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Die Zerstörung Jugoslawiens mit deutscher Hilfe

Eingereicht on 24. Juni 2016 – 9:01

Vor 25 Jahren erklärten Kroatien und Slowenien ihre Unabhängigkeit von Jugoslawien. Die Sezession wurde von der BRD und von Österreich unterstützt. Es folgte ein Jahrzehnt des Krieges und der Zerstörung auf dem Balkan.

Hannes Hofbauer. Wenn sich Slowenien in einigen Tagen für unabhängig erklärt, werden wir diese Entscheidung nicht anerkennen«. Wir schreiben den 21. Juni 1991. Es ist neun Uhr abends, und eine seit Stunden wartende Hundertschaft Journalisten rückt der achtlos gezogenen roten Absperrungskordel immer näher, als im Belgrader Palast der Föderation der jugoslawische Außenminister Budimir Loncar und sein US-amerikanischer Amtskollege James Baker vor die Presse treten. Seit dem frühen Nachmittag war Baker zwischen den sechs Präsidenten der jugoslawischen Teilrepubliken im geräumigen Palast unterwegs und hat mit jedem von ihnen ausführlich konferiert. Es ging um die von Kroatien und Slowenien für die Folgewoche angekündigten Unabhängigkeitserklärungen. Der amerikanische Chefdiplomat spielte den Vermittler. Und er machte in seiner Abschlusserklärung deutlich, dass Washington keinen Zerfall des Vielvölkerstaates wünschte. Das Eingangszitat stammt von ihm. Noch während die Agenturen, Fernseh- und Printjournalisten Bakers Aussagen um die Welt schicken, gehen die Vorbereitungen für die Unabhängigkeitsfeiern in Zagreb und Ljubljana weiter. Vier Tage nach Bakers Auftritt im Palast der Föderation beginnt der Kampf der Völker Jugoslawiens gegeneinander. Titos Föderalismus ist mausetot.

Anerkennung bedeutet Krieg

Im Unterschied zu Washington haben führende Kräfte in der BRD, allen voran Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP), immer wieder Sympathie gegenüber den Anliegen der slowenischen und kroatischen Sezessionisten gezeigt. Die Rede von der »nationalen Selbstbestimmung« machte die Runde, und im Bundestag forderten Abgeordnete von CDU (Friedrich Vogel), SPD (Peter Glotz) und Grünen schon vor der kroatischen Unabhängigkeitserklärung in der Bundestagssitzung vom 19. Juni 1991, die bevorstehenden Abspaltungen anzuerkennen. In Österreich ging man mit den Provokationen gegenüber Belgrad noch weiter, indem z. B. Außenminister Alois Mock (ÖVP) den Slowenen Dimitrij Rupel am 20./21. Juni in die österreichische KSZE-Delegation einschleuste, um dort u. a. über die Suspendierung der jugoslawischen Mitgliedschaft zu diskutieren. Rupel nahm zu diesem Zeitpunkt den Posten des slowenischen »Außenministers« ein, obwohl Ljubljana noch nicht einmal seine Selbständigkeit erklärt hatte.

Deutschland und Österreich waren die treibenden Kräfte auf dem internationalen Parkett, die die innerjugoslawischen Zerwürfnisse dynamisierten, indem sie die ethnisch-nationale Karte ausspielten. Warnende Stimmen aus Frankreich oder den USA vor den Folgen einer solchen Politik schlugen die politisch und medial Verantwortlichen in den Wind. Auch zuvor geschätzte Dissidenten wie Milovan Djilas wollte in Berlin oder Wien niemand hören. Der ehemalige Kampfgefährte von Josip Broz Tito meldete sich prophetisch zu Wort, als er im Juli 1991 vor einer internationalen Anerkennung der kroatischen und slowenischen Sezessionen warnte. »Die Anerkennung der Unabhängigkeit von Slowenien oder Kroatien durch Deutschland, Österreich oder andere Staaten wird direkt zu einem Bürgerkrieg in Jugoslawien führen«, meinte er gegenüber der Wiener Tageszeitung Die Presse. »Dieser Krieg«, so Djilas weiter, »würde von unvorhersehbarer Dauer sein und könnte, so fürchte ich, durch die Intervention internationaler Organisationen oder das Eingreifen der Großmächte nicht gestoppt werden.« Es nützte nichts. Der Spiegel gab die Linie vor, indem er zur selben Zeit Anfang Juli 1991 titelte: »Völkergefängnis Jugoslawien: Terror der Serben«. Es war einer von vielen Aufrufen zur Zerstörung Jugoslawiens.

Vor allem im deutschen Sprachraum hatten sich Medien und Politik auf die Losung »Anerkennung oder Krieg« geeinigt; geworden ist aus der scheinbaren Alternative, wie von Djilas vorausgesagt, die Abfolge: Anerkennung, dann Krieg.

Am 17. Dezember 1991 beschlossen die Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft auf Druck Berlins, die zwei südslawischen Republiken als Staaten anzuerkennen, was kurz darauf auch passierte. Die FAZ kommentierte die Entscheidung mit dem Satz: »Die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens als unabhängige Staaten zum 15. Januar 1992 kam ein halbes Jahr zu spät.« Und der nachmalige US-Sonderbeauftragte für den Balkan, Richard Holbrooke, schrieb in seinen Memoiren: »Genscher schlug alle Warnungen seiner alten Freunde in den Wind. Ganz untypisch ließ Deutschland seine Muskeln spielen. Auf dem entscheidenden Treffen der europäischen Außenminister Mitte Dezember 1991 erklärte Genscher gegenüber seinen Kollegen, Deutschland werde, sollten die anderen EG-Staaten nicht mitziehen, Kroatien notfalls im Alleingang anerkennen.«

Es sollte freilich nicht lange dauern, bis auch die USA nicht mehr abseits standen. Mitten im blutigen bosnischen Bürgerkrieg setzte Washington ab Anfang 1994 auf die muslimische Karte und formte eine bosnisch-kroatische Föderation. Damit übernahmen die USA das Staffelholz der antiserbischen Koalition, Fliegerangriffe gegen serbisch-bosnische Stellungen inklusive. Die Intervention, die Berlin 1991 begonnen hatte, gipfelte Ende März 1999 im völkerrechtswidrigen NATO-Krieg gegen (Rest-)Jugoslawien. Der letzte jugoslawische Verteidigungsminister, General Veljko Kadijevic, benannte klar die deutsche Schuld, als er 1993 konstatierte: »Deutschland bemühte sich nicht um eine friedliche Lösung, sondern um den Bürgerkrieg, auf dass sich die Völker Jugoslawiens nie wieder werden einigen können. Es ist nicht auszuschließen, dass Deutschland sogar später auf dem Balkan herrscht.« Was die wirtschaftliche Seite anbelangt, sollte Kadijevic recht behalten.

25 Jahre nach den Unabhängigkeitserklärungen Kroatiens und Sloweniens ist der postjugoslawische Raum vollkommen desintegriert. In – je nach Zählweise – sechs oder sieben staatlichen Entitäten (Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Montenegro – und Kosovo) zahlen die Menschen mit fünf unterschiedlichen Währungen (Euro, Kuna, Dinar, Denar, Konvertible Mark). Kosovo und Bosnien-Herzegowina werden im Kolonialstil von außen verwaltet, und mit dem im Kosovo gelegenen Camp Bondsteel betreiben die USA ihre größte europäische Militärbasis.

Ökonomische Krise

Den Unabhängigkeitserklärungen der nordwestlichen Republiken ging eine tiefe ökonomische Krise voraus, die gesamtjugoslawisch war und einem ähnlichen Muster folgte wie überall sonst in Osteuropa. »Schuld an der ganzen Misere sind die Kommunisten«, lautete das einfach gestrickte Argument der Jahre 1989/1990, das die Notlage erklären helfen sollte, in die Jugoslawien geraten war. Die Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs lagen tatsächlich schon lange zurück.

Die Weltwirtschaftskrise 1973, auch als Ölkrise bekannt, setzte Jugoslawien stark zu. Sinkende Produktivität und schwächelnder Außenhandel hatten zur Folge, dass die Auslandsschulden rasch anstiegen. Der »Internationale Währungsfonds« (IWF) hielt das gewohnte Rezept bereit, verordnete ein Sparprogramm und drängte auf die Reduktion sozialer Leistungen und den Abbau unrentabler Betriebe. Das stieß auf heftigen Widerstand bei der Bevölkerung. Einerseits flüchteten die betroffenen Arbeiter und Rentner in die partiell subsistente Welt ihrer Vorfahren, andererseits kam es auch zu sozialen Kämpfen. So im Frühjahr 1987, als in vielen Teilen Jugoslawiens – insbesondere in Kroatien – gestreikt wurde. Die Protestierenden wandten sich gegen ein von der Regierung verordnetes Einfrieren der Löhne, das Ende 1986 zeitgleich mit massiven Preiserhöhungen für Fleisch, Zucker und andere Grundnahrungsmittel verordnet worden war. Im Juli 1987 wurde dann staatlicherseits verlautet, dass 7.000 defizitäre Betriebe geschlossen werden müssten, was 1,5 Millionen Menschen arbeitslos gemacht hätte. Betriebsversammlungen und Diskussionsveranstaltungen während der Arbeitszeit sowie »unerlaubtes Fernbleiben« vom Arbeitsplatz nahmen zu. Die soziale Bombe tickte. Der durchschnittliche Reallohn eines jugoslawischen Arbeiters sank während der 1980er Jahre um 40 Prozent.

In der zweiten Märzwoche 1991, also noch vor Ausbruch territorialer Kämpfe, erschütterten »IWF-Riots« – Aufstände ähnlich jenen, die man sonst aus Ländern der »Dritten Welt« als Reaktion auf die »Schocktherapien« des IWF kannte – die Belgrader Innenstadt. Eine von der Serbischen Erneuerungsbewegung (SOP) des Vuk Draskovic initiierte Demonstration gegen die Medienpolitik von Slobodan Milosevics Sozialistischer Partei (SPS) kippte um in eine soziale Revolte deklassierter und arbeitsloser Jugendlicher. Zehntausende wütende Demonstranten eroberten die polizeilich gesperrte Belgrader Innenstadt, schleuderten Pflastersteine und Betonplatten gegen die Sicherheitskräfte, die ihrerseits von Tränengas und Gummiknüppeln ausgiebig Gebrauch machten. Die Demonstranten lieferten sich zwei Tage lang Barrikadenkämpfe mit der serbischen Miliz. Nach offiziellen Angaben wurden ein Polizist und ein Demonstrant getötet sowie 80 Personen verletzt, zahlreiche schwer. Am zweiten Tag fuhren Panzer der Jugoslawischen Volksarmee in den Straßen von Belgrad auf und beruhigten die Lage. Ein letzter, allerdings hilflos gewalttätiger sozialer Protest war damit unterdrückt worden, bevor sich die verschiedenen Nationalismen auf den Straßen und in den Parlamenten aller Teilrepubliken durchsetzten. Vor dem Hintergrund einer ernsthaften wirtschaftlichen Krise verschärften sich die regionalen Auseinandersetzungen um die knapper werdenden finanziellen Ressourcen. Der Kampf der Republiken gegeneinander begann auf ökonomischem Gebiet.

Nirgendwo sonst in Europa existierte ein Land, in dem die regionalen Disparitäten so extrem auseinanderklafften. Der staatlichen Statistik entnehmen wir, dass im letzten Vorkriegsjahr die Einkommensunterschiede der fast 24 Millionen Jugoslawinnen und Jugoslawen enorm waren. Slowenien verfügte über ein achtmal so hohes Pro-Kopf-Einkommen wie der Kosovo. Mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 5.500 US-Dollar pro Kopf lag die kleine nördliche Republik 1990 vor den EG-Staaten Portugal (4.300 US-Dollar) und Griechenland (5.300 US-Dollar). Kroatien und die Vojvodina folgten mit den Kennziffern 3.400 bzw. 3.200, danach kam Serbien mit 2.200 US-Dollar, allerdings inklusive der Vojvodina und dem Kosovo gerechnet. Der Kosovo bildete mit mageren 730 US-Dollar BIP pro Kopf das Schlusslicht. Die relative Position des Kosovo innerhalb Jugoslawiens hatte sich im Lauf der letzten vier Jahrzehnte zudem dramatisch verschlechtert. Zwischen 1950 und 1990 vergrößerte sich das Entwicklungsgefälle zu Slowenien um das Doppelte; allerdings gewährleistete das hohe Wachstum nach dem Zweiten Weltkrieg, dass es auch zum Ansteigen des Lebensniveaus in den ärmeren Republiken und Regionen kam.

Der innerjugoslawische Wirtschaftskrieg ging dem heißen Krieg voraus. Slowenien und Serbien boykottierten einander bereits seit 1989/1990, gegenseitige Einfuhrverbote bestimmten die Wirtschaftspolitik; ehedem gemeinsam entwickelte Energiekonzepte, republiksübergreifende Zulieferungen im Industriebereich, ja letztlich sogar die Zolleinnahmen wurden zum Kampfmittel Nord gegen Süd, Süd gegen Nord, Republik gegen Republik.

Neoliberale Reformen

In dieser Situation setzte Ministerpräsident Ante Markovic auf ausländische Hilfe, die sich freilich bald als vorerst ökonomische und später militärische Intervention entpuppen sollte. IWF-Mann Jeffrey Sachs verordnete ein Sanierungsprogramm nach dem Motto: Operation gelungen, Patient tot. Eine Hyperinflation in der Höhe von 1.000 Prozent hatte im Laufe des Jahres 1989 sämtliche Ersparnisse der Menschen entwertet. Der staatliche Sparkurs ließ zudem die von der Krise erschütterten Betriebe im Regen stehen. Die zugleich verordnete Marktöffnung setzte Jugoslawien dem scharfen Wind des internationalen Wettbewerbs aus, der sich im Lauf des Jahres 1990 zum Orkan steigerte. Innerhalb von wenigen Monaten verordnete Markovic eine radikale Importliberalisierung, die verheerende Folgen für sämtliche jugoslawischen Produktionsbetriebe hatte.

Der steigende Druck des IWF, der zu einer raschen Verarmung der Bevölkerung beitrug, bewog die Regierung der Republik Serbien mit ihrem Präsidenten Slobodan Milosevic dazu, an sozialistischen Mindesterrungenschaften festzuhalten, die in den Jahrzehnten nach 1945 eingeführt worden waren. Den mit politischen Parolen gewürzten Widerstand in den Straßen von Belgrad im März 1991 hatte die Regierung noch gemeinsam mit der Bundesarmee niedergerungen. Die ins nationale Aufbegehren gewendeten sozialen Proteste konnte oder wollte Milosevic nicht unterdrücken – sie boten ihm das gesellschaftliche Potential für seine politische Machterhaltung. Deshalb wurde er in der Folge zum Feindbild des Westens, der vorerst in Gestalt von Weltbank und Währungsfonds, später in Form von NATO-Kampfflugzeugen auf den Plan trat und Jugoslawien vernichtete. Bereits Ende 1990 begann die SPS, die von den Bundesorganen unter Ministerpräsident Ante Markovic vorangetriebenen ultraliberalen Wirtschaftsreformen zu boykottieren. Unmittelbar nach dem orthodoxen Weihnachtsfest bemächtigte sich Milosevic der jugoslawischen Notenbank und ließ für umgerechnet 1,8 Mrd. US-Dollar Dinar drucken. Damit wurden in den folgenden Tagen ausstehende Löhne von Staats- und Gemeindebediensteten – Soldaten, Lehrern, Ärzten, Krankenschwestern – ausbezahlt. Dem IWF-Sanierungsplan, der ja gerade auf der Geldverknappungspolitik und den Lohnkürzungen beruhte, war damit der Todesstoß versetzt. »Bankraub« und »Falschgeldskandal« riefen slowenische und kroatische Politiker. Westliche Finanzblätter titelten mit empörten Losungen: »Entmachtung der Nationalbank« und »Serbiens Selbstbedienungssozialismus« hieß es beispielsweise in der Neuen Zürcher Zeitung, die den Zugriff der serbischen Autoritäten auf die Notenbank scharf kritisierte. Dass ein solcher technisch überhaupt möglich war, lag an der Struktur der seit ihrer Gründung nicht unabhängig funktionierenden Notenbank. Große Unternehmen und die Republiken selbst fühlten sich als Eigentümer der Banken, auch der Notenbank.

Die Inbetriebnahme der Druckerpresse der Notenbank, noch dazu ohne jede Rücksprache mit dem Washingtoner IWF, stempelte Milosevic zum Feind der freien Marktwirtschaft. Damals, im Januar 1991, mag im Westen jener Meinungsumschwung vorbereitet worden sein, der letztlich zur Isolierung Serbiens und zur Zerstörung Jugoslawiens geführt hat. Jeffrey Sachs jedenfalls siedelte von Belgrad nach Ljubljana über, offensichtlich, weil sein Zwangssanierungsprojekt in ganz Jugoslawien nicht mehr durchsetzbar schien und er von nun an auf die nördlichen Teilrepubliken setzte. 1992 wurde die Mitgliedschaft Jugoslawiens bei IWF und Weltbank – bis Mai 2001 – »eingefroren«, weil man sich zwischen den Republiken nicht über die Verteilung der Schulden und des Eigentums einigen konnte. Dies hinderte allerdings IWF und Weltbank nicht daran, Kroatien und Slowenien in die internationalen Finanzklubs aufzunehmen.

Erste Opfer der Tragödie

Seit dem Wahlsieg der »Kroatischen Demokratischen Union« (HDZ) im April 1990 lag Zagreb im nationalen Taumel. Poster des Ustascha-Führers Ante Pavelic lachten einem in den Wirtsstuben entgegen, an allen Ecken und Enden tauchte die Schachbrettfahne des faschistischen Kroatien auf, und auf dem Hauptplatz von Zagreb ließ der neue starke Mann, Franjo Tudjman, das Reiterstandbild des kroatischen Nationalhelden Josip Jelacic aufstellen. Dieser hatte im Jahr 1848 gegen das revolutionäre Ungarn gekämpft, nun brauchte man ihn gegen Serbien, weshalb sein Schwert in Richtung Belgrad zeigte.

Im Mai 1990 ließ sich Tudjman zum Präsidenten ausrufen, im Dezember folgte eine neue Verfassung, in der die staatliche Unabhängigkeit Kroatiens bereits verankert war. Klammheimlich besorgte man sich Waffen von der ungarischen Armee, und die kroatische Nationalgarde, die laut Erlass des jugoslawischen Staatspräsidiums ihre Waffen bis Anfang 1991 hätte abgeben müssen, rückte statt dessen in die serbischen Siedlungsgebiete ein. Dort lebten rund um Knin und in Slawonien knapp 600.000 Serben. Am 2. März 1991, also noch vor der Unabhängigkeitserklärung, kam es in der slawonischen Stadt Pakrac zu einer ersten gezielten Provokation der immer nationalistischer auftretenden kroatischen Garden. Sie drangen in die großteils von Serben bewohnte Stadt ein und forderten von den örtlichen serbischstämmigen Polizisten, auf ihrer Polizeistation die Schachbrettfahne zu hissen. Als sich die Beamten weigerten, kamen die ungarischen Armeebestände zum Einsatz. Die ersten Toten der jugoslawischen Tragödie waren Serben.

Im Laufe des Mai 1991 nahmen die Scharmützel zwischen kroatischer Nationalgarde auf der einen und serbischstämmigen Polizisten sowie in Kroatien stationierten Einheiten der jugoslawischen Volksarmee zu. Kroatiens Unabhängigkeit war zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgerufen. Aufgrund dieses Tatbestands hätten eigentlich sämtliche sezessionistischen Aktionen der von Zagreb ausgesandten Polizei- und Truppenabteilungen als illegal eingestuft werden müssen. Völkerrechtlich gibt es über diese Einschätzung wohl kaum einen Zweifel. Das Gewaltmonopol der jugoslawischen Armee hatte Bestand; Zagreb akzeptierte es allerdings nicht mehr. Deshalb hatte sich auch das kroatische Verteidigungsministerium als Antwort auf die Konfiszierung von Waffenbeständen durch die Volksarmee ungarische Kalaschnikows besorgt. Und deshalb ist in kroatischen Quellen jedes Mal von Besetzung die Rede, wenn Serben ihre Polizeistation gegen die neu entsandte kroatische Belegschaft verteidigten.

Die unkritische Übernahme der kroatischen Sichtweise durch die deutschsprachigen Medien und die Politik der BRD sowie Österreichs entsprachen zwar den wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen an der Schaffung eines deutsch geführten »Mitteleuropas« in diesem Raum, rechtlich war sie jedoch nicht haltbar. Denn Kroatien war kein völkerrechtliches Subjekt, dessen Legitimität es erlaubt hätte, seine Verfassung, die ja bereits seit Dezember 1990 eine politische und territoriale Unabhängigkeit vorsah, militärisch zu exekutieren. Die deutsch-österreichische Politik, an der Spitze Hans-Dietrich Genscher und Alois Mock, setzte in dieser hochbrisanten Situation auf Sezession und erkannte de facto ein kroatisches Gewaltmonopol noch vor der Ausrufung der Unabhängigkeit an. Die Signale aus Bonn und Wien – sowie aus Budapest – konnten in Zagreb nur als Zustimmung zum Vormarsch in der Krajina und in Slawonien verstanden werden. Umgekehrt sah sich die serbische Minderheit in Kroatien dadurch in die Enge gedrängt und setzte umso mehr auf Hilfe aus Belgrad. Zehn Jahre Zerstörung Jugoslawiens folgten.

Von Hannes Hofbauer ist dazu bereits im Jahr 2001 das Buch »Balkankrieg. Zehn Jahre Zerstörung Jugoslawiens«, mittlerweile in 5. Auflage, erschienen: Promedia-Verlag, 296 Seiten, 17,90 Euro

Quelle:  Junge Welt vom 24. Juni 2016

 

 

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