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Endkampf in Syrien?

Eingereicht on 7. September 2017 – 8:32

Ruediger Rauls. Es ist nicht mehr zu übersehen, dass die syrische Führung unter Assad sich mit russischer Unterstützung immer mehr im diesem Bürgerkrieg durchsetzt. Immer größere Teile des syrischen Staatsgebiets gelangen wieder unter ihre Kontrolle. Einerseits wurde der IS „fast vollständig aus den zentral-syrischen Provinzen Homs, Hama und Aleppo-Land“ vertrieben und „Dutzende von Gas- und Ölfeldern wurden zurückerobert“ (Luxemburger Wort (LW) vom 24.8.2017: Syriens Zukunft liegt „im Osten“). In der Provinz Rakka wurde der Zugang zum Euphrat erkämpft, was „die Strom- und Wasserversorgung des Landes“ erleichtert (ebenda) und damit die Lebenssituation der Menschen verbessert. Andererseits haben die USA die Unterstützung „ihrer“ Rebellen eingestellt, Eingeständnis der Aussichtslosigkeit der westlichen Strategie, mit diesen Kräften einen Regime-Wechsel in Syrien erzwingen zu wollen.

In dieser Entwicklung zeigt sich, dass das westliche Mantra, dieser Konflikt könne nur politisch gelöst werden, sich als Fehleinschätzung der Lage und der Aussichten herausgestellt hat. Letztlich entscheiden die Waffen über den Ausgang des Konflikts. Oder hatte es sich bei diesem Appell zur friedlichen Lösung mal wieder nur um eine Täuschung der Öffentlichkeit gehandelt? Hätte man deren Unterstützung erhalten für einen offen militärischen Feldzug gegen Assad? Wohl kaum! Aber eine politische Lösung aus einer Position der Stärke herbeizuführen, war ein Standpunkt, der von vielen geteilt wurde und auch Zustimmung bei fand denen, die weder für Assad noch für den Westen Partei ergreifen wollten.

Jedoch stand diese öffentlich zur Schau gestellte Bereitschaft zu einer politischen Lösung in krassem Widerspruch zur Weigerung des Westens, direkte Gespräche mit Assad zu führen, der immerhin der bedeutendste und einflussreichste Vertreter der syrischen Gesellschaft ist. Wie will man zu friedlichen Lösungen kommen, wenn man mit den maßgeblichen Kräften der Gegenseite nicht verhandeln will? Und während die Westliche Wertegemeinschaft (WWG) den Aufruf zur politischen Lösung ständig wie eine Monstranz vor sich hertrug, setzte sie im Hintergrund alles dafür ein, das syrische Regime militärisch zu vernichten.

Die Forderung nach einer politischen Lösung war eine Nebelkerze. Es ging auch für die WWG um den militärischen Sieg. Denn nur der garantiert, dass der Unterlegene die neue Ordnung nicht mehr bedrohen kann. Sind das die westlichen Werte, für deren Umsetzung die WWG sich überall auf der Welt einzusetzen vorgibt? Im Nahen Osten scheinen sie weitgehend abgelehnt zu werden. Sollen sie nun trotzdem durchgesetzt werden, notfalls mit Krieg?

Trotz der Entwicklung der letzten Wochen ist die Schlagzeile des Luxemburger Wortes vom 24.7. vielleicht etwas verfrüht: „Putin und Assad als Sieger“. Zwar sind die vom Westen unterstützten Rebellen nach ihrer Niederlage in Ost-Aleppo entscheidend geschwächt und in den Deeskalationszentren isoliert und unter Kontrolle. Auch haben CIA und die amerikanische Administration als Folge dieser Entwicklung bekannt gegeben, dass sie ihre Waffenlieferungen an die syrischen Rebellen einstellen, die USA schon wieder einmal ihre „Freiheitskämpfer“ fallen lassen.

Trotzdem aber darf die treibende Kraft hinter dem Bürgerkrieg, die USA im Verbund mit der sogenannten WWG, nicht unterschätzt werden. So schnell geben sie sich nicht geschlagen. Denn alleine durch ihre wirtschaftliche und militärische Macht sowie ihre politischen Einflussmöglichkeiten über ihre Verbündeten in der Region sind sie immer noch der entscheidende Machtfaktor im Nahen Osten, wenn auch ihre Stellung durch den Einflussgewinn des Iran und das militärische Eingreifen Russlands geschwächt wurde.

Denn bisher ziehen sich die Amerikaner noch nicht zurück vom syrischen Staatsgebiet. Sie lassen zwar die „westlichen“ Rebellen fallen, weil diese nach dem Fall von Ost-Aleppo ohnehin keine entscheidende Rolle mehr in diesem Konflikt spielten. Zudem standen sie immer wieder wegen ihrer Unzuverlässigkeit und ihrer inneren Zerstrittenheit, die zum Teil sogar militärisch ausgetragen wurde, in der Kritik. Auf der anderen Seite scheinen die USA und die WWG ihre Kräfte auf die Kurden zu konzentrieren. Sie sind die einzigen zuverlässigen und kampfstarken Verbände neben der syrischen Armee. Folgerichtig haben die USA die Kurden-Milizen massiv aufgerüstet.

Aber das Bündnis der Amerikaner mit den Kurden hat nicht nur Vorteile. Es vertieft den Konflikt mit dem NATO-Partner Türkei. Laut Erdogan hätten die USA „mehr als tausend Lastwagenladungen Waffen und Munition … aus dem Irak bereits an die kurdischen Kämpfer in Nordsyrien verteilt“, (LW vom 26./27.8.2017: Erdogan droht mit neuer Militäroperation). Seit Wochen verstärkt die Türkei deshalb ihre Truppen an den Grenzen zu den Kurdengebieten. „In den Regionen um die Grenzstadt Kilis sind 7.000 Soldaten mit Panzern und Artilleriegeschützen in Stellung gegangen“ (ebenda) und „die türkische Armee beschießt seit 10 Wochen das Gebiet der syrischen Kurden“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 25.8.2017: Im Kampf gegen den IS und die Türkei). Erdogan macht unmissverständlich deutlich, „die Türkei werde die Bildung eines kurdischen Staates in Nordsyrien niemals dulden, um keinen Preis“ (ebenda).

Die Lage der Kurden wird allmählich schwieriger und unsicherer. Nicht nur dass sie vonseiten der Türkei unter Beschuss genommen werden. Mit den militärischen Erfolgen und der Landnahme der syrischen Armee bahnt sich nun im Kampf um die IS-Hochburg Rakka der entscheidende Konflikt im syrischen Bürgerkrieg an. Was geschieht, wenn der IS besiegt ist und die syrische Armee auf die Kurden trifft? Bisher sind sich diese beiden Kräfte, die die kampfstärksten in der Gemengelage der syrischen Verhältnisse sind, noch nicht zu nahe gekommen. Die räumliche Trennung hat bisher bewaffnete Auseinandersetzungen vermieden. Bisher hatte man Arbeitsteilung betrieben: Die syrische Armee bekämpft in erster Linie die prowestlichen Rebellen und die Kurden den IS.

Nun aber kommen sich die syrische Armee und die Kurdenmilizen immer näher und rücken von unterschiedlichen Seiten auf Rakka vor. Beide beanspruchen die Führung im Kampf um diese Hochburg des IS. Schon wurde berichtet, „Russland dränge die Kurden in Afrin dazu, dem Assad-Regime die Kontrolle über das Gebiet zu überlassen…“ (FAZ vom 24.8.2017: Aufmarsch an der Grenze zu Syrien). Das ist ein erster Hinweis auf die Frage, die es nach der Niederlage des IS zu lösen gilt: Wer übt zukünftig die Macht aus in den Gebieten, die derzeit noch von den Kurden gehalten werden.

Einerseits ist da der Anspruch des syrischen Staates, die volle Kontrolle über das gesamte syrische Staatsgebiet wieder herzustellen. Auf der anderen Seite stehen die Interessen der Kurden, die sich in aufopferndem Kampf gegen den IS und die Türkei eine relative Selbständigkeit in Gebieten geschaffen haben, die von ihnen kontrolliert werden und wo sie selbst quasi-staatliche Gewalt ausüben. Zwar beteuern die syrischen Kurdenführer, „nicht eine Abspaltung, sondern eine Autonomie in Syrien anzustreben. Syrien solle als föderal aufgebauter Staat neu entstehen, so das Ziel“ (ebenda).

Doch es wird die Frage sein, ob diese Pläne der Kurden bei einer syrischen Regierung Gefallen finden, wenn sie erst einmal die volle Autorität über das gesamte syrische Staatsgebiet wieder errungen hat, mit Ausnahme der von den Kurden gehaltenen Kantone. Es ist fraglich, ob die syrische Regierung eine Entwicklung zulassen wird wie im benachbarten Irak. Hier ist die Entfremdung zwischen den Kurdengebieten und der Regierung so weit fortgeschritten, dass die kurdische Autonomieverwaltung von Masud Barsani die Bevölkerung aufruft, „über ein Ausscheiden der Kurdenregion aus dem irakischen Staatsverbund [zu] entscheiden“ (LW vom 26./27.8.2017: Erdogan droht mit neuer Militäroperation).

Zudem ist die syrische Regierung aufgebracht über die Zusammenarbeit der Kurden mit den Amerikanern, „denen die Kurden Militärstützpunkte einräumen“ ( FAZ: Im Kampf gegen den IS und die Türkei). Dadurch haben sie eine weitere Konfliktpartei ins Land geholt, die allein schon wegen ihres militärischen Gewichts bei einer Friedenslösung berücksichtigt werden muss, ob man will oder nicht. Denn so ohne Weiteres dürften die Amerikaner das syrische Staatsgebiet nicht wieder verlassen.

Aber auch unter den Kurden in Syrien gibt es Bedenken, ob „die Menschen in den Städten Deir al Zor, Mayal und Abu Kemal die Rückkehr des früheren syrischen Regimes wollen“ (ebenda). Es ist fraglich, ob sie sich damit anfreunden können und abfinden werden, die Opfer im Kampf gegen den IS nur dazu erbracht zu haben, um am Ende des Krieges in ihren Wünschen nach nationaler Identität wieder dort zu stehen, wo sie vor Beginn des Krieges standen.

Die entscheidende Bedeutung in diesem Kräftespiel kommt den Interessen der Amerikaner zu. Wie werden sie mit den Kurden verfahren, wenn der IS besiegt ist? Sollen die Kurden dann eingesetzt werden im Kampf gegen die syrische Armee, die sie mit Sicherheit nicht besiegen können, die sie aber durch einen langwierigen Krieg schwächen und damit den Wiederaufbau des Landes behindern können? Schon in Afghanistan hatten die USA den Abzug der sowjetischen Truppen verzögern wollen, nur damit die UdSSR sich weiter im Kampf mit den Mudschaheddin (heute Taliban) aufreibt und als globaler Gegenspieler geschwächt wird. Verlängerung des Krieges zur Schwächung des Gegners ist ein willkommenes Mittel, so lange man selbst nicht all zu tief in das Kriegsgeschehen verwickelt ist.

Noch sind die Amerikaner auf die Kurden als Kanonenfutter im Kampf gegen den IS so sehr angewiesen, dass sie sogar den Konflikt mit dem NATO-Partner Türkei nicht scheuen. Hatten die USA im August 2016 noch die Kurden zurückgepfiffen, als diese das Westufer des Euphrat erobern wollten und damit der Türkei ins Gehege kamen, so geht die Befehlskette nun in Richtung Türkei. Als sich die Hinweise auf türkische Angriffe auf Afrin verdichteten, wurde die Türkei aus Washington gewarnt: „Man brauche die kurdischen Kämpfer vor Raqqa und wolle sie keinesfalls bei der Verteidigung Afrins gegen den Nato-Partner Türkei verlieren“ (FAZ vom 24.8.2017: Aufmarsch an der Grenze zu Syrien“).

Die Amerikaner unterhalten mittlerweile mehrere Stützpunkte im Kurdengebiet, und im Moment nicht erkennbar, welche Pläne sie dafür haben für die Zeit nach dem IS. Wollen sie sich dort auf syrischem Staatsgebiet dauerhaft einrichten ohne die Zustimmung Syriens und damit immer im Konflikt mit einem wieder erstarkten Syrien leben als auch im Konflikt mit der Türkei? In diesem Fall muss davon ausgegangen werden, dass Syrien weiterhin von Iran und Russland unterstützt wird, ja sogar unterstützt werden muss, solange es sich durch die amerikanischen Stützpunkte im eigenen Land bedroht fühlt?

Oder werden die Kurden zur Verhandlungsmasse gegenüber Assad und den Russen dergestalt, dass die Amerikaner einen politischen Preis verlangen für die Aufgabe der Unterstützung, vielleicht sogar der Entwaffnung der Kurden und die Schließung der Militärbasen? Auch bei den Kurden selbst scheint „eine gewisse Verunsicherung über die Beständigkeit der amerikanischen Unterstützung deutlich“ (ebenda) zu spüren zu sein. Man stellt sich die Frage: „Wird sie auch noch gelten, wenn der IS besiegt ist“ (ebenda).

Denn auch die Kurden werden mit Sicherheit gesehen haben, dass die pro-westlichen Rebellen in Syrien von den USA fallen gelassen wurden, als sie diese nicht mehr brauchten. Sie ereilte dasselbe Schicksal wie die afghanischen Mudschaheddin, die nach dem Sieg über die UdSSR keinen Wert mehr für die USA hatten und deshalb mit ihrem zerbombten Land alleine gelassen wurden. Ähnlich erging es auch den irakischen Milizen, die in der Folge des 1. Golfkrieges versuchten mit amerikanischer Unterstützung, Sadddam Hussein zu vertreiben. Mitten im Strom wechselten die USA die Pferde, unterstützen Saddam und überließen die Milizen seiner Rache. Werden die Kurden die nächsten sein, die den politischen und strategischen Plänen der USA und der WWG geopfert werden?

Es wird weiter zu beobachten sein, wie sich die USA verhalten in den weiteren Auseinandersetzungen mit dem Assad-Regime und den Russen dahinter, der Türkei, aber auch dem Iran und den anderen Akteuren um die Neuordnung der Kräfteverhältnisse im Nahen Osten. Denn noch ist die entscheidende Schlacht nicht geschlagen.

Der IS scheint seiner militärischen Niederlage nicht mehr ausweichen zu können. Aber was kommt danach? Brechen dann die größeren Konflikte aus, die bisher unter dem zum Teil gemeinsam geführten Kampf gegen den IS verdeckt waren? Wie werden sich die Amerikaner verhalten, wenn die syrische Armee gegen die Kurden vorgeht, und wie die Russen, wenn es zu einem Konflikt zwischen der syrischen Armee und den amerikanischen Kräften auf syrischem Boden kommt?

Diese erkennbaren Bruchlinien tragen aufgrund der unterschiedlichen Interessen und politischen Vernunft aller Beteiligten eine Sprengkraft in sich, die den Nahen Osten in größere Auseinandersetzungen stürzen könnte als diejenigen, die er bisher hatte erleben müssen. Aber das ist bisher Spekulation, für die es außer der Ausgangslage und den angedeuteten Interessen und Einstellungen der Beteiligten keine konkreten Hinweise gibt.

Es bleibt, zu überprüfen und genau zu beobachten, ob sich Hinweise für eine solche Entwicklung verdichten oder ob sich aus den Verschiebungen der verschiedenen Kräfte neue, bisher nicht erkennbare Entwicklungen ergeben. Apokalyptische Prophezeiungen und das wiederholte Geschwätz vom drohenden dritten Weltkrieg nutzen niemandem. Wichtig ist zu erkennen, was in der Wirklichkeit vor sich geht.

Quelle: ruedigerraulsblog… vom 7. September 2017

 

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