Präsidentschaftswahlen in Frankreich: Der Weg ins grosse Übel
Kumaran Ira und Alex Lantier. Die erste Runde der französischen Präsidentschaftswahlen endete am Sontag – genau wie die erste Runde der Wahl des Jahres 2017 – damit, dass Amtsinhaber Emmanuel Macron und die Neofaschistin Marine Le Pen am 24. April in die Stichwahl kommen. Das Endergebnis der beiden Kandidaten beträgt 27,8 Prozent bzw. 23,1 Prozent der Stimmen. Der ehemalige Parti-Socialiste-Politiker und Kandidat von La France insoumise (LFI) Jean-Luc Mélenchon erhielt 21,9 Prozent der Stimmen.
Mélenchons Wahlkampfmanager Manuel Bompard sprach in einer nächtlichen Stellungnahme von einem „außerordentlichen Ergebnis“, gab aber zu: „Leider hat uns das nicht für den zweiten Wahlgang qualifiziert.“
Wenn sich diese Zahlen bestätigen, dann wäre es nach den Wahlen der Jahre 2002 und 2017 das dritte Mal, dass es ein neofaschistischer Kandidat bis in die Stichwahl schafft. Die Tatsache, dass die Wähler erneut vor die toxische Wahl zwischen Le Pen und dem rechten „Präsidenten der Reichen“ gestellt werden, entlarvt den politischen Bankrott der Organisationen, die vom herrschenden Establishment zu Unrecht als „links“ dargestellt werden. Sie konnten weder den verachteten Amtsinhaber noch die Neofaschistin schlagen.
Die Wahl hat den Zusammenbruch der Parteien bestätigt, die Frankreich in der Zeit nach dem Generalstreik vom Mai 1968 politisch dominiert hatten. Valérie Pécresse von den rechten Republicains (LR), der jüngsten Inkarnation der Gaullisten, und die Kandidatin der Parti Socialiste (PS), Anne Hidalgo – der beiden wichtigsten Regierungsparteien von 1968 bis 2017 –, erhielten 4,8 bzw. 1,8 Prozent der Stimmen. Der Grünen-Kandidat Yannick Jadot errang 4,6 Prozent und Fabien Roussel von der stalinistischen Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) 2,3 Prozent. Alle diese Kandidaten sind jetzt ausgeschieden.
Der rechtsextreme Journalist Éric Zemmour, der wegen Schürens von rassistischer Volksverhetzung schuldig gesprochen wurde und jenen Teilen des Offizierskorps nahesteht, die nach Beginn der Corona-Pandemie für einen Militärputsch agitiert hatten, erhielt 7,1 Prozent der Stimmen.
Der Wahlkampf für die Stichwahl beginnt vor dem Hintergrund enormer Unsicherheit und großer Entfremdung der Bevölkerung vom politischen Establishment. Der Anteil der Enthaltungen unter den registrierten Wählern lag bei 26,3 Prozent und umfasst damit mehr Personen als die Stimmzahl eines jeden Kandidaten. Umfragen zufolge könnte Le Pen in der Stichwahl 48 oder 49 Prozent der Stimmen erhalten. Ein Sieg über Macron ist eine reale Möglichkeit.
Macron war im Jahr 2017 als Investmentbanker angetreten, der die Wirtschaft revolutionieren würde. Heute gleicht Frankreich einem Trümmerhaufen. In der letzten Woche haben sich fast eine Million Menschen mit Covid-19 infiziert, 768 sind daran gestorben. Dennoch hat die Macron-Regierung die Menschen angehalten, ohne Maske zur Wahl zu kommen, selbst wenn sie Corona-positiv sind. Die Wahl wurde damit vermutlich zu einem Superspreader-Ereignis. Aufgrund der Sanktionen der Nato gegen Russland und des Kriegs in der Ukraine wird Erdgas rationiert, Sonnenblumenöl und andere wichtige Produkte sind knapp geworden.
Macron behauptete am Sonntagabend in einer kurzen Rede, er werde „eine große Bewegung der Einheit“ aufbauen und die französische Bevölkerung mobilisieren, um „der extremen Rechten den Weg zu versperren“. Er erklärte: „Ich bin bereit, etwas Neues zu erfinden, um unterschiedliche Überzeugungen und Empfindungen zusammenzubringen und in den kommenden Jahren ein gemeinsames Handeln im Dienste unserer Nation aufzubauen. Es liegt in unserer Macht.“
Le Pen stellte sich demagogisch als kommende Führerin einer populären, demokratischen Regierung dar. Sie rief Wähler, „von rechts, von links, von überall, unabhängig von ihrem Hintergrund“ auf, „sich dieser großen nationalen Mobilisierung der Bevölkerung anzuschließen“. Vertreter von Le Pens Rassemblement National (RN) erklärten gegenüber der Tageszeitung Libération: „Man kann sagen, dass die Linke der Schlüssel zu dieser Wahl ist.“
Le Pen verband in ihrer Rede Drohungen, „die Immigration wieder unter Kontrolle zu bringen“ mit Versprechen, die Polizei aufzubauen, und mit demagogischen Appellen an den Widerstand gegen Macrons arbeiterfeindliche Politik. Nachdem Macron angekündigt hatte, das Rentenalter auf 65 Jahre anzuheben und Sozialhilfeempfänger zur Arbeit zu zwingen, versprach Le Pen die „Solidarität mit den Schwächeren“ zu verteidigen, sowie „die Möglichkeit auf garantierte Rechte und einen Renteneintritt, wenn wir noch gesund sind“. Vor dem Hintergrund von Meldungen, Le Pen werde versuchen, muslimische Kopftücher zu verbieten, kündigte sie die Verteidigung der „Frauenrechte“ und des „Säkularismus“ an.
Den Neofaschisten wurde eine „linke“ Inszenierung gestattet, weil aus dem politischen Establishment kein linker Widerstand gegen Macrons Präsidentschaft kam. Macron hat faschistische Politik aktiv legitimiert, darunter seine mörderische Reaktion auf Covid-19, man müsse „mit dem Virus leben“. Er hat den Diktator und Nazi-Kollaborateur Philippe Pétain gelobt und gleichzeitig Horden von Bereitschaftspolizisten gegen die „Gelbwesten“-Proteste für soziale Gleichheit mobilisiert. Vertreter der Macron-Regierung haben Le Pen sogar öffentlich als „zu nachgiebig gegenüber dem Islam“ attackiert.
Doch in dieser toxischen Atmosphäre haben die Parteien und Medien, die von der herrschenden Elite als „links“ aufgebaut wurden, ständig dem politischen Gegner von der extremen Rechten das Feld überlassen. Mélenchon und pseudolinke Parteien wie die pablistische Nouveau Parti anticapitaliste (NPA) oder Lutte Ouvrière (LO) haben die „Gelbwesten“ isoliert oder angegriffen. Sie haben sich hinter die von der extremen Rechten angeführten Impfgegnerproteste gestellt, obwohl in ganz Europa fast zwei Millionen Menschen an Covid-19 gestorben sind, 142.000 davon in Frankreich.
Zuletzt hatten sich Mélenchon, die NPA, stalinistische Organisationen wie die Gewerkschaft CGT und die LO im Nato-Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine — in dem die Nato ukrainische Neonazi-Milizen wie das Asow-Bataillon gegen Russland bewaffnet — hinter Macron gestellt.
Wer auch immer die Stichwahl gewinnt, wird einer reaktionären Regierung vorstehen, die in gewaltsame Konflikte mit der Arbeiterklasse geraten wird. Der Wahlsieg einer neofaschistischen Präsidentin birgt enorme Gefahren. Doch die Kandidaten, die jetzt zur Unterstützung Macrons als angeblich kleineres Übel im Vergleich zu Le Pen aufrufen, sind politische Betrüger: Macron ist keine Alternative zu einer neofaschistischen Präsidentin.
Während Zemmour und der unterlegene rechtsextreme Kandidat Nicolas Dupont-Aignan zur Wahl Le Pens aufriefen, stellten sich die meisten der besiegten Kandidaten hinter den „Präsidenten der Reichen“.
LR-Kandidatin Pécresse erklärte: „Ich mache mir große Sorgen um die Zukunft unseres Landes. Die extreme Rechte ist näher an einem Wahlsieg als je zuvor.“ Sie prognostizierte, dass ein Wahlsieg Le Pens zu „Zwietracht, Machtlosigkeit und Versagen“ im Inneren und „dem Verschwinden Frankreichs von der europäischen und internationalen Bühne“ führen werde und sagte: „Deshalb werde ich, trotz der großen Differenzen, die ich im Wahlkampf betont habe, für Emmanuel Macron stimmen, damit Le Pen nicht an die Macht kommt und ein Chaos auslöst.“
Die Grünen, die PS und die KPF haben ebenfalls zur Wahl von Macron aufgerufen. Mélenchon hat deutlich gemacht, dass LFI einen zynischen und kaum verhohlenen Aufruf zur Wahl Macrons veröffentlichen wird. LFI-Funktionäre fürchten den weit verbreiteten Widerstand ihrer Wähler, vor allem in den Arbeitervierteln der Großstädte gegen eine Stimme für Macron oder Le Pen, der 2017 zu Tage trat. Mélenchons Assistent Adrien Quatennens erklärte gegenüber dem Fernsehsender France2, LFI werde eine Mitgliederabstimmung veranstalten, um den weiteren Kurs zu bestimmen. Eine Stimme für Le Pen stehe jedoch nicht zur Debatte.
Der 70-jährige Mélenchon, der bereits erklärt hat, er werde zur Präsidentschaftswahl 2027 nicht antreten, stellte die Tatsache, dass er es nicht in den zweiten Wahlgang geschafft hat, als Sieg dar, der seine Partei stärken wird und behauptete: „Ein neues Kapitel in unserem Kampf beginnt. Ihr werdet es aufschlagen, wir werden es aufschlagen, mit dem Gefühl von Stolz über gute Arbeit.“ Er fügte hinzu, Frankreich stehe vor einer „politischen Notlage“.
Allerdings ist offensichtlich, dass sich Mélenchon darauf vorbereitet, die gleiche reaktionäre Rolle wie 2017 zu spielen: Millionen seiner Wähler vor den Karren von Macrons brutaler reaktionärer Präsidentschaft zu spannen. Tatsächlich sank Mélenchon zum Ende seiner Rede dazu herab, nur immer wieder zu skandieren: „Ihr dürft Le Pen keine Stimme geben! Keine einzige Stimme für Le Pen!“
Tatsächlich zeigt der ganze militaristische und faschistoide Kurs von Macrons eigener Präsidentschaft, dass Mélenchons Perspektive falsch und eine Sackgasse für Arbeiter und Jugendliche ist, die den Aufstieg der extremen Rechten in Frankreich verhindern wollen. Mélenchon ließ auch im Jahr 2017 durchblicken, dass er eine Stimme für Macron und gegen Le Pen bevorzugen würde. Doch im Endeffekt hat LFI Macron geholfen, die Wahl zu gewinnen und einen Rechtsruck der französischen Politik durchzusetzen.
Dieser Rechtsruck wird sich nur durch die Mobilisierung der Arbeiterklasse aufhalten lassen – unabhängig von und gegen das gesamte politische Establishment und auf der Grundlage eines sozialistischen und internationalistischen Programms.
#Bild: Eine Leinwand mit Präsident Emmanuel Macron und der rechtsextremen Kandidatin Marine Le Pen in ihrer Wahlkampfzentrale in Paris am 10. April 2022 (AP Photo/François Mori)
Quelle: wsws.org… vom 12. April 2022
Tags: Arbeiterbewegung, Breite Parteien, Faschismus, Frankreich, Neue Rechte, Sozialdemokratie
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