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Pseudoradikale Rebellion fürs Gewissen: Eine Kritik

Eingereicht on 29. Oktober 2019 – 11:15

Nicolas Weber. Innerhalb der neuen, jungen Klimabewegung scheint „Extinction Rebellion (XR)“ die radikalste Gruppierung zu sein. Die ursprünglich aus Großbritannien kommende Bewegung hat innerhalb kürzester Zeit auch in Deutschland Fußgefasst und sorgt mit spektakulären Aktionen für Aufsehen.

Während Schülerinnen und Schüler bei „Fridays for Future“ selbstgemalte Pappschildchen hochhalten, veranstalten die Mitglieder von „Extinction Rebellion“ Sitzblockaden, Spontandemonstrationen und Kunstaktionen. Die Rollenverteilung scheint eindeutig: Auf der einen Seite die zahmen Schülerinnen und Schüler, auf der anderen Seite der radikale Aufstand. Das Vorgehen der Gruppe hat nicht nur im Vereinigten Königreich zu einer Debatte über politische Radikalität geführt. Auch in Deutschland wird über das Vorgehen der Gruppe intensiv diskutiert. Neben Ablehnung schlägt „XR“ jedoch auch einiges an Zuspruch entgegen, selbst aus der bürgerlichen Mitte, die in Deutschland, noch stärker als beispielsweise in Frankreich, dass auf eine lange Tradition zivilen Ungehorsams und gewalttätiger Massenproteste zurückblickt, Gewalt und Rechtsbruch als Teil des politischen Prozesses ablehnt. Woran liegt das? Und wie radikal ist „Extinction Rebellion“ wirklich?

Die Wurzel des Klimawandels liegt im globalen, neoliberalen Kapitalismus: Die Art, wie produziert wird, macht unseren Planeten kaputt. Auch individuelle Lebens- beziehungsweise Konsumweisen spielen eine entscheidende Rolle, in erster Linie gilt es jedoch, Kritik am vorherrschenden Wirtschaftssystem zu formulieren. Dieses hat nämlich nicht nur in gesellschaftlicher Hinsicht verheerende Auswirkungen wie Armut, Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Entfremdung und Ausbeutung, sondern auch für Umwelt und Klima fatale Folgen. „Fridays for Future“ mag harmlos wirken, doch über genau diese Punkte wird auf zahlreichen „FFF“-Plenas in ganz Deutschland gesprochen und diskutiert. Systemkritik spielt bei Fridays for Future, Pappschildchen hin oder her, also eine zentrale Rolle. Von „Extinction Rebellion“ hingegen ist wenig zu hören. Die Gruppe formuliert nicht einmal Forderungen nach sofort einzuleitenden Maßnahmen oder konkreten Reformen und hat anscheinend auch keine Vorschläge, wie sich ein gesamtgesellschaftliches Umdenken erreichen lassen könnte, im Gegensatz zur „FFF“-Bewegung, die immer wieder in das politische Zeitgeschehen interveniert. „XR hat die strategische Entscheidung getroffen, keine konkreten Vorschläge zu unterbreiten, wie die Klima- und Umweltkrise zu lösen ist. Es gibt seit Jahrzehnten genügend Lösungen und Ansätze, wie den allgegenwärtigen Krisen begegnet werden kann“, heißt es auf der Internetpräsenz des deutschen Ablegers. Das klingt mehr wie Unentschlossenheit, gemischt mit einer Prise Obrigkeitshörigkeit, als echter Aufstand.

Doch genauso sieht wohl Rebellion in der neoliberalisierten Gesellschaft aus: Ab auf die Straße, die Lösung aber sollen sich bitte andere überlegen. Und eigentlich ist es ja sowieso wichtiger, dass man auf der richtigen Seite steht, und alle anderen das auch sehen. Um es ganz klar zu sagen: Wer Politikabstinenz als strategische Entscheidung darstellt, hat nicht verstanden, was radikal sein wirklich bedeutet, und muss sich den Vorwurf anhören lassen, nur aus Selbstbeweihräucherung und -bespaßung auf die Straße zu gehen.

Diese Scheinradikalität ist der Grund für die Faszination weiter Teile der bürgerlichen Mitte mit „XR“. Das liberale Bürgertum hat verständlicherweise weit weniger Berührungsängste mit „Extinction Rebellion“ als beispielsweise mit antikapitalistischen, linken Gruppierungen, die zwar ganz ähnlich vorgehen, jedoch auf eine tatsächliche Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft abzielen und damit eine Gefahr für die herrschende Ordnung darstellen. Die „Faszination XR“ ist also die direkte Folge der Inhaltsleere der Gruppierung: Hier kann die linksliberale Jugend Radikalismus spielen und sich selbst auf die Schulter klopfen, ohne an den Grundfesten von Wirtschaft und Gesellschaft zu rütteln. Es handelt sich schlichtweg um Aktivismus fürs Gewissen, dessen einzige substantielle Folge ein Instagram-Post ist.

Das zum Großteil medial inszenierte Bild trügt also: „Extinction Rebellion“ ist nicht radikal, sondern symptomatisch für eine Zeit, in der jede Abweichung von der neoliberalen, glattgeschmiergelten Gesellschaft als vermeintliche Radikalität interpretiert wird. Dies verdeckt geschickt die Denkfaulheit der vermeintlichen Avantgarde im Kampf gegen Klimawandel und Umweltzerstörung. Die Schülerinnen und Schüler bei „Fridays for Future“, die dem Unterricht fernbleiben und dafür teilweise mit drastischen Konsequenzen zu kämpfen haben, sind daher um einiges radikaler als die Selbstdarsteller bei „Extinction Rebellion“.

Quelle: diefreiheitsliebe.de… vom 29. Oktober 2019

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