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Linker Bellizismus: Knoten im Kopf

Eingereicht on 6. März 2023 – 15:15

Ingar Solty. In der Linkspartei und in linken bis linksradikalen Zeitschriften und Zeitungen wie Analyse & Kritik, ND oder auch im Freitag äußert sich mit Blick auf den Ukraine-Krieg eine kleine, aber dafür um so lautere Minderheit. In aus radikal linken Zusammenhängen gegründeten Publikationen mit einer heute großen Offenheit für grün-liberale und mitunter gar konservative Positionen wie Jungle World und Taz sowie im Umfeld von Bündnis 90/Die Grünen sind diese Stimmen keine Minderheit, sondern bilden eine Mehrheit. Wer? Die Befürworter von Waffenlieferungen an die Ukraine.

Es soll an dieser Stelle nicht darum gehen, das Für und Wider solcher Waffenlieferungen und die dahinterstehenden, zumeist nicht problematisierten Annahmen über Geschichte und Funktionsweise internationaler Politik in einem anarchischen Staatensystem zu erörtern. Es soll auch nicht um die Frage gehen, warum gerade junge Linke oder Grüne mit linkem Selbstverständnis besonders stark zu dieser Position neigen. Es reicht festzuhalten, dass dies Ursachen hat, die sich nicht allein mit der politischen und medialen Dominanz der Pro-Waffenlieferungsposition erklären lassen. Vielmehr gilt es zu begreifen, dass der Ukraine-Krieg an sehr starke linke Grundüberzeugungen – eine Antikriegshaltung, der Antifaschismus und die internationale Solidarität mit den Schwachen appelliert. An dieser Stelle soll vielmehr der Versuch unternommen werden, zur Klärung innerlinker Differenzen beizutragen, indem die fundamentalen Widersprüche und Aporien der linken und linksradikalen Waffenlieferungsbefürworter ausgelotet und herausgearbeitet werden.

Recht auf Selbstverteidigung

Deren Position lässt sich knapp so umreißen: Russland hat – zweifellos – die Ukraine völkerrechtswidrig überfallen. Daher gebe es ein Recht auf Selbstverteidigung und Anspruch auf internationale Solidarität, was bedeute, »die Ukraine« in ihrem Selbstverteidigungskrieg gegen die russische Invasion zu unterstützen – und zwar nicht bloß durch weitreichende humanitäre Flüchtlingshilfe, durch Asyl für Kriegsdienstverweigerer, die Unterstützung der russischen Antikriegsbewegungen und womöglich die hartnäckig untermauerte Forderung nach einem Waffenstillstand, sondern tatsächlich im engsten militärischen Sinne. Putin sei ein großrussisch-völkisch denkender Faschist, der der Ukraine öffentlich das Existenzrecht abgesprochen habe und der – dieser genozidalen Ideologie (und nicht ökonomischen, geopolitischen, sicherheitspolitischen etc. Interessen) folgend – die Ukraine mit einem »Vernichtungskrieg« überziehe. Viele sagen dabei explizit »wie einst Hitler«, andere suggerieren das nur. Hitler jedoch habe nur durch Waffengewalt gestoppt werden können. Genauso müsse es jetzt passieren. Und daraus wird unmittelbar abgeleitet, dass man für die Lieferung von Schützenpanzern, Kampfpanzern, womöglich Kampfflugzeugen oder gar für den Einsatz von NATO-Truppen sein müsse, letztlich eben alles, was gebraucht werde, um Russland (»die russischen Faschisten«) aus der Ukraine hinauszuwerfen. Viele meinen: Das müsse geschehen, weil sonst das »Böse« für seine Taten ja noch belohnt werde.

Wer dagegen – wie der ukrainische ­marxistische Intellektuelle Volodymyr Ishchenko oder der ukrainische Aktivist Juri Sheliazhenko oder wie nun die bislang mehr als 700.000 Unterzeichner des »Manifests für Frieden« von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer – vor einer Eskalationsspirale in der Ukraine, vor einem blutigen Abnutzungskrieg mit täglich etwa 1.000 Toten auf beiden Seiten und einem Schlafwandeln in einen dritten Weltkrieg warne, sich kritisch zu Waffenlieferungen äußere und statt dessen diplomatische Anstrengungen für eine international vermittelte Friedenslösung fordere, erliege bloß Putins Angstpropaganda, wolle »die Ukraine« ihrem Schicksal überlassen und zur Kapitulation zwingen, vertrete eine »Appeasement«-Politik wie einst Neville Chamberlain und Co. mit dem Münchner Abkommen von 1938, ermutige Putin bloß, weiterzumachen, womöglich das Baltikum (obwohl im Gegensatz zur Ukraine längst Teil der NATO) zu überfallen, so wie Hitler dann 1939 Polen überfiel, und so weiter. Von dort bis zu Vorwürfen wie »Lumpenpazifist« (Sascha Lobo), »gewissenloser Unterwerfungspazifist« (Herfried Münkler), »fünfte Kolonne Wladimir Putins« (Alexander Graf Lambsdorff, FDP) und »Friedensschwurbler« (erneut Sascha Lobo) ist es nicht weit.

Dass sich hinter den ahistorisch-schematischen, von Unkenntnis der Geschichte wie der Gegenwart geprägten Vergleichen ein von eben diesen Linken und Linksradikalen bis dato zurecht gefürchteter Geschichtsrevisionismus verbirgt, der den deutschen Vernichtungskrieg im Osten und den Holocaust relativiert und die Bundesrepublik und ihre Geschichtspolitik auf Jahrzehnte, womöglich irreversibel verändern wird, ist dabei ein wesentlicher, aber bei weitem nicht der bemerkenswerteste Aspekt, von dem man von diesen linken Stimmen, die einst mit Argusaugen über die »Singularität« des deutschen »Vernichtungskriegs« und des »Zivilisationsbruchs Auschwitz« wachten, so gut wie nichts hört. Auch nicht davon, dass diese im Brustton der Überzeugung vorgetragene Kritik mit der Forderung nach militärischer Verteidigung der Ukraine in den seltensten Fällen von ihrem Ende her gedacht und vor dem Hintergrund der konkreten strategischen Lage, die einen militärischen Sieg bzw. einen Zusammenbruch des gesamten russischen Militärs ohne direkten Einsatz von NATO-Truppen höchst unwahrscheinlich macht, reflektiert wird. Und ebenso wenig, dass mit dieser Haltung zumeist auch nicht die Dilemmata der eigenen Position sowie mögliche nichtintendierte Konsequenzen des »eigenen« Handelns benannt und die realen, letztendlich zwangsläufig unkalkulierbaren Risiken der eigenen Überlegungen mitbedacht und abgewogen werden: also der Einsatz von russischen thermobaren, Chemie- und taktischen Atomwaffen in der Ukraine, ein atomar geführter dritter Weltkrieg über die Grenzen der Ukraine hinaus.

Bankrott der Staatskritik

Besonders pikant ist vielmehr, dass diejenigen, die vor dem 24. Februar 2022 noch in Lesekreisen aktiv waren oder sozialisiert wurden, wo sie Karl Marx, Nicos Poulantzas und Ellen Wood, Frank Deppe, Alex Demirovic und Joachim Hirsch lasen und über Fragen der Staatstheorie nachdachten, Artikel, bisweilen ganze Bücher darüber schrieben, dass diejenigen, die vor dem 24. Februar 2022 stets streng anarchistisch oder gramscianisch auf radikale Bewegungspolitik setzten, vor jeder linken Regierungsbeteiligung als einer Form des Ausverkaufs warnten oder selber nicht einmal wählen gingen – denn »wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten« –, dass dieselben Leute jetzt auf einmal den bürgerlich-kapitalistischen Staat als Vehikel für ihre Politik entdecken – noch dazu so, wie er ist und aktuell regiert wird. Nicht minder pikant ist, dass ausgerechnet die gealterten Antideutschen, die in den frühen 1990er Jahren gegen die alten nationalen Befreiungsbewegungen und den sich darauf beziehenden alten Anti­imperialismus kämpften mit dem Argument, dass deren »Volkskriege« brutal und nationalistisch seien und den Klassenantagonismus verwischten, sich heute nach Jahren des Rückzugs in die Privatheit nun besonders leidenschaftlich für den »Volkskrieg« der Ukrainer ins Zeug legen, weil es mal wieder alte Gespenster – die Friedensbewegung und den bornierten Antiimperialismus – zu jagen gilt.

Man sollte nun annehmen, dass diejenigen, die so argumentieren, wie eingangs skizziert, vor dem Hintergrund ihrer spezifischen politischen und theoretischen Bezugspunkte die internationale Solidarität auf zivilgesellschaftlichem Weg ganz praktisch organisieren. Dass sie sich nach dem historischen Vorbild der Internationalen Brigaden im Spanischen Krieg oder des heutigen International Freedom Battalion zur Verteidigung der kurdischen Autonomiegebiete als internationale Freiwillige in die Schützengräben vor Bachmut begeben. Oder wenigstens ihre publizistische Reichweite für den Aufruf nutzen, sich an den dortigen Kämpfen zu beteiligen, die US-Generalstabschef Mark A. Milley, der höchstrangige Soldat der USA, als »eine sehr große Abnutzungsschlacht mit sehr hohen Verlusten, insbesondere auf russischer Seite« beschrieben hat. Statt dessen aber fordern Linksradikale heute vom ehedem als kapitalistisch und imperialistisch durchschauten Staat, auf den sie null Einfluss haben, die Lieferung von »Gepard«, »Marder«, »Leopard 2« oder von Kampfflugzeugen und, wer weiß, sogar den Einsatz von NATO-Truppen, oder heißen dies, weil sie selber keine eigenen Alternativen vorlegen, weil sie zum herrschenden Diskurs schweigen oder sogar ihren Aktivismus darauf verlegen, die kritischen Stimmen innerhalb der Linken im Einklang mit den Lobos, Münklers und Graf Lambsdorffs dieser Welt anzugreifen, wenigstens in der Sache gut.

Nun ist die Ukraine nicht die Spanische Republik und auch nicht Rojava. Es handelt sich nicht um eine anarchokommunistische Revolution, die gegen den Faschismus verteidigt werden will, nicht um ein neues demokratisches Vorbildprojekt, das von außen angegriffen wird, sondern um einen militärisch und finanziell vom Westen ganz und gar abhängigen Staat, in dem – kaum weniger autoritär und oligarchenkapitalistisch als der Nachbar Russland – schon vor Kriegsbeginn sozialistische Oppositionsparteien und kommunistische Symbole als »prorussisch« verboten waren und in dem nach dem Verbot der großen »Oppositionsplattform – Für das Leben!« und zehn weiteren Parteien die Partei des Oligarchen und Expräsidenten Petro Poroschenko die einzig verbliebene Opposition zur Regierung bildet; um einen Staat, in dem schon vor Kriegsbeginn der Ausnahmezustand verhängt wurde, fundamentale Bürgerrechte ausgesetzt sind, kampftaugliche 18- bis 60jährige von der Straße weg rekrutiert und weit über zehntausend Kriegsdienstverweigerer an der Grenze festgenommen und in den Krieg geschickt werden; um einen Staat, in dem ein Antigewerkschaftsgesetz (vom 17. August 2022) die Arbeiter bei einer Arbeitslosenquote von 24,5 Prozent dazu zwingt, individuell mit ihren Chefs über ihr Salär zu verhandeln, und die Löhne 2022 infolgedessen um 27 Prozent gesunken sind, während die Regierung gerade mit dem Internationalen Währungsfonds ein Strukturanpassungsprogramm »aushandelt«, dass die Ukraine zu gigantischen Privatisierungen der großen Staatsbetriebe, erheblichen Sozialkürzungen, zu Liberalisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen zwingt. Die Ukraine, so die ukrainische Wirtschaftsministerin Julija Swiridenko Ende des vergangenen Jahres, werde zu einer »Open Economy«, während Olexander Pisaruk, CEO von der Raiffeisen-Bank Ukraine und ehemaliger IWF-Mann, frohlockte: »Ich hoffe, dass ist die dritte Chance der Ukraine. Die erste war die Orange Revolution 2004, die leider eine verpasste Raiffeisen-Bank-Chance war. Maidan (2014) war nicht komplett verloren, aber wir hatten in der Ukraine noch nie eine Reform dieses Ausmaßes!«

Im Chor mit den Herrschenden

Kurz, der Vergleich mit Spanien 1936 oder Rojava 2016 hinkt, wenigstens aus linker ­Perspektive; es sei denn, die linken und linksradikalen Befürworter von Waffenlieferungen teilen grundsätzlich die Einschätzung der US-amerikanischen und deutschen Bundesregierung, dass es sich beim Krieg in der Ukraine um einen »Wertekonflikt« handele, in dem »die Ukraine« die »Freiheit und Demokratie« des »Westens« gegen den »östlichen Autoritarismus« verteidigt. So oder so: Wenn Linke und Linksradikale von militärischer Selbstverteidigung gegen den russischen Angriff sprechen, wäre der Aufbau von Internationalen Brigaden konsequent. Aber derlei Initiativen findet man hierzulande nicht, beziehungsweise ausschließlich von Neonazis, was im Umkehrschluss bedeutet, dass die normalerweise doch stets antisystemisch auftretenden Linksradikalen heute einfach genau das wollen und befürworten, was die Herrschenden gerade tun und was mit viel propagandistischem Aufwand in Rundfunk und Printmedien gerade als Mehrheitsmeinung durchgesetzt wird.

Freilich kann eine Position selbst dann richtig sein, wenn sie sich im Einklang mit der herrschenden Meinung befindet und einer Mehrheit in der Bevölkerung widerspricht. Die linken und linksradikalen Befürworter von Waffenlieferungen argumentieren demgemäß, dass man angesichts des russischen Kriegs doch mit der Ukraine solidarisch sein und deren Souveränität verteidigen müsse. Vielleicht wäre es zu viel erwartet, dass Linke in dieser Ausnahmesituation ihre Solidarität mit den ukrainischen Arbeiterinnen und Arbeitern zeigen, indem sie die internationale Kampagne der ukrainischen Gewerkschaften gegen die harschen Antigewerkschaftsgesetze in den Fokus rücken. Oder dass sie die Souveränität des ukrainischen Staats verteidigen, indem sie das laufende Ausplünderungsprogramm des IWF und des internationalen Kapitals skandalisieren und eine große Kampagne für einen Schuldenschnitt für das Land und seine bitterarme Bevölkerung starten. Das wäre nötig, könnte manchem jedoch wie ein Scheingefecht vorkommen oder von mancher gar als Wehrkraftzersetzung ausgelegt werden.

Es braucht also auch Antworten auf die Frage, wie man mit den Menschen solidarisch ist, die gerade Opfer eines Krieges werden, der ihnen von Russland aufgezwungen worden ist. Dabei ist es das eine, dass die linken Befürworter von Waffenlieferungen von der Solidarität mit der Ukraine oder dem ukrainischen Widerstand sprechen, aber darunter die ukrainische Regierung und deren Militärführung verstehen, die von den Staaten des Westens mit Waffen ausgestattet werden. Dass sich diese Linken darüber hinaus offenbar keine andere Form linker Solidarität mit der ukrainischen Zivilbevölkerung vorstellen können, als die imperialistischen Staaten Waffen in ein Kriegsgebiet liefern zu lassen, dass ihnen der Gedanke fremd ist, es könnte eine Form von Solidarität sein, eine Eskalation des laufenden Stellvertreterkrieges auf dem Rücken der ­ukrainischen Bevölkerung zu verhindern und auf einen Waffenstillstand zu drängen und den zivilen Widerstand zu fördern, offenbart, wie weit die Logik des Militärischen in linkes Denken eingedrungen ist. Es ist ein Beleg für die These, dass tendenziell diejenigen, die am weitesten von Militär und militärstrategischen Fragen entfernt sind, eine sehr viel höhere Bereitschaft zu Gewaltlösungen offenbaren, während hohe Militärs wie der US-Generalstabschef Mark A. Milley oder pensionierte und daher von politischer Rücksichtnahme befreite Bundeswehr-Generäle wie Harald Kujat, Erich Vad oder Helmut W. Ganser aus eigener Erfahrung die Grenzen des Militärischen kennen und vor der Illusion einer militärischen Lösung in der Ukraine warnen.

Aber kehren wir noch mal zurück zur Annahme, dass es ein Selbstverteidigungsrecht für Staaten (Völker) gibt, die Opfer von Angriffskriegen werden. Daraus folge, so befand zu Kriegsbeginn auch der Linke-Politiker Gregor Gysi, die moralische Verpflichtung, sie dazu zu befähigen, das heißt, durch Waffenlieferungen. Man könne nicht, so Gysi, einerseits anerkennen, dass es ein solches Recht gebe, aber dann andererseits den Angegriffenen die Waffen zur Ausübung dieses Rechts verweigern. Waffenlieferungen seien also im Kern richtig. Nur im Falle von Deutschland seien sie es nicht, aus historischer Verantwortung für den deutschen Vernichtungskrieg im Osten, den 27 Millionen Sowjetbürger – Ukrainer, Belarussen, Russen etc. – mit dem Leben bezahlten, die Hälfte davon Zivilisten.

Gysi sprach sich also am Ende dennoch gegen die Waffenlieferungen der Bundesregierung aus – vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte. Aber die Logik ist klar: Wird ein Land angegriffen, so besteht die moralische Verpflichtung zu Waffenlieferungen. Dies sehen auch Außenministerin Annalena Baerbock und die breite veröffentlichte Meinung so.

Heikel und ein wenig unappetitlich wird es, wenn man sich dann klarmacht, dass nach dieser Logik die Bundesregierung heute Waffen an die jemenitische Bevölkerung zur Selbstverteidigung gegen den völkermörderischen Angriffskrieg des diktatorisch regierten Saudi-Arabiens liefern müsste. Und Waffen an die kurdische Bevölkerung in Nordsyrien und Nordirak, damit sie sich gegen den Krieg des türkischen Autokraten Erdogan verteidigen kann. Der saudische Invasionskrieg im Jemen hat bis heute nach UN-Angaben zu mehr als 380.000 Toten, vier Millionen Flüchtlingen und 19 Millionen hungerleidenden Menschen geführt. Nach Angaben von Human Rights Watch bombardieren »Saudi-Arabien und die Koalitionspartner (…) Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen« und sind verantwortlich für zahllose »Kriegsverbrechen«. Der türkische Angriffskrieg gegen die kurdischen Selbstbestimmungsgebiete im Irak und in Syrien wiederum hat mehr als eine halbe Million Menschen vertrieben, Zehntausende Todesopfer gefordert, darunter Unzählige Zivilisten, während Erdogan regelmäßig in kriegsverbrecherischer Manier auch im eigenen Land die kurdischen Wohngebiete bombardiert hat.

Werteorientiert?

Anstatt aber ihrem moralischen Automatismus zu folgen, deckt die Bundesregierung die Invasionskriege des autokratisch regierten NATO-Partners Türkei und die mit dem Westen verbundene Diktatur Saudi-Arabien nicht nur, sondern unterstützt sie sogar aktiv. So reiste die grüne Außenministerin Annalena Baerbock nach Kriegsbeginn in die Türkei und pries »unsere starke deutsch-türkische Partnerschaft« und das Zusammenstehen gegen Russland; das Wirtschaftsministerium unter Robert Habeck wiederum hob im September 2022 das nach der Ermordung des saudischen Journalisten Dschamal Chaschukdschi erlassene Exportverbot für Waffen an die kriegführende Diktatur auf und genehmigte deutsche Munition und Ausrüstung im Umfang von 38,8 Millionen Euro für genau jene Kampfflugzeuge, die für Kriegsverbrechen wie das Bombardieren ziviler Ziele verantwortlich sind. Und das alles offenbar – wie selbst in der »Tagesschau« vermutet wurde – in der »Hoffnung auf Öl und Wasserstoff«.

Die Vertreter der Bundesregierung schämen sich trotzdem nicht, ihr Handeln als »werteorientierte Außenpolitik« im Sinne einer »regelbasierten Weltordnung« zu beschreiben oder – wie Baerbock jüngst während der Münchner »Sicherheitskonferenz« 2023 – als »durch die Europäische Friedensordnung, die Charta der Vereinten Nationen und das humanitäre Völkerrecht geleitet«.

Nun prangern zweifellos auch die Linken und Linksradikalen, die sich im Einklang mit der Bundesregierung für ein »Selbstverteidigungsrecht« und für Waffenlieferungen aussprechen, diese westliche Heuchelei und Doppelmoral an. Darin ist man sich einig. Indes: Sie folgen dabei gedanklich nicht Egon Bahr, dem Architekten der neuen Ostpolitik des damaligen SPD-Bundeskanzlers Willy Brandt, der 2013 einmal in Richtung der jungen Generation warnte: »In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.« Statt dessen stehen sie – bewusst oder unbewusst – auf dem Standpunkt, dass die Politik der Bundesregierung zwar doppelmoralisch und heuchlerisch sei, dass es eine »werteorientierte Außenpolitik« jedoch auch mit diesem Staat des Kapitals prinzipiell geben könne und sie an sich gut sei, bloß konsequent und glaubwürdig umgesetzt werden müsse.

Das würde aber im Umkehrschluss bedeuten, dass politische Linke ab sofort solche sind, die vom Staat, auf den sie in der Regel keinerlei Einfluss haben und den sie theoretisch ablehnen, praktisch fordern: »Liefert endlich Waffen in (fast) jedes Kriegsgebiet dieser Welt!« Denn in den allermeisten Kriegen der Welt gibt es einen Aggressor beziehungsweise Invasor (und nicht gerade selten sind es NATO-Staaten oder Verbündete). Mehr noch: Weil in der Linken sich noch mehr Menschen für Sanktionen aussprechen als für Waffenlieferungen – selbst im Parteivorstand von Die Linke ist es heute in bezug auf den Krieg in der Ukraine eine Mehrheit –, müssten sie zukünftig in Kommentaren und Aufsätzen Sanktionen gegen unzählige Staaten der Erde fordern und das so auch in ihre Wahlprogramme schreiben, sie müssten die Auswirkungen auf die unteren Klassen (fast) aller Länder rechtfertigen etc. All das würde natürlich kein linksradikaler Politiker und keine Politikerin von Die Linke tun, ja nicht einmal die auf »militärische Lösungen« und Sanktionen als Mittel der ganz normalen Außenpolitik setzende politische Klasse von Bündnis 90/Die Grünen. Aber es wäre logisch und konsequent.

Unangenehme Antworten

Dass die linken Befürworterinnen und Befürworter von Waffenlieferungen (und Sanktionen) dies alles jedoch nicht tun, macht es damit nicht weniger heikel. Im Gegenteil, denn die Frage stellt sich: Warum fordert man an der einen Stelle – wie im Fall Ukraine – Waffenlieferungen (und/oder Sanktionen), an der anderen Stelle – etwa für Jemen, die kurdischen Gebiete in Nordsyrien und Nordirak – aber nicht, obwohl es doch die logische Konsequenz der eigenen Werte wäre? Warum schreibt man nicht lange Leitartikel und beißende Kommentare, organisiert Demos und Veranstaltungen, bis man endlich Gehör findet und endlich Gerechtigkeit herrscht?

Auf diese Frage gibt es nur zwei mögliche Antworten: Entweder ist es die Folge einer intuitiven rassistischen Grundhaltung, die christlich-weiße Ukrainer für höherwertig hält als nicht-weiße Muslime. Dies dürfte – außer vielleicht bei einigen »antideutsch« sozialisierten Linken und Exlinken – eher nicht der Fall sein. Oder ihre eigene Politik – wenigstens die nach außen gerichtete (die heute alles andere überlagert) – ist und bleibt ein ganz und gar heteronom bestimmtes Anhängsel der herrschenden Politik, der Politik des doch früher als kapitalistisch durchschauten Staats und einer bürgerlich-medialen Öffentlichkeit, die man einst als »ideologischen Staatsapparat« (Louis Althusser) zu denken gelernt haben wollte.

Beide Antworten dürften den linken und linksradikalen Befürwortern der herrschenden Politik der Waffenlieferungen äußerst unangenehm sein.

#Bild: Bloß noch Anhängsel der Regierungspolitik? Linke Demonstration gegen Russlands Krieg in der Ukraine (Berlin, 25. Februar 2022). Christian Mang/REUTERS

Quelle: jungewelt.de… vom 6. März 2023

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