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Afrika: Was sind die Ursachen der Flüchtlingsbewegung?

Eingereicht on 10. September 2017 – 11:12

Zunehmend mehr Menschen flüchten aus Afrika nach Europa. Einige Schätzungen gehen davon aus, dass in den nordafrikanischen Ländern rund 1 Million Menschen auf eine geeignete Möglichkeit warten, um nach Europa zu kommen.

Die Frage drängt sich auf: Was sind die Ursachen für diese Massenflucht? Warum sind Hundertausende bereit, ihre Heimat zu verlassen und sich großen Gefahren und sogar dem Tod auszusetzen? Offensichtlich ist das Elend in vielen afrikanischen Ländern mittlerweile so weit gewachsen, dass viele ihre letzte Hoffnung in die Flucht setzen.

Wenn man die Fluchtursachen ergründen will, stößt man sehr schnell auf den europäischen Imperialismus, der seit über 150 Jahren in Afrika agiert. Dies gilt auch heute noch, zu Beginn des dritten Jahrtausends. Einige Plünderungen sind so offensichtlich, dass niemand sagen kann, er hätte es nicht gewusst.

Plünderung afrikanischer Fischbestände

So werden die ehemals reichen Fischbestände vor den afrikanischen Küsten von internationalen Fangflotten geplündert. Für die einheimischen Fischer bleibt immer weniger. Ein Beispiel dafür ist der Senegal. Hier gibt es noch 52.000 Fischer in einem für sie immer schwierigeren Umfeld. Sie benutzen traditionelle Boote, sog. Pirogen, für den küstennahen Fischfang auf Shrimps, Makrelen oder Sardinen. Die Fischerei ernährt im Senegal 600.000 Menschen und trägt zu 3/4 der tierischen Proteinaufnahme im Lande bei. Dies alles ist bedroht, denn internationale industriell arbeitende Fangflotten haben von der senegalesischen Regierung Fanglizenzen erworben mittels Bestechung und Korruption. Um die Auswirkungen abschätzen zu können, muss man wissen, dass ein moderner Fischtrawler 250 Tonnen Fisch an einem Tag fangen kann – so viel wie 50 Pirogen in einem Jahr. Neben dieser lizensierten Plünderung der Fischgründe gibt es noch illegale Fischereipraktiken internationaler Fangflotten. Schätzungen besagen, dass allein der Senegal pro Jahr dadurch um 300 Millionen US-Dollar geschädigt wird. Das sind immerhin 2% des GDP dieses Staates. Die Verluste von ganz Westafrika durch illegale Fischereipraktiken werden auf 1,3 Mrd. US-Dollar pro Jahr geschätzt. Die EU hat an diesen Praktiken einen nicht geringen Anteil: Über den“ European Maritime and Fisheries Fund“ (EMFF) wird die europäische Fischereiindustrie von 2014 bis 2020 mit 6,5 Milliarden € gefördert (Daten nach [1]).

Abholzung afrikanischer Wälder

Ein weiteres Betätigungsfeld westlicher Konzerne ist die Plünderung afrikanischer Holzbestände. Ein nicht unbeträchtlicher Teil dieser Abholzungen ist illegal. Er findet statt mit der verdeckten oder offenen Unterstützung lokaler Eliten. Eine Schätzung besagt, dass 2011 illegal geschlagenes Holz im Wert von 12,4 Mrd. € nach Europa exportiert wurde [1]. Die europäischen Staaten geben sich arglos und verweisen auf betrügerische Nachhaltigkeitszertifikate, die sich die Holzfirmen selbst ausstellen und von denen es viele Dutzend gibt.

Auch mineralische Rohstoffe werden in zahlreichen Ländern Afrikas gefördert. Die meisten Minenprojekte gehen mit einer drastischen ökologischen Zerstörung und einer Vergiftung der Umwelt einher, die die lokale Bevölkerung erkranken lässt. Nutznießer sind internationale Konzerne, die riesige Profite machen, während für die Einheimischen fast nichts bleibt.

Uranabbau und Krebs in Niger

Ein krasses Beispiel hierfür ist der Uranbergbau in Niger, wo der französische AREVA-Konzern mehrere Minen besitzt. Seit 1968 wurden mehr als 100.000 Tonnen des Metalls geschürft. 2008 berichteten unabhängige Untersuchungskommissionen, dass der Uranbergbau Böden und Wasser mit hoher Radioaktivität kontaminiert. Der verseuchte Minenabraum wird unter freiem Himmel gelagert. Der Wüstenwind trägt den Staub zu den nächsten Orten, wo 80.000 Menschen leben. Eine Untersuchung von Greenpeace im Jahr 2010 bestätigte diese Situation. Hunderte von Menschen sind in der Umgebung der Minen bereits an Krebs gestorben. Die französischen Atomkraftwerke erhalten 40% des Urans aus dem Niger. Das ist pikant, weil auch deutsche Atommeiler mit Uran versorgt werden, das über Frankreich nach Europa gelangt. (Daten nach [2], [3]). Eine ähnliche Situation wie in Niger gibt es auch in Namibia, wo seit 1976 Uran im Tagebau gefördert wird. Auch hier betreiben internationale Konzerne den Abbau [4].

Dies sind nur einige zusammengestellte Beispiele für die Ausplünderung Afrikas durch westliche Konzerne, die in enger Zusammenarbeit mit lokalen Eliten stattfinden. Mindestens 1300 Milliarden Dollar sind auf diese Weise in den letzten 30 Jahren illegal aus Afrika heraus transferiert worden. So leistet der arme afrikanische Kontinent „Entwicklungshilfe“ für westliche Konzerne.

Kolonialistisches Erbe

Wie konnte es zu einer derartig schlimmen Situation kommen? Welche Ursachen hat die Zerstörung Afrikas? Bereits als die afrikanischen Staaten zwischen 1955 bis 1965 ihre Unabhängigkeit erlangten, war die Schwäche ihrer Ökonomien gegeben. Sie hatte ihren Ursprung in der europäischen Kolonialpolitik. Diese verschärfte sich, als die europäischen imperialistischen Länder nach der Berliner Konferenz von 1885 damit begannen, ganz Afrika wie einen Kuchen unter sich aufzuteilen. Um 1900 hatten sie bereits 90% Afrikas unter ihre koloniale Herrschaft gebracht.

Deformierte Ökonomien von Anbeginn

Die Kolonien wurden nach den ökonomischen Bedürfnissen der europäischen Mutterländer umstrukturiert. Afrikanische Bauern wurden vielfach enteignet und auf schlechtere Böden abgedrängt. Ihr Land ging in den Besitz europäischer Unternehmen über, die darauf Plantagen und Bergwerke für den europäischen Bedarf errichteten. Als die Unabhängigkeit kam, wurde genau diese deformierte ökonomische Struktur an die jungen afrikanischen Staaten vererbt. Fortschrittliche Kräfte in den neuen afrikanischen Staaten wollten zwar aus den Gewinnen landwirtschaftlicher Produkte eine industrielle Entwicklung für die eigenen Bedürfnisse finanzieren, aber dies sollte nicht gelingen.

Wie Imperialismus wirkt

Bereits in den 1970er Jahren litten die afrikanischen Länder zunehmend unter fallenden Agrarpreisen, während gleichzeitig steigende Ölpreise die Länder schwer trafen. Eine typische Situation, in der sich halbkoloniale Länder befinden: Die Preise ihrer Rohstoffe sind an den internationalen Börsen heftigen Schwankungen ausgesetzt, während dies für die Preise industrieller Produkte der kapitalistischen Metropolen nicht gilt. Dies führte dazu, dass es zu einer wachsenden Verschuldung vieler afrikanischer Länder kam. Allein die Zinszahlungen in der Phase der Hochzinspolitik raubte ihnen jeden Spielraum. Damit floss ein Großteil des verfügbaren Kapitals in Form von Gewinnen und Zinsen in die entwickelten kapitalistischen Länder ab. Eine parasitäre Oberschicht verbraucht einen weiteren Teil des Überschusses für ihren Luxuskonsum. Der belgische Marxist Ernest Mandel analysierte bereits Anfang der 1970-er Jahre die Situation: „Die Kapitalausfuhr der imperialistischen Länder bestimmt fortan die Wirtschafts-Entwicklung der ‚Dritten Welt‘. Diese wird komplementär zu den Bedürfnissen der kapitalistischen Metropolen gestaltet. Die Kapitalinvestition geht selbst von den Metropolen aus und (es werden) nur solche Betriebe errichtet, die den Interessen der imperialistischen Bourgeoisie entsprechen.“ Und weiter: „Der Prozess des imperialistischen Kapitalexports erstickt die wirtschaftliche Weiterentwicklung der sog. ‚Dritten Welt‘, indem er die vorhandenen Ressourcen für eine ursprüngliche Akkumulation des Kapitals abschöpft.“ Und: „Er konzentriert die übrigbleibenden Ressourcen auf diejenigen Sektoren, die für die in Entwicklung der Unterentwicklung entscheidend werden: Bodenspekulation und Immobilienbau, Wucher, Lumpenbourgeoisie (…) des Dienstleistungssektors.“ [5]

Es entsteht also eine deformierte Wirtschaftsstruktur und die Chance auf die Entwicklung einer eigenen Industrie ist versperrt. In den übrig gebliebenen wirtschaftlichen Nischen nistet sich eine korrupte herrschende Klasse ein, die mit dem Imperialismus verbunden ist und ein Interesse am Erhalt des Status Quo hat.

Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank

In den 80er Jahren verschärfte sich die Situation, als in den westlichen kapitalistischen Ländern die Ideologie des Neoliberalismus triumphierte. Von den afrikanischen Ländern wurde nun gefordert, dass sich der Staat aus der Wirtschaft zurückziehen solle. Öffentliches Eigentum wurde verdammt und es wurde die Abschaffung von Schutzzöllen gefordert. Die afrikanischen Staaten, die Kredite benötigten und hohe Zinsen zurückzahlen mussten, standen genauso unter Druck wie heute Griechenland. Es folgten neoliberale Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank. Der nigerianische Wirtschaftswissenschaftler Bade Orionode schrieb dazu: „Die Stabilisierungs- und Strukturanpassungsprozesse von Weltbank und IWF haben den Zusammenbruch der afrikanischen Ökonomien verursacht und erzeugten eine humanitäre Katastrophe, die die Armen in Stadt und Land traf sowie Frauen, Kinder, Arbeiter, Bauern und andere verwundbare Gruppen.“ [6]

EPA-Freihandelsabkommen

Doch es sollte noch schlimmer kommen. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, einem nichtkapitalistischen Land, das allerdings von einer bürokratischen Kaste beherrscht wurde [7], änderte sich das globale Kräfteverhältnis deutlich zu Gunsten der kapitalistischen Länder. Insbesondere mit der Bildung der WTO (World Trade Organisation) erhöhte sich danach der neoliberale Druck auf die afrikanischen Länder. Sie hatten bis dahin für ihre meist agrarischen Produkte einen fast freien Zugang zum europäischen Markt. Im Gegenzug waren sie nicht verpflichtet, ihre eigenen Märkte zu öffnen. Im Lome-Abkommen war dies 79 Staaten aus Afrika, der Karibik und dem Pazifikraum, den sog. AKP-Staaten, von der EU zugestanden worden. Im Jahr 2000 erklärte die WTO, dass diese „einseitige Marktöffnung“ den Regeln eines „freien“ Handels widersprechen würde. Die EU nahm dies zum Vorwand, um von den afrikanischen Ländern den Abschluss von Freihandelsabkommen zu verlangen. Sie tragen den Namen EPA. Die Abkürzung steht für „Economic Partnership Agreement“. Die EU stellte im Rahmen der EPAs Forderungen an die afrikanischen Staaten. Sie sollten sich dazu verpflichten, 90 % ihrer Märkte in den nächsten 15 Jahren für europäische Güter zu öffnen. Dasselbe sollte für europäische Dienstleistungen und Investitionen gelten. Und sie sollen auch ihre Ausfuhrsteuern auf Rohstoffe abschaffen. So versucht die EU sich einen günstigen Zugriff auf afrikanische Rohstoffe zu sichern, während gleichzeitig die Einnahmen der Staaten sinken [8], [9].

Obwohl die afrikanischen Staaten zunächst heftigen Widerstand gegen die EPAs leisteten, ist es der EU durch Erpressung mittlerweile gelungen, vielen einen EPA-Freihandelsvertrag aufzuzwingen [8]. Es ist absehbar, dass der Import billiger EU-Waren, die mit fortschrittlichen industriellen Methoden hergestellt werden, den Aufbau einer afrikanischen Industrie für interne Bedürfnisse in Zukunft verstärkt blockieren wird.

Europäische Agrarprodukte zu Schleuderpreisen

Die EU drückt insbesondere ihre agrarischen Produkte in die afrikanischen Länder. Dazu gehören billige Geflügelteile, Zwiebeln, Tomatenpaste oder hochsubventionierte Milchprodukte zu Schleuderpreisen. Zusätzlich überschwemmt Reis aus den USA und Asien die Märkte. Diese Produkte wirken sich auf die afrikanische Bevölkerung, die zu drei Viertel aus Kleinbauern besteht, verheerend aus. Sie leben von der Landwirtschaft und nutzen ihre geringen Überschüsse zum bescheidenen Kauf von Saatgut und Produkten des täglichen Lebensunterhalts. Gegen die agrarischen Billigimporte aus Europa können sie nicht mithalten und werden so ihrer wichtigsten Einnahmequelle beraubt.

Alternativen haben sie nicht. Für viele bleibt zunehmend nur die Flucht nach Europa. Es bleibt die Frage: Wohin treibt die Entwicklung? Können wir in den nächsten Jahren eine Verbesserung der Situation in Afrika erwarten? Das ist unwahrscheinlich. So werden die jetzt abgeschlossenen EPAs zunehmend ihre Wirkung zeigen und zu einer weiteren Verelendung der afrikanischen Kleinbauern führen.

Ein weiteres sich entwickelndes Problem ist der globale Klimawandel ([10], [11], [12]). An ihm ist die afrikanische Bevölkerung völlig unschuldig. Aber die Auswirkungen werden sie in Zukunft mit voller Wucht treffen. Europäische Politiker stellen sich gerne hin und erzählen, dass sie unschuldige Opfer der afrikanischen Fluchtwelle seien, die die hiesigen Sozialsysteme angeblich belasten würde. Doch die Wahrheit ist, dass der europäische Imperialismus ein wesentlicher Verursacher der afrikanischen Krise ist, und dass das Opfer die dort lebende Bevölkerung zu tragen hat. Es ist die Aufgabe der antirassistischen Bewegung, diese einfachen Zusammenhänge in den europäischen Metropolen zu verbreiten.

Referenzen

[1] Africa Progress Panel: Grain Fish Money, African Progress Report 2014.

[2] Süddeutsche Zeitung, 5.5.2010, Strahlende Geschäfte.

[3] In der Krebskolonie, Junge Welt, 26.6.09.

[4]VDI-Nachrichten 26.6.2009, Uranabbau gefährdet Bevölkerung in Afrika.

[5] Mandel, E.: Der Spätkapitalismus, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1973.

[6] John J. Daul; Colin Leys: Sub-Saharan Africa in Global Capitalism, Monthly Review 1999, Volume 51, Issue 03 (July – August).

[7] Mandel, E.: Die Bürokratie, ISP-Verlag, Frankfurt/M. 1976.

[8] The EPA between the EU und West Africa: Who benefits? Spotligth Report 2015, Policy paper.

[9] Emmanuel Iruobe: Is the EU-Africa Trade Agreement Inimical to Africas Economy?, 28.11.2015.

[10] Prévisions climatiques inquiétantes pour le bassin de la Volta en Afrique de l’Ouest, Afrique en lutte, 13.08.2013.

[11] The impact of climate Change in Africa, ISS Institute for Security Studies, ISS-Paper 220, 2010, www.makepeacehappen.net.

[12] Verdorrte Felder, leere Teller, Wie der Klimawandel Ernährungssicherheit gefährdet, Oxfam Deutschland, 2012.

Quelle: Ökosozialistische Flugschriften 24… vom 10. September 2017

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