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Das Ende der Arbeiter*innenbewegung?

Eingereicht on 10. Februar 2018 – 9:39

In den 1970er-Jahren erkämpfte in den USA eine starke Gewerkschaftsbewegung mit dem Mittel des Streiks viele Zugeständnisse von den Bossen. Über 400 Streiks mit mehr als 1000 Arbeiter*innen zählten die USA etwa im Jahre 1974. Die historische Niederlage der Arbeiter*innenbewegung mit der Präsidentschaft Reagan und dem darauffolgenden neoliberalen Klassenkampf von oben zeigt sich noch bis heute, wo es gerade noch zu etwa einem duzend Streiks pro Jahr kommt. Vielfach wurde daher das Ende der organisierten Arbeiter*innenmacht proklamiert, auch im Zusammenhang mit post-fordistischen Produktionsverhältnissen und einem steigenden Dienstleistungssektor. Ein neues Buch von Kim Moody zeigt mit empirischen Daten und theoretischen Überlegungen aber genau das Gegenteil: dass nämlich das Potential für Arbeitskämpfe gerade auch in neueren Industriezweigen äusserst günstig ist und das alte Credo „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm das will“ nach wie vor Geltung hat. (Red BfS)

Dennis Kosuth. Wenn Du es satt hast, Trump bei einem politischen Fehler nach dem anderen zuzusehen und sich zu fragen, ob dies jemals enden wird, stell Deinen Social Media-Feed stumm und lies Kim Moodys neuestes Buch: On New Terrain: How Capitalism is Reshaping the Battleground of Class War [i]. Während das Buch nicht vorhersagt, wann unsere Seite zurückschlagen wird, zeigt es klar auf, wie grundlegend die US-amerikanische Arbeiter*innenklasse für soziale Veränderungen bleibt. Für diejenigen, die der marx‘schen Ansicht folgen, dass die Emanzipation der Arbeiter*innenklasse ein Akt der Arbeiter*innenklasse selbst sein soll, gibt es in den vergangenen 40 Jahren nicht gerade unzählige Beispiele, die diese potenzielle Macht demonstrieren. Der jahrzehntelange einseitige Klassenkampf von oben nach unten hatte katastrophale Folgen für die arbeitende Bevölkerung, welche sich meistens mit der Verteidigung von Errungenschaften herumschlagen musste und deshalb von einer offensiven Herangehensweise und einem fundamentalen Wandel der Gesellschaft weit entfernt war. Verschiedene Theorien, warum dies passiert ist, wurden auf der linken Seite vorgestellt. Einige behaupten, dass der erodierende industrielle Sektor die materielle Basis für die Arbeiter*innenkämpfe in diesem Land zunichtegemacht habe. Dies wurde auch mit einer Verschiebung hin zu einer „Dienstleistungsökonomie“ erklärt, wo weniger Arbeiter*innen greifbare Dinge produzieren und mehr Arbeiter*innen nicht greifbare Arbeit leisten.

Diese Sichtweise wird durch eine neue soziale Kategorie ergänzt: das Prekariat [ii] – ein Amalgam aus den Begriffen prekär und Proletariat. Der Begriff soll eine Arbeiter*innenklasse beschreiben, die von Beruf zu Beruf wechselt, über keine Krankheits- oder Urlaubstage verfügt und nur wenige Rechte hat. Für Marx hätten diese Menschen aber wohl einfach zur Arbeiter*innenklasse gezählt, oder wie Moody schreibt: „Für Marx und Engels war Prekarität im weitesten Sinne der normale Zustand der Arbeiter*innenklasse.“ Moody bestreitet nicht, dass sich einige Dinge von früheren Perioden unterscheiden. Aber die Tatsache, dass sich Wirtschaft und Arbeitskräfte auf unterschiedliche Weise verändert haben, bedeutet nicht automatisch, dass wir völlig neue Theorien brauchen, um sie zu verstehen, geschweige denn neue Methoden, um den Umsturz des Kapitals zu erreichen. Die Stärke von On New Terrain ist seine Fähigkeit, den Marxismus zu nutzen, um zu verstehen, was an der aktuellen Wirtschaft anders ist und wie die Arbeiter*innen immer noch die kollektive Fähigkeit besitzen, dieses kapitalistische System zu Fall zu bringen.

Das Buch besteht aus drei Abschnitten, von denen jeder ein grosses Studiengebiet bearbeitet. Der erste Teil diskutiert, wie und in welchem Masse die Arbeiter*innenklasse durch das Kapital erneuert wurde. Der zweite untersucht Veränderungen des Kapitals und was dies für den Klassenkampf bedeutet. Die letzten zwei Kapitel analysieren das politische Terrain und enden mit Strategien, die wir zur Veränderung des Status Quo anwenden können.

Im Anfangskapitel geht Moody auf eine verbreitete Meinung ein, wonach Importe und das Offshoring der Produktion die Hauptursachen für den Niedergang der US-Industrie seien. Dies enthalte eine Spur Wahrheit. Doch sieht Moody eine viel wichtigere Ursache: „Eine gewichtigere Erklärung für die Verluste von Arbeitsplätzen der letzten dreißig Jahre […] ist im Anstieg der Produktivität nach 1980 durch die Einführung von schlanken Produktionsmethoden und neuen Technologien sowie der beschleunigten Gegenoffensive des Kapitals gegen die Arbeit zu finden.“ Mit empirischen Beweisen erklärt er den Anstieg von Dienstleistungsjobs als das Resultat einer Kommodifizierung von Tätigkeiten, die von Frauen zuvor hauptsächlich als unbezahlte Arbeit im Haushalt geleistet wurden. Während die unbezahlte soziale Reproduktionsarbeit keineswegs verschwunden ist, hat der Kapitalismus profitiert, indem er diese Arbeit in Niedriglohn-Dienstleistungsjobs umgewandelt hat, die immer noch hauptsächlich von Frauen ausgeübt werden. In Bezug auf die Debatte über die Prekarisierung argumentiert Moody, dass diese grössere Veränderungen übersehe, nämlich einen bedeutenden „Rückgang des Lebensstandards und der Arbeitsbedingungen, den die große Mehrheit dieser Klasse erlebt“. Die Reichen sind reicher geworden, aber nicht nur durch geringere Löhne und Sozialleistungen, sondern auch dadurch, dass wir härter und länger arbeiten. Moody beendet diesen Abschnitt, indem er beschreibt, wie sich die Zusammensetzung der Arbeiter*innenklasse in den letzten 50 Jahren verschoben hat. Die lohnabhängige US-amerikanische Arbeiter*innenklasse ist jetzt zu 35 Prozent schwarz, lateinamerikanisch und asiatisch, und diese Arbeiter*innen sind unverhältnismässig stark in städtischen Gebieten konzentriert. Frauen machen jetzt 46 Prozent aller Gewerkschaftsmitglieder aus. Moody weist darauf hin, dass die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern und den Ethnien fortbestehen, während die Belegschaft stärker integriert ist, und dass diese Ungleichheiten nach wie vor die grössten Konfliktlinien innerhalb der Arbeiter*innenklasse darstellen. Trotz dieser Bruchlinien gab es in den letzten Jahren einige sehr grosse Streiks, die mehrheitlich von Frauen und ausserhalb der „Kernindustrien“ geführt wurden: Der monatelange Streik der Pennsylvania Association of Staff Nurses und Allied Professionals im Jahr 2010 [iii] und der Streik der Chicago Teachers Union 2012.[iv]

Im zweiten Abschnitt analysiert Moody Veränderungen im Kapital. Moody bleibt bei seinen Behauptungen dabei stets eng an der Empirie, die mehr als genug Beweise für seine Thesen liefert. Er skizziert einen allgemeinen Trend der Kapitalkonsolidierung in größere Firmen als Ergebnis eines verstärkten Wettbewerbs zwischen Firmen. Dieser Trend hat zu grösseren Kapital-Arbeits-Verhältnissen geführt. In der Gesundheitsindustrie zum Beispiel betrug der Anstieg der Nutzung technologischer Ausrüstung zwischen 1992 und 2012 175 Prozent. Dies bedeutet einen höheren Anteil an maschineller Produktion pro Arbeiter, was den Arbeiter*innen eine grössere potenzielle Macht über das Kapital gibt. Moody zitiert den marxistischen Ökonom Anwar Shaikh: „Die kapitalintensiven Industriezweige werden ausserdem tendenziell hohe Fixkosten aufweisen, die sie anfälliger für die Auswirkungen von Verlangsamungen und Streiks machen. Gleichzeitig dürften die Arbeitskosten einen geringeren Anteil an ihren Gesamtkosten ausmachen – solche Branchen sind eher in der Lage, Lohnerhöhungen zu tolerieren.“ Ein ganzes Kapitel widmet sich der Analyse der Logistikbranche und ihrer Position in der aktuellen Wirtschaft. Weil sie ein wichtiger Teil der Produktionslinie des Kapitals sind, müssen Logistikarbeiter*innen laut Moody als Teil des „industriellen Kerns“ der Arbeiter*innenklasse betrachtet werden, wie dies vom sozialistischen Autor Hal Draper bereits vor vielen Jahren gefordert wurde. In den USA sind es 3,5 Millionen Lohnabhängige, die zu Hunderttausenden in Lager- und Transportbezirken arbeiten. Da sie meist in urbanen Gebieten leben, entsprechen sie auch der Demografie der Städte, in denen sie wohnen.

Mit zunehmendem Wettbewerb, fortschrittlicher Technologie und der Logistikrevolution fanden sich immer mehr Arbeiter*innen in einer globalen Lieferketten gefangen“, schreibt Moody. „Diese Ketten können jedoch gebrochen werden. Nebst ihrer Interkonnektivität sind sie aufgrund ihrer stark von der Zeit abhängigen Produktionsform extrem anfällig für die direkte Aktion der Arbeiter*innenklasse.“ Der Abschnitt schliesst mit einer Diskussion darüber, wie die Konturen eines „kommenden Widerstands“ aussehen könnten. Moody betrachtet die Beziehungen zwischen Konjunkturzyklen, Streikwellen, der Basisorganisation und der Gewerkschaftsbürokratie und sieht allgemein ein hohes Mass an Ärger und Frustration in der gesamten Gesellschaft. Was fehlt ist allerdings eine kämpferische Basisbewegung.

Der letzte Abschnitt des Buches greift folgende Frage auf: „Woher kommt die grosse Kluft zwischen Bewusstsein und Organisation?“ Der Republikanischen Partei ist es gelungen, durchgängig 40 Prozent der insgesamt zwar schrumpfenden Zahl von Stimmen von Gewerkschaftsmitgliedern zu gewinnen. Moody argumentiert, dass dies nicht nur eine Folge der Anziehungskraft der republikanischen Politik auf einige Arbeiter*innen, sondern genauso dem Ekel gegenüber der demokratischen Partei und ihrem ebenso neoliberalen Programm geschuldet sei. Moody beschreibt, wie die Grossunternehmen auf allen Regierungsebenen vertreten sind und wie die dem Kapitalismus innewohnende wirtschaftliche Ungleichheit vom Staat in vielfältiger Weise vehement verteidigt wird. Er leistet besonders gute Arbeit, indem er erklärt, wie die repressive Law-and-oder-Politik von beiden Parteien angenommen wird und direkt im Zusammenhang steht mit Polizeigewalt und den massenhaften Einsperrungen und Morden an Schwarzen und Latinos. Moody benennt und verurteilt den Rassismus im ganzen Buch, aber er erklärt nicht ausdrücklich, wie Rassismus „spaltet um zu beherrschen“, wie Frederick Douglass [ehemaliger Sklave und wichtiger Kämpfer für die Abschaffung der Sklaverei aus dem 19. Jahrhundert, Anm. d. Red.] den Nutzen des Rassismus für die Sklavenhalter kurz und bündig beschrieb. Literatur dazu, wie der Kapitalismus Unterdrückungsverhältnisse inkorporiert und für sich nutzbar macht, gibt es aus marxistischen Kreisen aber bereits zuhauf.

Die beiden mittleren Kapitel des letzten Abschnitts diskutieren, wie das politische System gegen „third Parties“ manipuliert wird. Zudem wird die zwar alte, aber immer noch wichtige Frage besprochen, ob die Linke es versuchen sollte, die Demokratische Partei zu übernehmen, um ihr Engagement für das neoliberale Projekt zu durchbrechen. Moody bezeichnet eines der Kapitel „The Democratic Party Cul-de-sac“ (Die Sackgasse der Demokratischen Partei), was keine Zweifel bezüglich seiner Antwort auf die Frage zulässt. Entsprechend seiner Methode behandelt Moody die Frage jedoch nicht leichtfertig und er liefert zahlreiche und sorgfältig gewählte Beweise, um seine Ansichten zu belegen. So beschreibt er die undemokratische Struktur der Partei und die Klasseninteressen, die hinter riesigen Parteispenden stehen, um klar zu machen, wen die Demokratische Partei tatsächlich vertritt. Der Nutzen der Demokraten für die herrschende Klasse liegt gerade in ihrer Fähigkeit, sich als progressive Alternative darzustellen, was unterstreicht, wie vergeblich alle Bemühungen um eine grundlegende Änderung der Partei waren und sein werden. Moody schreibt: „Es ist gerade ihre Fähigkeit, die Anführer*innen und Aktivisten*innen der sozialen Bewegungen und der organisierten Arbeiterschaft anzuziehen und zu absorbieren, die sie zu einem ‚Friedhof der sozialen Bewegungen’ macht. Wenn es in der Vergangenheit Veränderung gab und sich die Machtverhältnisse verschoben, dann war es stets aufgrund massiver gesellschaftlicher Umwälzungen und sozialen Bewegungen. Die Absorption in die Politik der Demokratischen Partei geschah hauptsächlich, als die Anführer*innen solcher Bewegungen später versuchten, durch den traditionellen politischen Prozess Erfolge zu erzielen. Die Partei, die sie zu ändern versuchten, erfüllte aber niemals die Forderungen oder Hoffnungen der Bewegungsanführer*innen und Aktivisten*innen.“

Das Buch endet mit einem Aufruf zum Handeln. Der moderne Kapitalismus hat uns nicht die Macht genommen, uns selbst zu organisieren, meint Moody. Wir sollten uns nicht auf die politischen Lösungsstrategien beschränken, die unsere Unterdrücker anbieten, sondern das Projekt eines Aufbaus von eigenen Strukturen und Organisationen zur Befreiung erneuern. On New Terrain hält mit einer überzeugenden Argumentation an revolutionärer Politik fest, nicht auf der Grundlage von Hoffnung und Vermutungen, sondern mit konkreten Beweise aus der Vergangenheit und der Gegenwart.

Quelle: sozialismus.ch… vom 10. Februar 2018


[i] https://www.haymarketbooks.org/books/1106-on-new-terrain

[ii] https://socialistworker.org/2012/03/01/rise-of-the-precariat

[iii] https://socialistworker.org/2010/04/07/philly-nurses-on-strike

[iv] https://socialistworker.org/2017/09/14/when-the-teachers-turned-chicago-union-red

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