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Nervosität in Kiew

Eingereicht on 18. November 2016 – 11:34

Proteste von Lehrern, Gewerkschaftern und Bankkunden in der Ukraine. Regierung sieht »russische Destabilisierungskampagne« während die Anzeichen klar in Richtung Aufstand gegen die vom Westen geforderten

«Reformen» und gegen die verbreitete Korruption weisen.

Reinhard Lauterbach. Seit einigen Tagen hängt ein Hauch von »drittem Maidan« in der Kiewer Luft. Tausende Demonstranten blockieren Straßen im Regierungsviertel, die vom Euromaidan kreierte Parole »Weg mit der Bande« wird wieder gerufen, vorgezogene Neuwahlen werden gefordert. Am heutigen Freitag soll eine Großdemonstration gegen die drastische Erhöhung der Kommunalabgaben für Heizung, Warmwasser und Strom folgen. Zu Beginn der Heizsaison wurden die Preise um 70 bis 90 Prozent angehoben.

Die Proteste sollen nach dem Willen ihrer Organisatoren wenigstens bis zum dritten Jahrestag des Euromaidan am kommenden Mittwoch weitergehen. Mindestens zehn Gruppen haben angekündigt, die Aktionen zum Jubiläum noch zu verstärken. Unter anderem plant auch der »Rechte Sektor«, seine Leute von der Front nach Kiew zu holen. Die Polizei zog Kräfte zusammen und versucht, durch das Aufstellen von Metalldetektoren an den Kundgebungsorten zu verhindern, dass Waffen mitgebracht werden. Bisher ist sie nicht gewaltsam gegen die Proteste vorgegangen.

Die Administration von Präsident Petro Poroschenko reagiert nervös. Regierungsvertreter zitieren einen angeblich vom ukrainischen Geheimdienst aufgedeckten Plan Russlands zur politischen Destabilisierung des Landes. Ziel sei es, im Wege von Neuwahlen eine Moskau gewogene Regierung zu bilden. Ein Abgeordneter forderte, der hinter den Protesten vermuteten Exministerpräsidentin Julia Timoschenko die ukrainische Staatsbürgerschaft zu entziehen. Sie sei von Moskau gekauft, um der Ukraine »Kuckuckseier« ins Nest zu legen.

Auf der Oberfläche handelt es sich um jeweils vereinzelte, branchenbezogene Konflikte. Lehrer protestieren gegen ihre niedrige Bezahlung, Kunden von Banken, die die Nationalbank im Zuge der »Reformen« hat bankrott gehen lassen, verlangen ihr Geld zurück. Und die Regierung versucht fieberhaft, diese Einzelkonflikte zu befrieden. Den Lehrern versprach Bildungsministerin Lilia Grinewitsch für das kommende Jahr Gehaltserhöhungen um bis zu 50 Prozent, am Mittwochabend unterzeichnete Präsident Poroschenko bei einem Treffen mit einer Delegation der Bankkunden ein Sondergesetz, mit dem aus dem Staatshaushalt umgerechnet 40 Millionen Euro zusätzlich in den Einlagensicherungsfonds verlagert werden, um die verlorenen Ersparnisse auszuzahlen. Die allgemeinen Vorschriften garantieren lediglich die Erstattung von Bankguthaben bis zu umgerechnet 6.900 Euro. Wirtschaftsexperten kritisierten die Entscheidung als »billigen Populismus«, der einer lautstarken Gruppe relativ wohlhabender Ukrainer Steuergelder der »einfachen Bürger« in den Rachen werfe.

Unübersehbar ist, dass Timoschenko versucht, die soziale Unzufriedenheit für ein Comeback zu nutzen. Ihre Vaterlandspartei würde nach Umfragen am meisten von vorgezogenen Neuwahlen profitieren. Timoschenko hat die »Ausplünderung des ukrainischen Volkes« zum Hauptthema der Herbstkampagne ihrer Partei erklärt. Poroschenko und die Spitze der Nationalbank – die in den vergangenen Monaten gut 80 Banken für zahlungsunfähig erklärt und geschlossen hat – seien Spitzen eines Eisbergs der Korruption. Solche Parolen kommen gut an bei einer Bevölkerung, die nach einer Studie von Transparency International zu knapp zwei Dritteln davon überzeugt ist, dass die Staatsmacht korrupt ist. Die Werte unterscheiden sich dabei kaum danach, ob nach dem Präsidenten, den Abgeordneten oder dem kleinen Streifenpolizisten gefragt wird.

Zu einer Zeit, zu der sich die Debatte über die Ende Oktober abgegebenen Vermögenserklärungen der ukrainischen Politiker noch nicht wieder beruhigt hat, kommen immer neue Einzelheiten zu womöglich verschwiegenen Reichtümern ans Licht. Die politische Demontage kommt dabei durchaus nicht aus Russland. Es war der US-Sender Radio Liberty, der vor wenigen Tagen über ein luxuriöses 14-Zimmer-Anwesen an der Costa del Sol berichtete, das einer von Poroschenko kontrollierten Firma gehöre und in dem nach Zeugenaussagen der Präsident regelmäßig Urlaub mache. Poroschenkos Erklärung, das Haus gehöre ja eben der Firma und nicht ihm selbst, machte da wenig Eindruck.

Quelle: Junge Welt vom 18. November 2016

 

 

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