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Arbeiter*innenrechte in der Schweiz. Das Märchen vom Kündigungsschutz

Eingereicht on 11. Januar 2018 – 15:56

2010 wurde Hans Oppliger, Drucker bei der Edipresse-Gruppe im waadtländischen Bussigny und Mitglied der Bewegung für den Sozialismus, entlassen. Dies obwohl er laut Gesamtarbeitsvertrag (GAV) als gewählter Vertreter der Belegschaft im Stiftungsrat der betriebseigenen Pensionskasse vor einer Kündigung hätte geschützt sein sollen. Im September 2017 wurde das rechtswidrige Urteil vom Bundesgericht bestätigt. Dieses Fallbeispiel zeigt eindrücklich auf, was der bürgerliche Staat in der Schweiz von Arbeiter*innenrechten hält, und dass die hiesigen Gerichte sich nicht zu Schade sind rechtliche Bestimmungen zum Wohle der Unternehmen zu übergehen. Wir veröffentlichen hier einen offenen Brief von solidarischen Juristen, die zusammen mit Hans Oppliger für die Einhaltung der Arbeiter*innenrechte in der Schweiz kämpfen. (Red. BfS)

Von Christian Dandrès, Maurizio Locciola, Eric Maugué, Romolo Molo

Die Entlassung von Hans Oppliger

Hans Oppliger war von 1979 bis 2009 als Rollenoffsetdrucker für die Edipresse-Gruppe tätig, welche sich 2009 Tamedia angenähert hat und 2013 von diesem Konzern übernommen wurde. Er war Präsident des Sektors Druck der Gewerkschaft Comedia, die mittlerweile in der Gewerkschaft Syndicom aufgegangen ist. Nachdem er jahrelang Präsident der Betriebskommission war, wurde er 2005 als Vertreter der Versicherten in den Stiftungsrat der Vorsorgestiftung von Edipresse gewählt und 2009 für vier Jahre wiedergewählt. Er wehrte sich mit Erfolg gegen die Senkung von Leistungen und vom Umwandlungssatz, welche seine Pensionskasse damals ins Auge fasste. Er forderte, dass bei Bedarf die paritätischen Beiträge erhöht werden, damit die Leistungen auch im Fall einer Senkung des Umwandlungssatzes beibehalten werden konnten. Im Herbst 2009 beschloss die Edipresse-Gruppe auf Druck von Tamedia die Streichung von etwa hundert Stellen, um die Rentabilität der Gruppe weiter zu stärken. Wie nicht anders zu erwarten, nutzte Edipresse/Tamedia diese Gelegenheit, Hans Oppliger vor die Tür zu stellen. Der damals geltende Gesamtarbeitsvertrag enthielt folgende Bestimmungen zum Schutz gewählter Vertreter der Arbeitnehmenden:

Nun ist es in der Schweiz äusserst selten, dass ein gewählter Personalvertreter es wagt, seinem Arbeitgeber die Stirn zu bieten, wie es Hans Oppliger getan hat, indem er sich mit Erfolg gegen die Senkung des Umwandlungssatzes gewehrt hatte. Er hat dafür teuer bezahlt. Nach dreissig Dienstjahren, in denen er stets qualitativ hochstehende Arbeit leistete, wie es sowohl seine Kolleginnen und Kollegen als auch sein Arbeitgeber anerkennen, wurde er entlassen. Die erste schriftliche Mitteilung erreichte Hans Oppliger nicht rechtsgültig, da er zu diesem Zeitpunkt krank war.

Diese erste Kündigung war zwar nichtig, jedoch hatte der Arbeitgeber schriftlich kundgetan, dass er Hans Oppliger entlassen wolle, sobald dieser wieder arbeitsfähig sein würde. Hans Oppliger verlangte im November 2009 unverzüglich die Anwendung des im GAV vorgesehenen Verfahrens. Noch während seiner Arbeitsunfähigkeit erhielt er zwei weitere Schreiben, in denen der Arbeitgeber seine Absicht mitteilte, „sobald wie möglich die Kündigung auszusprechen“. Dennoch wurde Hans Oppliger im April 2010, nach Wiederaufnahme der Arbeit, erneut zu einer Aussprache eingeladen, wobei die Firma sich jedoch weigerte, das GAV-Verfahren anzuwenden.

Bürgerliche Gerichte gegen die Arbeiter*innen

Hans Oppliger focht die Kündigung als nicht GAV-konform an und forderte subsidiär eine Entschädigung wegen missbräuchlicher Kündigung. Im Fall einer Wiedereinstellung hätte er selbstverständlich auf den Sozialplan verzichtet. Alle Begehren wurden durch die Waadtländer Gerichte sowie kürzlich auch durch das Bundesgericht mit Entscheid vom 1. September 2017 (BGE 4A_656/2016, mit Hinweisen) abgewiesen.

Hans Oppliger hatte von Anfang an auf die Einhaltung des GAV-Verfahrens gepocht. Trotzdem kam das Bundesgericht zum Schluss, dass er diese Forderung während seiner Arbeitsunfähigkeit hätte wiederholen müssen, also nach jedem der beiden Schreiben seines Arbeitgebers. Dies obwohl die Firma klargemacht hatte, dass sie ihn sobald wie möglich wieder entlassen wollte! Die diesbezügliche Haltung des Bundesgerichts zeichnet sich, gelinde gesagt, durch überspitzen Formalismus aus. Zudem führt das Bundesgericht aus, die betreffende GAV-Bestimmung sei nicht dazu bestimmt, „den betroffenen Arbeitnehmenden und den GAV-Vertragsparteien eine Einflussnahme auf den Entscheidungsprozess der Arbeitgeberfirma zu ermöglichen“. Laut Bundesgericht schreibt der GAV dem Arbeitgeber „lediglich vor, die Kündigung im Voraus anzukündigen, damit geprüft werden könne, dass die Kündigungsgründe nichts mit der Tätigkeit des Betroffenen als Personalvertreter zu tun haben“. Im Gegensatz zum Verfahren bei Massenentlassungen (durch Art. 335d ff Obligationenrecht vorgeschrieben) ermöglicht die GAV-Bestimmung laut Bundesgericht den Arbeitnehmenden keineswegs, „effektiv auf den Entscheidungsprozess betreffend die geplante Massenentlassung einzuwirken.

Die Gerichte gingen in ihrer Weltfremdheit sogar soweit, von Hans Oppliger zwei Wiederholungen seiner Forderung nach einer Aussprache zur geplanten Entlassung selbst während seiner Arbeitsunfähigkeit zu verlangen. Dies obwohl ihm die Firma im Voraus schriftlich ihre Absicht mitgeteilt hatte, die Kündigung sobald wie möglich wieder auszusprechen. Es zeigt sich: Die genannte GAV-Bestimmung ist ein Fetzen Papier, welcher gewählte Arbeitervertreter völlig schutzlos lässt.

In einem zweiten Teil seines Entscheides bestätigt das Bundesgericht seine Rechtsprechung, wonach der Arbeitgeber bei Kündigungen, die erwiesenermassen aus wirtschaftlichen Gründen erfolgen, praktisch immer berechtigt ist, einen gewählten Personalvertreter zu entlassen. Dabei stützt sich das Gericht auf einen früheren Entscheid: Es gab sich damals besorgt, dass bei allenfalls verstärktem Kündigungsschutz für gewählte Personalvertreter stattdessen andere, sozial benachteiligte Personen entlassen werden müssten, wodurch der Kündigungsschutz zu Ungerechtigkeiten führen würde. Das Bundesgericht „vergisst“ dabei, dass die Arbeitnehmenden ihre Vertreter frei wählen und somit kollektiv und bewusst entscheiden, wer von ihnen geschützt sein soll und wer es also wagen kann, seinem Arbeitgeber falls nötig zu widersprechen.

Kündigungsschutz in der Schweiz? Fehlanzeige!

Indem das Bundesgericht dem Arbeitgeber freie Hand lässt, bei jeder Entlassungswelle aus wirtschaftlichen Gründen auch Personalvertreter zu feuern, hebelt es den hierzulande ohnehin kläglichen Kündigungsschutz vollständig aus. Die Schwäche des Kündigungsschutzes hat der Schweiz bereits eine „Empfehlung“ (d.h. eine Rüge) des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) eingebracht. Schon 2006 hatte der Ausschuss festgestellt, dass die Schweiz das Übereinkommen Nr. 98 verletzt, das als sog. Kernarbeitsnorm zu den von der IAO definierten „fundamentalen Rechten und Prinzipien bei der Arbeit“ gehört. Seitdem hat die Rechtsprechung des Bundesgerichts den Schutz für Gewerkschaftsvertreter – falls überhaupt möglich – noch weiter verschlechtert, obwohl ihn die IAO bereits zuvor als unzureichend eingestuft hatte. Zitieren wir zum Schluss noch einmal das Bundesgericht, in einem weiteren, Hans Oppliger betreffenden Entscheid (BGE 9C_401/2011) zu: „Die Frage des ordnungsgemässen Funktionierens der paritätischen Verwaltung [einer Pensionskasse] stellt sich erst bei Ersetzung eines austretenden Mitglieds, und nicht beim Austritt eines Mitglieds aus dem Stiftungsrat.“ Somit ist klar, dass der Arbeitgeber jeglichen gewählten Arbeitnehmervertreter entfernen kann, der im Stiftungsrat zu seinen Befehlen nicht Ja und Amen sagt. Um danach zur Tagesordnung zu übergehen: „Der Nächste, bitte!“

Zweifellos werden dann die „paritätische Verwaltung“ und die „Sozialpartnerschaft“ noch besser funktionieren… Ein probates Mittel, damit andere nicht aus der Reihe tanzen. Der skandalöse Fall von Hans Oppliger sollte alle Lohnabhängigen dieses Landes dazu bewegen, in der Schweiz endlich einen Kündigungsschutz für gewählte Personalvertreter zu fordern, der diesen Namen verdient.

900 Milliarden Franken: So viel Vermögen wird von den Schweizer Pensionskassen durch Arbeitnehmende und Arbeitgeber verwaltet, „paritätisch“, versteht sich! Der Fall Hans Oppliger zeigt, was davon zu halten ist. Eine weitere Spielart des bekannten Rentenklaus.

Quelle: sozialismus.ch… vom 11. Januar 2018

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