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Ein neuer Zyklus der reformistischen Illusionen?

Eingereicht on 10. August 2016 – 11:58

Donny Gluckstein. Der neue Einzug radikaler Politik in die Parlamente vieler Länder hat etwas Spektakuläres an sich. Von Bernie Sanders in der Demokratischen Partei der Vereinigten Staaten bis zur unerwarteten Wahl von Jeremy Corbyn als Führer der Labour Partei in England, dem Aufstieg von starken Parteien wie der griechischen Syriza und der spanischen Podemos, den elektoralen Durchbrüchen in Irland und Portugal erzeugt der Aufstieg von linken elektoralen Projekten neue Chancen für Sozialistinnen und Sozialisten. Dabei tauchen aber auch neue Fragen auf.

Weshalb gerade jetzt? Und welche Perspektiven ergeben sich? Dieser Artikel argumentiert, dass wir eine Wiederholung eines Zyklus erleben, der durch die Widersprüche innerhab des Bewusstseins der breiten Bevölkerung angetrieben wird. Dies führte im späten 19. Jahrhundert zur Entstehung der Sozialdemokratie, die hundert Jahre später an Schwung verloren hatte. Nun sind die Kräfte hinter dieser Entwicklung erneut aktiv, aber unter ganz anderen Umständen.

Ein reformistischer Lebeszyklus – Geburt

Unter der Herrschaft des Kapitals sind die meisten Leute den ideologischen Einflüssen des Systems unterworfen. Sie sehen aber, dass die Wirklichkeit mit dieser Illusion nicht übereinstimmt. Dies nimmt sich im Alltag aus, wie Voltaires Candide. In diesem Roman glaubt der Held zuerst, «dass alles zum Bestens steht in der besten aller mögllichen Welten». Er steht jedoch einer Wirklichkeit gegenüber, die eine Katastrophe nach der anderen gebiert. Von daher ist für diejenigen «unten» die teilweise Anpassung an die Ideen der Herrschenden oder deren Anerkennung mit deren teilweisen Ablehnung und einem Wunsch nach Veränderung vermengt. So werden beispielsweise die «Klasseninteressen» als vereinbar mit «nationalen Interessen» angesehen, wie auch «soziale Gerechtgkeit» mit «wirtschaftlicher (d.h. kapitalistischer) Effizienz» kompatibel sein soll.

Widersprüchliches Bewusstsein stellt einen ewig sprudelnden Quell für die Massenwirksamkeit des Reformismus dar. Es ist die Ursache dafür, dass selbst in Ländern mit keiner organisatorischen Tradition des Reformismus, der Beginn einer populistischen Politik dieser beinahe spontan grossen Rückhalt verleiht. Russland 1917 ist ein Beispiel dafür: Die zaristische Repression hatte kaum Platz gelassen für eine Politik der Arbeiterklasse – sei sie nun revolutionär oder reformistisch. Als die Februarrevolution in Petrograd den Zar zu Fall brachte, waren die Bolschewisten, die die aktivste, konsequenteste und die führende Kraft unter den Arbeitern war, mit nur 60 Delegierten im 1´000 Delegierte zählenden, demokratisch gewählten Sowjet vertreten. Alle anderen waren Reformisten. Eine ähnliche Entwicklung fand 1974 in Portugal statt, wo die Revolution die weltweit längste faschistische Diktatur stürzte. Obschon die todkranke Sozialistische Partei nichts zum Umsturz beitrug, so trat sie doch sofort auf die politische Bühne und dominierte diese recht bald und rettete so den Kapitalismus. Dieses Muster hat sich immer wieder wiederholt.

Anzunehmen, dass Revolutionäre nie die Mehrheit gewinnen können, wäre hingegen falsch. Dies hängt allerdings von einem Prozess ab, in dessen Verlauf ein grosser Teil weitergehen möchte, als lediglich Einverständnis oder Widerstand. Die Bolschewiki brauchten sechs Monate, um «geduldig zu erklären», weshalb die Revolution fortgesetzt werden musste, und indem sie die Mehrheit in den Sowjets errangen, um den Umsturz vom Oktober 1917 durchführen zu können.

Das Verständnis der Grundlagen der reformistischen Massenüberzeugungen ist ein erster wichtiger Schritt, obwohl es, für sich allein, noch nichts erklärt. Keine Klassengesellschaft hat je ein hundertprozentiges Einverständnis mit dem Status quo erreicht; alle müssen sich auf einen gewissen Grand von Zwang abstützen. Der Feudalismus stützte sich auf die Priester und das Schlossverliess, um «das göttliche Recht der Könige» aufrechtzuerhalten. Während es seit je eine unstabile Kombination von Vorstellungen gibt, so nimmt diese doch eine dauerhaftere konkrete Form an, sobald sie in besonderen Institutionen, wie beispielsweise politische Parteien kristallisiert wird. Dieser Prozess ist jedoch keinesfalls automatisch. So fehlte in den USA eine grössere reformistische Partei. In Grossbritannien mit der weltweit ersten industriellen Arbeiterklasse dauerte es weit mehr als ein Jahrhundert bis zur Entstehung der Labour Partei. In Ländern, die durch den Imperialismus beherrscht wurden, wurde das Bewusstsein durch Bewegungen und Parteien geformt, die hauptsächlich auf die nationale Unabhängigkeit, Wirtschaftswachstum und so weiter orientiert waren.

Die reformistischen Parteien bildeten sich anfänglich in Westeuropa heraus, wo die Durchsetzung des Wahlrechts den Glauben nährte, dass mittels Wahlen ein «neutraler» Staat in Besitz genommen werden könne. 1875 vereinten sich zwei Strömungen zur Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Die französische sozialistische Partei wurde 1880 gegründet, der holländische sozialdemokratische Bund im Jahre 1881, die belgische Partei um 1885, die norwegische 1887 und die italiensiche sozialistische Partei im Jahre 1892. Die britische Labour Partei folgte 1900. Zusammen bildeten diese Parteien die Zweite Internationale. Parallel dazu entstanden die Gewerkschaften, die in ihrem Wesen die gleiche Kombination von Anpassung und Widerstand zum Kapitalismus teilen. Die technische Arbeitsteilung zwischen Partei und Gewerkschaft entsprach der kapitalistischen Auffassung einer Spaltung zwischen Wirtschaft und Politik.

Traumatische Jugend

Kaum war die organisierte Sozialdemokratie entstanden, so entwickelte sie sich entlang einer gnadenlosen Logik. Zu genau diesem Zeitpunkt bildete sich die Unterscheidung zwischen der Führung der refomistischen Strukturen und deren Basismitgliedern heraus. Beide nahmen in der Gesellschaft einen unterschiedlichen Platz ein und kamen deshalb zu verschiedenen Einschätzungen.

Die Basismitglieder waren durch einen Wunsch nach Gleichheit und gesellschaftlicher Gerechtigkeit und einer Ablehnung vonAusbeutung und Unterdrückung motiviert. Demgegenüber arbeiteten diejenigen, die mit der Erreichung dieser Ziele beauftragt waren im Rahmen des Systems. Sosehr sie anfangs die selben Ziele wie ihre Basis teilten, so wurden sie letztendlich durch die bestehenden kapitalistischen Institutionen geprägt.

Wenn man davon ausgeht, wohin die sozialdemokratischen Parteien bis heute gelangt sind, so kann man nur zu leicht vergessen, wie radikal viele von ihnen am Anfang waren, und wie deutlich ihre Feindschaft gegenüber dem Kapitalismus war, selbst wenn die Mittel zu dessen Beseitigung falsch waren. So verabschiedete die deutsche Sozialdemokratie als grösste Partei der Zweiten Internationale 1903 auf ihrem Dresdener Pareitag folgenden Beschluss:

«Die Partei lehnt jedwede Verantwortung unter den politischen und ökonomischen Bedingungen ab, die auf der Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise beruhen. Sie kann deshalb in keiner Art und Weise Massnahmen gutheissen, die darauf abzielen, die herrschende Klasse an der Macht zu halten… Die Sozialdemokratie darf nicht nach einer Regierungsbeteiligung in der bürgerlichen Gesellschaft streben.»[i]

Ohne eine hohe Massenaktivität oder eine organisatorische Alternative zum bestehenden Staat war jedoch die wachsende Dominanz der rechten gewählten Abgeordneten kaum vermeidbar. Der Kapitalismus weitete sich aus, so dass die Aussicht auf allmähliche Besserung realistisch schien, trotz allen ungeheueren Leidens. Mit Ausnahme Russlands konnten Anpassung und Widerstand in der «breiten Kirche» der frühen Sozialdemokratie bequem nebeneinander existieren. Es kam gleichzeitig zu einer Herausbildung eines linken und eines rechten Flügels, eines Maximum- und eines Minimalprogrammes, einer breiten Basis und parlamentarischen Parteien. Die Spannungen zwischen den Flügeln stiegen an und schwächten sich ab, je nach Umständen. Sie nahmen aber über die Zeit eher zu. Wenn die Führer auch den Bruch zwischen marxistischer Theorie und ihrer täglichen Praxis spürten, so fanden sie sich doch damit ab.

1914 wurde durch den Ersten Weltkrieg die Frage nach der Vereinbarkeit der Interessen der Arbeiterklasse und der herrschenden Klasse gestellt, da die mörderischen Forderungen der Nationalstaaten Millionen das Leben kosteten. Unter diesem Druck und mit der bolschewistischen Machtergreifung 1917 traten die Widersprüche offen zutage. Während des Krieges zerbrachen die verschiedenen Komponenten der Zweiten Internationale, wobei die Mehrheit sich ihren jeweiligen Regierungen anschloss und eine Minderheit letztendlich die kommunistischen Parteien bildete.

Nur in Russland wurde ein Arbeiterstaat gegründet, weil hier eine frühere Abspaltung von der Sozialdemokratie einer anders gelagerten Führung erlaubte, weiter zu gehen. Andernorts organisierten sich die Revolutionäre später selbst und waren schwächer, während die sozialdemokratischen Führer sich als einflussreich genug erwiesen, die revolutionäre Flut zurückzudrängen. Nichtsdestotrotz war eine kräftige Rhetorik erforderlich, um das Ansteigen des Widerstandes gegenüber der Anpassung einzudämmen. In Deutschland förderte die SPD die Vergesellschaftung der Unternehmen, während in England die Labour Partei den sozialistischen Artikel 4 in ihre Statuten aufnahm, der das «Gemeineigentum an den Mitteln der Produktion, der Verteilung und des Austausches» forderte. Diese Massnahmen genügten allerdings nicht, um einen Massenzustrom zu den revolutionären Parteien zu verhindern. So stimmte beispielsweise in Frankreich 1920 eine Mehrheit der Sozialistischen Partei für den Anschluss an die Kommunisten. Aber für jeden, der sich von der Sozialdemokratie abwandte, kam eine noch grössere Zahl von Wählern von anderswo her. Diese waren entweder neu in das politische Leben getreten oder konnten von den alten, offen pro-kapitalistischen Parteien gewonnen werden. So wurde beispielsweise die schwedische Sozialdemokratie 1917 die grösste Partei. Die Labour Partei wurde 1918 zur «Opposition Ihrer Majestät» und konnte 1924 und erneut 1929 die Regierung übernehmen. Nach dem Sturz des Kaisers 1918 wurde ein Sozialdemokrat der erste Präsident Deutschlands. Die norwegische Arbeiterpartei erhielt 1927 am meisten Stimmen und ein Sozialist – Léon Blum –  wurde 1936 französischer Premierminister.

Trotz all dieser elektoralen Erfolge waren die wirtschaftlichen Gewinne der Areiterklasse mitten im wirtschafltichen Chaos der Ziwschenkriegszeit mager. Die deutsche SPD gewann ein paar Reform als Lohn für die Zerstörung der Revolution. Aber diese Gewinne wurden schnell wieder wettgemacht durch den Aufstieg von Adolf Hitler. Die britische Labour-Regierung von 1929 brach 1931 zusammen, als Premierminister Ramsay MacDonald in eine Koalition mit den Tories trat. Trotz grossen Hoffnungen nach der Streikwelle von 1936 scheiterte die französische sozialistische Regierung daran, eine Staatsmaschine herauszufordern, die offen mit den einmarschierten Nazis zusammenarbeitete. Drei Viertel der sozialistischen Abgeordneten stimmten 1940 für Vichy’s Marshal Pétain.

Erwachsenenalter

Der Zweite Weltkrieg war ein noch barbarischer Zusammenprall zwischen den imperialistischen Mächten als der Erste. Während des Krieges wurde das Potenzial einer neuen Welle der Radikalisierung mit den Widerstandsbewegungen in Italien und in Griechnland, zusammen mit den antikolonialen Kämpfen anderswo deutlich aufgezeigt. Aber erneut tat der Reformismus seinen Dienst, und dies viel leichter als nach dem Ersten Weltkrieg. Dies aufgrund des Zwanges, den er Stalinismus auf die kommunistischen Parteien ausübte. Hätten diese eine andere Führung gehabt, so wäre die internationale Revolution auf der Tagesordnung gestanden.

Das Ende des Krieges im Jahre 1945 führte nicht zu einer Spaltung wie 1918. Stattdessen war es das Vorspiel zu einem reformistischen goldenen Zeitalter, das scheinbar die Quadratur des Kreises schaffte und den Widerspruch zwischen den Interessen der Bosse und dem Rest der Gesellschaft auflöste. Dabei handelte es sich aber tatsächlich nur um eine Scheinlösung. Einige Faktoren aber stützten diesen Schein und bedeuteten einfach, dass sich die tiefen Enttäuschungen der Periode 1918 bis 1939 nicht wiederholten. Entgegen den Schrecken der Depression erfreute sich der Kapitalismus der längsten Wachstumsperiode. Die Wirtschaft benötigte eine gesunde, gut ausgebildete Arbeiterschaft und eine Wiederinstantstellung der kriegszerstörten Infrastruktur. Dies war gut vereinbar mit der reformistischen Hoffnung auf Wohlfahrt und Verstaatlichung. Indem sie sich an die liberalen Zwillingsgötter John Maynard Keynes und William Beveridge hielt, konnte die britische Labour Partei über Vollbeschäftigung, einem Wohlfahrtssystem «von der Wiege bis zur Bahre», dem nationalen Gesundheitssystem (NHS) und eine staatliche Kontrolle der Kohle und anderer Einrichtungen regieren. In Frankreich lieferten reformistische Regierungen Verbesserungen bei den Pensionen, Entschädigungen für die Kriegsversehrten, Verkürzungen der Arbeitszeit und soziale Sicherheit. Die schwedischen Sozialdemokraten gewannen alle Wahlen zwischen 1932 und 1976 und führten nach dem Zweiten Weltkrieg ein weltweit bewundertes Wohlfahrtssytem ein. Die Arbeiter West-Deutschlands gewannen, mit den Betriebsräten und den Mitbestimmungsregelungen ein formelles Mitspacherecht am Arbeitsplatz.

Wenn die Nachkriegsperiode ein Triumph war (à la Ken Loach’s Film The Spirit of ‘45), so verfestigte sich dadurch auch der Pfad der Anpassung an das System. Die Reformisten bauten die Idee aus, dass der bürgerliche Staat neutral wie auch formbar sei und dass der Kapitalismus durch sein Eingreifen gezähmt werden könne. Dies erschwerte für die reformistischen Führer dann die Aufgabe, dem Druck zu widerstehen, als der Boom zu Ende war.

Alterschwäche

Obzwar das Goldene Zeitalter den Widerspruch im Massenbewusstsein zu überwinden schien, so begann sich der Widerspruch recht schnell aufs Neue zu entfalten. Vorerst spies die traditionelle Quelle das Wahlglück weiterhin, nur um dann zu versiegen, als die Leistungen der regierenden Sozialdemokratie offensichtlich wurden. Mit der Rückkehr der Krise in den 1970er-Jahren wurde dieser Prozess zunehmend offensichtlich. Das Muster sich ablösender Auf- und Abschwünge und der mittlerweile andauernden Stagnation wirkten sich sowohl auf die reformistischen Führer wie auch auf deren traditionellen Basis aus – aber auf verschiedene Art und Weise.

Für die Führer ist der Reformismus ihr Lebensinhalt. Und da sie den Kapitalismus als einzige mögliche Quelle für Verbesserungen ansehen, wird alles seinen Bedürfnissen untergeordnet. Wenn die Bosse sich über zu hohe Staatsausgaben beklagen und aufgrund fallender Profite eine Umverteilung des Reichtums zugunsten der Reichen fordern, dann werden sogar die Verbesserungen, die die Sozialdemokratie einst erreicht hatte, geopfert. Mittlerweile ist der erste Lebenszyklus der Sozialdemokratie ausgelaufen. Die Regierungen von Tony Blair, François Hollande, George Papandreu und den anderen sind das Ergebnis davon. Dies ist zwar Reformismus, aber ohne Reformen im traditionellen Sinne.

Für mögliche Unterstützer machte die Erfahrung des Reformismus ohne Reformen die Unterscheidung zwischen Sozialdemokratie und offen pro-kapitalistischen Parteien schwierig. Dies erzeugte Verwirrung und Entfremdung. Die Vollendung des Lebenszyklus legte die angebliche Neutralität des kapitalistischen Staates offen, der aufgehört hatte, irgendwelchen Fortschritt zu bieten, früher gewonnene Errungenschaften beseitigte und zunehmend autoritär und unterdrückerisch wurde. Das führte zu einem wachsenden Zynismus gegenüber parlamentarischer Politik im Allgemeinen. Die Wähler können jedoch, anders als die Führer, anderswohin gehen. Was die Politologen in den 1980er-Jahren als «Abwanderung der Wähler» bezeichnen, wurde durch eine Periode abnehmender Wahlbeteiligung abgelöst; einige linken Formationen wandten sich dem Autonomismus und bewegungsorientierten Konzepten zu. Unglücklicherweise aber kann das Scheitern der traditionellen Sozialdemokratie angesichts der kapitalistischen Krise viele Leute auch in eine reaktionäre Richtung treiben. Die neuerlichen Präsidentschafts-Wahlen in Österreich zeigten einen Zusammenbruch der Unterstützung für die Sozialdemokratie, indem gerade Segmente der Arbeiterklasse den Kandidaten der faschistischen Freiheitspartei wählten.

Perspektiven

Darin liegt gerade das Rätsel. Das Alter bereitet eine neue Geburt vor. Während es offensichtlich scheint, dass die Hoffnungen auf wirkliche Reformen mittels einer Beschränkung auf parlamentarische Politik hinfällig sind, so erzeugt die andauernde Kombination von Anpassung und Widerstand im Massenbewusstsein immer wieder die Hoffnung, dass Reformen möglich sind. Die Quelle, die die Sozialdemokratie vor langer Zeit entstehen liess, fliesst weiterhin und wird einen Kanal für ihren Ausdruck finden, sofern dazu überhaupt die Möglichkeit besteht, sei diese nun bei Syriza, Corbyn oder anderswo. Was wir nun erleben, ist ein Szenario, nicht unähnlich dem vom Ende des 19. Jahrhunderts.

Es kann jedoch keine einfache Wiederholung des Goldenen Zeitalters geben. Dieses neuerliche Aufleben einer Begeisterung für reformistische Politik tritt nun unter ganz anderen Umständen auf; zudem gibt es kein gleichwertiges Neuaufleben der reformistischen Führung oder einer kohärenten Ideologie.

Der gegenwärtigen ökonomischen Krise ist nicht beizukommen. Somit wird es vom System keine Zugeständnisse geben – eher wird es die alten Errungenschaften abschaffen wollen und den letzten Tropfen Profit auspressen, der mittels Privatisierungen erreicht werden kann. Die Grösse der Kapitaleinheiten verglichen mit den Nationalstaaten ist mittlerweile dermassen angewachsen, dass die gewählten reformistischen Führer weniger Zuversicht haben, die Entwicklung überhaupt noch beeinflussen zu können. Die Labour-Regierung von Clement Attlee von 1945 begann mit der Umsetzung eines grossen Programmes zur Verstaatlichung, Sozialwohnungsbau und Wohlfahrtseinrichtungen zu einer Zeit, als die Staatsschulden fünf Mal so hoch waren wie das BIP. Heutzutage sind die Schulden dreimal tiefer, doch John McDonnell argumentierte im März 2016 in einer Rede, «dass die übermässige Schuldenmacherei nichts Linkes, zuviele Schulden überhaupt nichts Sozialistisches an sich hätten».[ii]

Zudem ist die Vorstellung von Clause 4, dass die Arbeiterklasse den Sozialismus allmählich via Verstaatlichung erreichen könnte, international diskreditiert. Die Unfähigeit der Ökonomien des Ostblocks, mit der entfesselten Marktökonomie konkurrieren zu können, führte in den Zusammenbruch des Stalinismus. Dies zog dem Modell der westlichen Reformisten «eines Sozialismus von oben» den Boden unter den Füssen weg. Die Lohnabhängigen des Öffentlichen Sektors lehnen die Privatisierung richtigerweise ab, denn diese treibt ihren Lebesstandard nach unten; niemand von ihnen glaubt jedoch, in einem sozialsitischen Nirwana zu leben.[iii]

Wenn der Aufschwung des politischen Reformismus auch eine allgemeine Erscheinung ist, so darf keinesfalls angenommen werden, dass er sich überall auf die gleiche Art und Weise äussert. Der Aufstieg von Syriza war eng verbunden mit einer Welle von Generalstreiks. Der Erfolg von Podemos ist undenkbar ohne die radikalisierende Wirkung der Bewegung der Platzbesetzungen. Generalstreiks mögen noch so unparlamentarisch, die Platzbesetzungen noch so anti-parlamentarisch sein, so sind doch viele, die daran teilgenommen haben nun auf Parlamente und Wahlen hin orientiert. Man könnte deshalb folgern, dass das Wiederaufleben des Reformismus von ausserparlamentarischen Bewegungen und Aktivitäten abhängen würde. Aber obschon der Grad von Massenaktivität in Grossbritannien und den USA tief gewesen ist, so ist doch die breite Unterstützung von Corbyn und Sanders unleugbar.

Lokale Unterschiede haben jedoch ihre Auswirkung. Das Wahlverhalten und parlamentarische Politik werden durch Ereignisse beeinflusst, die zwischen den Wahlen und ausserhalb des Parlamentes liegen. Was im Parlament wahrgenommen wird, ist das entfernte Echo der Schlacht, und im Falle von Syriza war dieses Echo lauter als anderswo. Als Konsequenz entwickelte sich die griechische Partei nicht nur unabhängig, frei vom Hemmschuh der etablierten reformistischen Partei Pasok, sondern wurde an die Macht getragen. Der Kongress von Syrizy im Jahre 2013 erklärte, dass die Partei eine Vereinigung der “kommunistischen, radikalen, erneuernden, antikapitalistischen, revolutionären, und libertäten Linken” sei.[iv] Demgegenüber hat sich das Wiederaufleben oft eher passiv und im Rahmen der offiziellen Politik abgespielt. So hat Jeremy Corbyn in seiner ersten Rede als Führer an der Konferenz der Labour Partei sein Schattenkabinett als ein Team vorgestellt, «das alle Flügel der Partei umfasst».[v] Insofern letztendlich das Parlament der Ort sein soll, von dem die Änderungen ausgehen sollen, werden die schmerzlichen Folgen ungeachtet dieser Unterschiede geteilt.

Die Tatsache, dass die Aussichten, Reformen zu erzielen schlechter sind als in der letzten Periode, heisst nicht, das keine Reformen möglich sind, oder dass elektorale Anstrengungen vergeblich sind. Die Brücke zwischen ausserparlamentarischer Aktion und dem Parlament kann in beiden Richtungen überquert werden. Wenn Wahlerfolge aus Massenkampagnen entstehen, wie neulich in Irland um die Wasserpreise, können Parlamentsabgeordnete ihr Mandat nutzen, um die Bewegung draussen zu stärken. Die Syriza-Regierung hätte nicht acht Tage nach dem “Oxi”-Referendum vor der Troika kapitulieren müssen. Sie hätte zuhause eine sehr starke Unterstützung hervorrufen und den Druck des Kapitals auf die griechische Arbeiterklasse lindern können, indem sie den internationalen Massenwiderstand gegen die Austeritätspolitik inspiriert hätte. Dies jedoch hätte mehr gebraucht als eine rhetorische Anspielung auf eine “kommunistische, radikale, erneuernde, antikapitalistische, revolutionäre und libertäre” Politik.

Der Punkt ist, dass die Taschenspielertricks, die sich zugunsten der Arbeiterklasse und der Bosse auswirken, nun viel schwieriger aufrechtzuerhalten sind, selbst wenn das Gemisch aus Anpassung und Widerstand weiterhin tief verwurzelt ist. Es brauchte über 100 Jahre, bis sich dieses durch den ersten reformistischen Lebenszyklus durchgearbeitet hatte – mit mehreren schweren Schlaglöchern auf dessen Weg. Wie das griechische Beispiel auf tragische Weise zeigt, ist die Zeit zwischen Jugend und Alter nun kürzer geworden. Dies sollte Revolutionären als Warnung gegen Illusionen in die Dauerhaftigkeit der neuen Politik dienen, gleichzeitig aber ein Gefühl der Dringlichkeit vermitteln, um aus den Reihen der Unterstützer des Reformismus Revolutionäre zu gewinnen, um über die parlamentarischen Illusionen hinauszugehen. Gerade die öffentlichen Äusserungen des widersprüchlichen Massenbewusstseins, das die Erscheinungen von Syriza, Corbyn, Podemos und Sanders erzeugt hat, kann sich in Richtung einer Anpassung an den Kapitalismus, aber genau so in Richtung Widerstand entwickeln.

Und eine Parallele zur Vergangenheit ist gleichfalls lehrreich: das was nach dem Ersten Weltkrieg geschah. Die gegenwärtige ökonomische Sackgasse kann vielleicht ein weniger dramatischer Fluch des Kapitalismus sein, als eine Massenschlächterei in den Schützengräben. Aber die grundlegenden Optionen, die in eine Spaltung der Sozialdemokratie und die Herausbildung von revolutionären Massenparteien führten können erneut hervortreten. Dies hängt zu einem grossen Teil von den Interventionen der Revollutionäre ab und wie diese über eine Einheitsfront zusammenarbeiten.

Referenzen

BBC News, 2016, “McDonnell vows ‘Responsible’ Rules to Control Labour Spending” (11 March), www.bbc.co.uk/news/uk-politics-35783047

Corbyn, Jeremy, 2015, “Labour Press Speech by Jeremy Corbyn to Labour Party Annual Conference 2015” (29 September), http://press.labour.org.uk/post/130135691169/speech-by-jeremy-corbyn-to-labour-party-annual

left.gr, 2013, “The political resolution of the 1st congress of SYRIZA” (5 August), https://left.gr/news/political-resolution-1st-congress-syriza

Quelle : International Socialist Review vom Juli – September 2016 Übersetzung Redaktion maulwuerfe.ch

 

[i] www.marxists.org/history/international/social-democracy/1903/dresden-resolution.htm#amsterdam

[ii] BBC News, 2016.

[iii] Das Vertrauen in die Verstaatlichung darf nicht verwechselt werden mit defensiven Verstaatlichungen, wie sie seit 2008 in den Regierungen verbreitet waren. Diese wurden ausdrücklich getätigt, um den Zusammenbruch von «systemrelevanten» Sektoren zu vermeiden.

[iv] left.gr, 2013.

[v] Corbyn, 2015.

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