Reinheitsgebot des Bieres) über dessen Herstellungsweise (etwa ohne Gefängnisarbeit) bis zu Namensrechten (wie »Champagner«) reichen können. Solche Schranken sollen durch Harmonisierung oder Anerkennung von Rechtsvorschriften beseitigt werden. Harmonisierung bedeutet, dass gleichartige Zulassungsvoraussetzungen für Produkte oder Dienstleistungen, also vereinheitlichte Rechtsregeln geschaffen werden. Dies hat sich – in der EU – als schwierig erwiesen, so dass man zur einfacheren Anerkennung der Zulassung von Produkten des anderen Vertragspartners übergeht. Das heißt konkret: Ein gentechnisch modifizierter oder manipulierter Organismus (GMO), der in Nordamerika angebaut werden darf, kann auch in der EU angebaut werden, wenn er die nordamerikanischen Zulassungsvoraussetzungen erfüllt, auch wenn er die europäischen nicht erfüllen würde. USA und Kanada haben solche Regeln. Daraus folgt: Wenn etwa der US-amerikanische Agrarkonzern Monsanto in Kanada genmanipulierte Pflanzen anbauen darf, dann ist es ihm nach Abschluss von CETA auch in der EU erlaubt.

Das hat wichtige Auswirkungen für den Umwelt- und Verbraucherschutz, weil in der EU bislang das Vorsorgeprinzip nach vorheriger Risikoabschätzung für den Gesetzgeber Orientierungsmaßstab sein soll. Das Gesetz muss Sicherungsvorkehrungen oder die Nichtzulassung für ein Produkt, z. B. einen GMO, vorsehen, wenn Schäden nicht auszuschließen sind. In den USA gilt umgekehrt, dass ein wissenschaftlich exakter Beweis für Schäden erforderlich ist, bevor die Vermarktung eines Produktes verboten werden kann. Ansonsten gilt die Freiheit der Zulassung als Prinzip. Durch die Anerkennung von Produktzulassungen können TTIP und CETA so zur Aufweichung des Vorsorgeprinzips dienen und zum Prinzip Zulassungsfreiheit führen. Die USA kompensieren letzteres Verfahren durch exorbitante Schadensersatzansprüche, so dass sich ein Hersteller genau überlegen muss, ob er das Risiko möglicher Folgeschäden eingehen will. Dort verfolgt man eine andere Philosophie, die am Ende aber auch vor Gefahren für Umwelt und Gesundheit schützt. Solche Schadensersatzansprüche existieren (in der Höhe) in der EU nicht. Problematisch wird es, wenn man beide Herangehensweisen kombiniert. Dann fällt das Vorsorgeprinzip hinten runter – und genau das geschieht bei CETA. Dort wird explizit normiert: Handelsbeschränkungen sind nur zulässig, wenn wissenschaftlich exakt nachgewiesen ist, dass ein Produkt einen Schaden verursacht. Im Ergebnis würden GMO, die in der EU nicht erlaubt sind, über Nordamerika auch hier zugelassen und eingeführt werden. Da sich das Vorsorgeprinzip im Grundgesetz wie im Lissabonner Vertrag findet, werden durch solche Regelungen verfassungsrechtliche Garantien aufgegeben.

Einbahnstraße Liberalismus

Die EU arbeitet seit langem daran, den öffentlichen Sektor zu privatisieren und für die Konkurrenzwirtschaft zu öffnen. TTIP und CETA werden diese Ambitionen vorantreiben, weil sie die Interessen nordamerikanischer und europäischer Konzerne bedienen. CETA enthält Regeln für die Erbringung von Dienstleistungen, die man als Marktöffnungsregeln zusammenfassen kann. Dienstleistungen, auch öffentliche, sollen im »freien« Wettbewerb angeboten werden. Das wird als Liberalisierung bezeichnet. CETA normiert zunächst eine grundsätzliche Marktöffnung für alle Dienstleistungen.

Es gibt Ausnahmen von dieser »Libera­lisierungs«pflicht, die man in Anhängen des Vertrags findet. Nur die dort aufgelisteten Sektoren werden von den Liberalisierungsbestimmungen ausgenommen – unberücksichtigte oder neu entstehende Dienstleistungen werden also grundsätzlich dem Konkurrenzkampf geöffnet. Man spricht von einem Negativlistenansatz. Die von der EU im Rahmen von Handelsabkommen stets privilegierte Form der Bestimmung von Bereichen der Liberalisierung war der Positivlistenansatz, nach dem Sektoren benannt werden, in denen die Vertragsparteien bereit sind, Liberalisierungsmaßnahmen zu vollziehen.

Die Ausnahmen werden in Stillhalteklauseln bestimmt. Diese besagen: Die Mitgliedsstaaten dürfen in den ausgenommenen Sektoren die bisherigen Regeln behalten. Für einige von ihnen gelten also nicht marktkonformen Regeln. Diese dürfen entweder nur beibehalten oder in Richtung Liberalisierung geändert werden. Änderungen können dann auch nicht wieder zurückgenommen werden. Nach einem solcher Ratchet-Mechanismus oder Sperrklinkeneffekt dürfen nachträgliche Modifikationen »nicht die Konformität mit den Bestimmungen dieses Abkommens vermindern«. Anders ausgedrückt: Eine Reregulierung von bestimmten Sektoren wird ausgeschlossen. Als Richtung ist die Marktöffnung in das Abkommen unwiderrufbar festgelegt.

Für andere Bereiche haben sich die Staaten vorbehalten, den Marktzugang wieder zu beschränken. Das ist am wenigsten problematisch. Für die Energienetze hat sich die EU eine Reregulierung vorbehalten, nicht aber für die Energieversorgung. Belgien hat für sich einen solchen Vorbehalt auch für die Energieversorgung eingebaut, nicht aber die BRD. Insgesamt wird die falsche Strategie der Privatisierung und Marktöffnung – die »Akkumulation durch Enteignung«, wie es der US-amerikanische Humangeograph David Harvey nennt – auf völkerrechtlicher Ebene festgeschrieben.

Ergänzt wird diese Marktöffnung im Kapitel über Government Procurement des CETA-Vertragsentwurfs, also über die öffentliche Beschaffung. Dort wird geregelt, dass öffentliche Einrichtungen bestimmte Aufträge ausschreiben müssen. Um welche Einrichtungen und welche Aufträge es sich dabei handelt, ist wieder in langen Anhängen aufgelistet. Bei der Aufzählung der ausschreibungspflichtigen öffentlichen Einrichtungen wird zwischen europäischen, nationalen, regionalen usw. Behörden und Institutionen differenziert. Für diese gelten jeweils andere geldliche Limits, ab denen die öffentliche Hand zur internationalen Ausschreibung verpflichtet wird. Wird ein bestimmter Betrag überschritten, müssen die Aufträge transatlantisch ausgeschrieben werden, wobei die Staaten dem Prinzip der Nichtdiskriminierung verpflichtet sind.

Das heißt etwa für größere Städte in Deutschland, dass sie viele ihrer Dienstleistungen transatlantisch ausschreiben müssen, auch wenn ein kommunales Unternehmen existiert, das diese Aufgabe bisher erfüllt hat. Der Auftrag wird in der Regel an denjenigen vergeben, der das niedrigste Gebot abgibt. Tariftreueklauseln und Mindestlohnsicherungen, die sich seit 2014 im Europarecht finden, sind im CETA nicht vorgesehen. Der mühselig erkämpfte soziale Fortschritt, der auf europäischer Ebene erreicht wurde, wird so in vielen Bereichen wieder rückgängig gemacht. Durch diese Regelungen wird insbesondere der Handlungsspielraum der Kommunen eingeschränkt, deren Autonomie wiederum durch das Grundgesetz geschützt ist. Aber auch für andere Ebenen des Staates bedeuten diese Regelungen eine Beschränkung demokratischer Entscheidungsfreiheit. Eine Korrektur der Marktöffnung ist demokratischen Entscheidungen zum Teil entzogen, was mit dem grundgesetzlich garantierten Demokratieprinzip nicht vereinbar ist.

Nebenverfassung für Konzerne

Von vielen wird die Auffassung geteilt, dass die Einrichtung besonderer Schiedsgerichte einen Verstoß gegen zentrale verfassungsrechtliche Regeln darstellt. Im früheren Entwurf für CETA ging es um sogenannte private Schiedsgerichte. Am 1. März hat die EU einen neuen Vertragsentwurf veröffentlicht, der insbesondere Änderungen im Bereich des Investitionsschutzes und der Klagemöglichkeiten privater Investoren enthielt. Diese Fassung nimmt zentrale Kritikpunkte an solchen Gerichten auf, schafft »ständige Tribunale«, bleibt aber weiter verfassungsrechtlich bedenklich.

Durch das Abkommen ist es möglich, dass private Investoren vor speziellen Tribunalen Staaten auf Schadensersatz verklagen können. Sollten bislang die Parteien im jeweiligen Streit die Schiedsrichter ernennen, werden mit dem neuen Entwurf 15 ständige Richter berufen, von denen drei im Streitfall ein Tribunal bilden. Außerdem wird eine Berufungsmöglichkeit geschaffen. Das Tribunal können private Investoren anrufen, wenn sie direkt oder indirekt enteignet werden. Direkte Enteignung, also die Eigentumsübertragung an öffentliche Einrichtungen, ist nach dem Grundgesetz (Artikel 14, Absatz 3) zum Wohl der Allgemeinheit möglich. Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können vergesellschaftet werden. In diesen Fällen ist eine angemessene Entschädigung zu zahlen, was nicht Wertersatz bedeuten muss. Nach CETA führt die »Nationalisierung« von Eigentum zum vollständigen Wertersatz. Hier gilt also ein Sonderrecht für ausländische Konzerne.

Unter indirekte Enteignung fallen alle Maßnahmen, also auch Gesetze, die mit Blick auf das Eigentum ähnliche Effekte haben wie die Enteignung, weil sie die Nutzungsmöglichkeiten verringern, ohne das Eigentum zu transferieren. Nach dem alten Vertragsentwurf konnte jede Gesetzgebung, die den Umwelt- oder Gesundheitsschutz verbessert oder soziale Standards erhöht, zunächst als indirekte Enteignung gelten und zu hohen Schadensersatzforderungen führen. Nach dem neuen Entwurf wird den Staaten ausdrücklich das Recht zugeordnet, zum Zwecke legitimer öffentlicher Interessen ihre Gesetze zu ändern. Außer in Fällen von Willkür sollen nicht diskriminierende Gesetze eines Staates nicht als indirekte Enteignung gelten.

Indirekte Enteignung ist nach dem Grundgesetz zum öffentlichen Wohl zulässig, wenn sie verhältnismäßig ist. Ziel des Gesetzes und Intensität des Eingriffs werden gegeneinander abgewogen. Ein kanadischer Investor muss nicht mehr das Bundesverfassungsgericht anrufen, um prüfen zu lassen, ob die »indirekte Enteignung« verfassungskonform ist. Das Tribunal entscheidet, ob das Gesetz unmittelbar oder mittelbar diskriminiert. Auch das kann sehr unterschiedlich bewertet werden. Der Investor kann das Tribunal direkt anrufen, was dann nach den Maßstäben von CETA und nicht nach denjenigen des Grundgesetzes abwägen muss. Die Abwägung versteckt sich in dem Wörtchen »legitim«. Die öffentlichen Interessen sollen legitim sein. Dabei können erhebliche Abweichungen von der nationalen Rechtsprechung auftreten, weil das Grundgesetz Eigentum der Sozialbindung unterwirft (Artikel 14, Absatz 2) und starke Gegenrechte formuliert, die auf der Waagschale der Justitia ein hohes Gegengewicht zum Eigentum darstellen. In einem Freihandelsabkommen sind diese Gegengewichte naturgemäß ungleich leichter.

Gleichzeitig können Entscheidungen der Schiedsgerichte faktisch die gleiche Bedeutung wie die des Bundesverfassungsgerichts erlangen. Erklärt letzteres eine rechtliche Norm für ungültig, kann der Gesetzgeber das bemängelte Gesetz neu formulieren. Nach CETA können die Staaten zu Schadensersatz in exorbitanter Höhe verurteilt werden. Der Gesetzgeber hat dann nicht die Möglichkeit, das neue Gesetz zu überarbeiten. Er wird sich also sehr genau überlegen, ob er die »vernünftigen Profiterwartungen« der Unternehmen einschränkt. Fatal wird dies, wenn es um Aktienspekulationen geht. Auch Spekulanten gelten nach CETA als Investoren. Im Ergebnis wird zur nationalen Gesetzgebung eine Nebenverfassung etabliert und mit dem Schiedsgericht ein »Nebenverfassungsgericht«. Das verfassungsrechtliche Rechtsstaatsprinzip verbietet Sonderrecht und Sondergerichte. Es erlaubt nicht, die besondere Stellung des Bundesverfassungsgerichts, das berechtigt ist, Entscheidungen des gewählten Parlaments zu verwerfen, zu verdoppeln.

Global ineffektiv

Für CETA und TTIP wird mit dem üblichen Versprechen geworben: Es produziere Wirtschaftswachstum, schaffe viele Arbeitsplätze und so Wohlstand für alle. Empirisch ist die Annahme inzwischen offenkundig widerlegt. Aber auch aus Sicht der Apologeten des Freihandels führt die nordamerikanisch-europäische Freihandelszone zu Problemen. Es könnte zu einer Verlagerung der Produktion aus dem Süden in die kapitalistischen Zentren kommen. Aber dadurch wird nicht zusätzlich produziert, weil in den Zentren die Märkte weitgehend gesättigt sind. Verlierer wäre der globale deindustrialisierte Süden. Auch Schätzungen der Bertelsmann-Stiftung gehen nur von einem Wachstumsimpuls von 0,1 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsproduktes der Welt aus, so dass der Arbeitsmarkteffekt auch im Norden zu vernachlässigen ist.[i]

Nun ist die Schaffung größerer Handelsräume im Rahmen der sogenannten Globalisierung charakteristisch für die kapitalistische Wirtschaft, die seit dem 19. Jahrhundert die Welt erobert hat. Schon Marx erkannte weitsichtig: »Der Weltmarkt bildet selbst die Basis dieser Produktionsweise. Andrerseits, die derselben immanente Notwendigkeit, auf stets größrer Stufenleiter zu produzieren, treibt zur beständigen Ausdehnung des Weltmarkts (…).«[ii] Die Herstellung größerer Wirtschaftsräume ist nicht an sich das Problem, weil man die größeren Räume auch mit einer schärferen Regulierung oder demokratische Wirtschaftskontrolle verbinden könnte. TTIP und CETA gehen aber in die andere Richtung. Die Markt­öffnung ist Teil der Strategie – so wiederum Harvey – zur »inneren Landnahme« des Kapitals, d. h. zur Privatisierung, zum Abbau von sozialen Standards und schließlich auch zur Erweiterung des Casinos.

Quelle: Junge Welt vom 11. März 2016

[i] G. Felbermayr/B. Heid/S. Lehwald: Die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (THIP). Wem nutzt ein transatlantisches Freihandelsabkommen? Teil 1: Makroökonomische Effekte. Gütersloh 2013.

[ii] Karl Marx: Das Kapital, Band 3, in: Marx-Engels-Werke, Band 25, Seite 345 f.

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