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Rechter „Rocktober“ im schweizerischen Unterwasser

Eingereicht on 27. Oktober 2016 – 18:30

5000 Neonazis, 100 000 Franken und die Untätigkeit der Behörden: Das »Rocktoberfest« im schweizerischen Unterwasser. Eine Recherche

info.antifa.ch. In der Nacht vom 15. auf den 16. Oktober 2016 fand in Unterwasser (Kanton St. Gallen) ein Neonazikonzert in einem (für die Schweiz) bisher unbekannten Ausmaß statt. Bereits Monate im Voraus riefen die Veranstalter_innen aus dem Umfeld des internationalen Neonazinetzwerkes Blood & Honour (B&H) über die sozialen Medien zum sogenannten »Rocktoberfest« auf. Letztlich reisten über 5000 Neonazis aus ganz Europa in das beschauliche Toggenburger Unterwasser.

Mit Exzess (DE), MaKss Damage (DE), Amok (CH), Confident of Victory (DE), Frontalkraft (DE) und Stahlgewitter (DE) setzte sich das Lineup zwar aus einschlägig bekannten Szenegrößen zusammen, im Vergleich zu den bekannten Rechtsrockkonzerten der letzten Jahre, hatte die Dimension des Konzerts aber auch Szenekenner_innen überrascht. Die Strukturen, Verbindungen und Kontakte, um einen solchen Event durchführen zu können, entstehen nicht über Nacht. Deshalb kann das »Rocktoberfest« nicht isoliert als einzelner Anlass betrachtet, sondern muss in einen größeren Kontext gestellt werden. Die folgenden Ausführungen beschränken sich jedoch insbesondere auf die Verbindungen zwischen der rechten Szene in Thüringen und der Schweiz, welche für das Gelingen des Konzertes maßgebend waren.

Wer hinter dem »Rocktoberfest« steckt

Auf dem Flyer, welcher über Monate in sozialen Medien kursierte, fand sich als Hinweis auf die Organisator_innen des »Rocktoberfestes« vorerst einzig das Logo des Zeughaus-Versandes. Dabei handelt es sich um einen rechten Onlineversand aus Deutschland, der vorwiegend Nachpressungen von vergriffenen Rechtsrock-CDs in Vinyl anbietet und unter anderem CDs der am 15. Oktober 2016 aufgetretenen Bands vertreibt. Um an ein Ticket zu kommen, mussten interessierte Konzertbesucher_innen eine Mail an die Adresse live.im.reich(at)mail.de schicken, wonach ihnen die Daten für ein deutsches Konto zugeschickt wurden – hierauf mussten sie im Voraus das Geld für die Eintrittskarten überweisen. Unterzeichnet war diese Mail von einer Gruppe, die sich »Reichsmusikkammer« nennt. Gegenüber der Schweizer Nachrichtensendung 10vor10 gab diese an, ein Komitee von Bands aus ganz Europa zu sein, deren Auftritte in europäischen Ländern untersagt oder erschwert würden.

Gemäß den Recherchen des Blogs thüringenrechtsaußen gehört das deutsche Konto, über welches die Gelder flossen, dem Thüringer Neonazi David Heinlein und wurde bereits für das »Rock gegen Überfremdung« im August 2016 in Kirchheim (Thüringen) genutzt. Ebenfalls aus Thüringen stammt Mario Kelch, der – zusammen mit anderen – in den Tagen vor dem Event die Nummer des Infotelefons verbreitete, welches die Besucher_innen zum Konzertort lotsen sollte. Kelch ist Mitglied bei der B&H-nahen Band Sonderkommando Dirlewanger (SKD) und aktiver Unterstützer der Angeklagten im sogenannten »Ballstädt-Prozess«.

Der »Ballstädt-Prozess«

Gegenstand des »Ballstädt-Prozesses« bildet der organisierte Überfall auf eine geschlossene Kirmesgesellschaft in der Nacht vom 8. auf den 9. Februar 2014. Rund 20 Vermummte waren damals in Ballstädt (Thüringen) in den Gemeindesaal eingedrungen und verletzten zehn Personen teils schwer. Seit Dezember 2015 läuft gegen 15 angeklagte Neonazis, 14 Männer und eine Frau, der Prozess am Landgericht Erfurt.

Bereits kurz nach der Inhaftierung der ersten Tatverdächtigen wurde ein Spendenkonto eröffnet. Es sollte Geld für die anfallenden Verteidigungskosten sowie für das »Gelbe Haus« in Ballstädt gesammelt werden. Das »Gelbe Haus« ist eine ehemalige Bäckerei, die seit 2013 von Neonazis als Wohn- und Veranstaltungsort genutzt wird. Prominenter Bewohner des Hauses und Hauptangeklagter im »Ballstädt-Prozess« ist Thomas Wagner. Er ist 41-jährig, spielte in verschiedenen rechtsextremen Bands, war unter anderem Sänger von SKD und betreibt den Onlineversand »Frontschwein Records«. Auch Steffen Richter verkehrt im »Gelben Haus«. Er gilt als enger Vertrauter und Koordinator der Unterstützungsaktionen für Ralf Wohlleben, Angeklagter im NSU-Prozess. Zudem wurde das erwähnte Konzert in Kirchheim von Steffen Richter angemeldet; gleichzeitig fungiert er im Zusammenhang mit dem »Rocktoberfest« als Betreuungsperson für die Mailadresse der »Reichsmusikkammer«.

Einzelne Verbindungen ergeben letztlich ein Ganzes

Das Konzert in Unterwasser reiht sich in eine Serie von Soli-Veranstaltungen ein, welche von den Angeklagten und ihrem Umfeld organisiert wurden – auch mit Beteiligung aus der Schweiz. So trat beispielsweise Amok, die wohl bekannteste Schweizer Rechtsrockband, am »Rocktoberfest« als einzige nicht-deutsche Band auf. Der Mitbegründer und Sänger der Band, Kevin Gutmann, wohnt wie der Thüringer Neonazi Matthias (Matze) Melchner, in Rüti (Kanton Zürich). Weiter war nachträglich bekannt geworden, dass Letzterer die Tennis- und Eventhalle in Unterwasser angemietet hatte. Melchner arbeitet im Tattoostudio Barbarossa (Kanton St. Gallen), unterhält gute Kontakte in die deutsche Neonaziszene und hatte sich schon vor dem »Rocktoberfest« mit der Produktion von Solishirts, welche über das Tattoostudio verkauft wurden, an der Ballstädter Unterstützer_innenstruktur beteiligt. Weiter tätowierte die Crew von Barbarossa Tattoo im Herbst 2015 in Thüringen und Melchner ist als Domaininhaber des von Thomas Wagner betriebenen Onlineversandes »Frontschwein Records« eingetragen. Vor einigen Jahren hatte sich auch Steffen Richter noch an diesem Versand beteiligt.

Internationale Zusammenarbeit

Die Verbindungen zwischen der Schweizer und der Thüringer extremen Rechten beschränken sich jedoch weder auf den individuellen Kontakt mit Melchner noch auf das »Rocktoberfest«. Vielmehr nimmt B&H Schweiz in der internationalen Vernetzung einen aktiven Part ein: So forderten sie nach internen Querelen im Herbst 2012 gemeinsame Treffen und verstärkte Aktivitäten der Gruppierung in ganz Europa sowie eine engere Vernetzung mit ihrem militant-terroristischen »Flügel« Combat 18 (C18). Das erste dieser Vernetzungstreffen fand 2013 in der Schweiz statt; wonach auch in ganz Europa zunehmend Aktivitäten unter dem gemeinsamen Label B&H/C18 stattfanden.

Ebenfalls 2013 erschien die erste CD der Band »Erschießungskommando«, ein Gemeinschaftsprojekt von Mitgliedern von Amok und SKD, die beide als B&H-Bands gelten. Das neueste Album mit dem Titel »Blut und Ehre« wurde am 16. Oktober 2016 – nur einen Tag nach dem Event in Unterwasser – veröffentlicht und beinhaltet Lieder wie »Hail C18« oder »Ist uns doch egal, ob der N[…] verreckt«.

In den letzten Jahren waren Thüringer Neonazis mehrere Male im Zürcher Oberland zu Besuch und einige von ihnen zogen gar für gewisse Zeit in die Schweiz. Unter ihnen Marcus Russwurm, seines Zeichens Model für die Neonazi-Kleidermarke Ansgar Aryan und ebenfalls Mitangeklagter im Ballstädt-Prozess. Er wohnte während längerer Zeit gemeinsam mit Alexander Gorges und Erika Pavano in einer Neonazi-WG in Wallisellen (Kanton Zürich).

Konzertparadies Schweiz

Da Rechtsrockkonzerte – auch wegen fehlender Rechtsgrundlagen – selten in irgendeiner Form geahndet werden, gilt die Schweiz in der Szene als Konzertparadies. Entsprechend wenig erstaunlich ist die Aussage der – als Organisatorin fungierenden – »Reichsmusikkammer« gegenüber 10vor10, wonach die Schweiz als Durchführungsort ausgewählt wurde, weil hier »die Meinungsfreiheit gelte und geschützt werde«. Gemeint dürfte hiermit die Praxis der Schweizer Sicherheitsbehörden sein, rechtsradikale Konzerte als Privatveranstaltungen abzutun; wie auch jetzt wieder beim »Rocktoberfest« – trotz der 5000 Teilnehmenden. Relevant ist dies, weil die schweizerische Rassismus-Strafnorm (Art. 261bis StGB) lediglich Diskriminierung unter Strafe stellt, die in der Öffentlichkeit stattfindet. Somit ist zum Beispiel das Zeigen des Hitler-Grußes nicht verboten, solange dies im »privaten Rahmen« stattfindet. Weiter ist das Tragen von Hakenkreuzemblemen in der Schweiz grundsätzlich nicht strafbar und die Indizierung einzelner Lieder oder Alben im Ausland stellt für das Bundesamt für Polizei keine genügende Grundlage dar, Einreisesperren für Bands zu verfügen.

Obwohl der Nachrichtendienst des Bundes die Kantonspolizei St. Gallen über das bevorstehende Konzert informiert hatte, konnte dieses ohne Weiteres über die Bühne gehen. Im Nachgang sträubte sich die Polizei zunächst sogar hartnäckig, öffentlich von einem Neonazi-Konzert zu sprechen. Demgegenüber bestätigte der Gemeindepräsident, welcher sich vor Ort ein persönliches Bild von den Besucher_innen und der Musik gemacht hatte von Anfang an, es sei ohne Schwierigkeiten festzustellen gewesen, dass es sich bei den Teilnehmer_innen um Zugehörige der rechtsradikalen Szene gehandelt hatte. Auch die Musikfetzen, die er trotz Lautstärke und Gegröle verstanden habe, seien zweifelsfrei zuzuordnen gewesen. Die Polizei will jedenfalls keine Straftaten – namentlich Verstöße gegen die Rassismus-Strafnorm – festgestellt haben. Immerhin haben die meisten Medien ausnahmsweise, wahrscheinlich schockiert über die Größe des Konzerts, aufmerksam dem Twitter der Antifa Bern (@antifa_bern) folgend, prominent über den Neonazi-Anlass berichtetet.

Auch wenn solche Konzertabende in der Regel »ohne Zwischenfälle« verlaufen – wie die Polizei gerne betont –, steckt hinter derartigen Anlässen immer weit mehr. Vor diesem Hintergrund erscheinen die nachträglichen Aussagen von Anwohner_innen, die Rechtsextremen seien alle höflich gewesen und hätten sogar ihren Müll gewissenhaft entsorgt, nicht nur zynisch, sondern als Ausdruck brandgefährlicher Akzeptanz gegenüber rechtsradikalem Gedankengut.

Ein profitables Ergebnis

Konzerte dienen der extremen Rechten als wichtige Vernetzungsplattform, der Bindung von Nachwuchs und zur Finanzierung ihrer Strukturen. Beim »Rocktoberfest« handelte es sich um einen der größten Neonazi-Events, welcher in der Schweiz je stattgefunden hat. Es waren Szeneangehörige aus der Schweiz, Deutschland, Österreich, der Niederlande, England, Polen, Tschechien und Russland vertreten.

Insbesondere die finanzielle Bedeutung der Veranstaltung darf aber nicht unterschätzt werden. Mit Eintritt, Bareinahmen, dem Verkauf von Merchandiseartikeln und dem Absatz – teilweise indizierter – Tonträger dürfte sehr viel Geld generiert worden sein. In Unterwasser haben die Konzertgänger_innen pro Ticket 30 Euro, pro Bier 3.50 Euro und pro Wurst mit Semmel 5 Euro bezahlt. Bei einem Anlass dieser Grösse kann somit, auch nach Abzug der verschiedenen Ausgaben (Technik, Bands, Saalmiete, etc.) gut und gerne von über 100’000 Franken Gewinn ausgegangen werden. Geld, welches wiederum in die Neonazistrukturen fließt. So werden weitere Tonträger oder Untergrundmagazine, aber auch die Beschaffung von Waffen finanziert. Beim »Rocktoberfest« ist diesbezüglich vom mit Abstand größten Unterstützungsanlass für die Prozesskosten im »Ballstädt-Prozess« – und wahrscheinlich die Unterhaltskosten für das »Gelbe Haus« – auszugehen.

Schulterschluss unter Kamerad_innen

Insgesamt offenbarte sich im Toggenburg das Ergebnis der verstärkten internationalen Zusammenarbeit. Unter Berücksichtigung der vergleichsweise geringen Größe der bisher in der Schweiz organisierten Konzerte, ist nicht anzunehmen, dass die Schweizer B&H-Strukturen eine Veranstaltung wie das »Rocktoberfest« ohne tatkräftige Unterstützung aus dem Ausland hätten durchführen können. Dies zeigt bereits die Tatsache, dass nicht nur Besucher_innen und Bands, sondern auch Helfer_innen aus dem Ausland angereist waren.

Zudem steht bald ein nächster Großanlass der Neonazis an. Am 19. November 2016 soll in Mailand (I) ein gemeinsames Konzert von B&H und den Hammerskins stattfinden. Wie der Flyer hervorhebt, arbeiten die – historisch verfeindeten – internationalen Netzwerke zusammen und es ist entsprechend wiederum mit einem großen Andrang zu rechnen.

Quelle: lowerclassmag.com… vom 27. Oktober 2016

 

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