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Frauen in Afghanistan – Interview mit Nancy Lindisfarne

Eingereicht on 16. Dezember 2021 – 11:54

Die Anthropologin Nancy Lindisfarne beschäftigt sich mit Geschlechterverhältnissen vor allem in islamisch geprägten Ländern. In den 1970er Jahren verbrachte sie einige Zeit in Afghanistan und lebte mit den Paschtunen. Daraus entstanden u.a. die Bücher Bartered Brides: Politics, Gender and Marriage in an Afghan Tribal Society (1991) und Afghan Village Voices (mit Richard Tapper, 2020). Zusammen mit Jonathan Neale betreibt Lindisfarne den Blog annebonnypirate.org . Außerdem erschienen ist die Kurzgeschichtensammlung Dancing in DamascusLinkswende jetzt sprach mit ihr über die Situation von Frauen in Afghanistan.

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Seit die Taliban in Afghanistan die Macht übernommen haben, rückt die Lage der afghanischen Frauen wieder in den Fokus. Wie sieht diese Situation aktuell konkret aus?

Wir müssen zunächst verstehen, was tatsächlich mit den Taliban und der Niederlage der USA passiert ist, militärisch und politisch. Wir haben also eine Gruppe von Leuten, die einen Guerillakrieg geführt und tatsächlich eine Regierung übernommen haben, mit der Idee einen Staat zu regieren aber weiterhin undemokratisch zu sein. Und das hätten sie nicht ohne die Unterstützung der Bevölkerung geschafft – niemand gewinnt einen Guerillakrieg ohne diese Unterstützung, schon gar nicht, wenn die Macht so ungleich verteilt ist. Und das bedeutet, dass die Menschen entschieden haben, dass die Taliban die bessere Wahl sind, als entweder die Besatzungsregierung oder die Warlords.

In Afghanistan leben über 80 Prozent der Bevölkerung in ländlichen Gegenden, in Kleinstädten oder Dörfern. Die breite Unterstützung für die Taliban kommt von Männern ebenso wie von Frauen. Das liegt nicht daran, dass die Taliban von der afghanischen Bevölkerung so tief geliebt werden, sondern einfach daran, dass sie mit ihnen bessere Erfahrungen gemacht haben als mit der Grausamkeit und Korruption der amerikanischen Regierung. Die Situation ist aus vielen verschiedenen Gründen enorm prekär und wir können nicht über Frauen sprechen ohne über die gesamte Bevölkerung zu sprechen. Dass die amerikanische Besatzung und die Regierung von Ashraf Ghani verloren haben, ihr grausames Vorgehen und die Korruption, all das betrifft das ganze Land. Du kannst keinen Krieg führen, Bomben abwerfen und Drohnen schicken und nur die Kämpfer töten.

Die Menschen befinden sich in einer schrecklichen Situation. Die Amerikaner wurden gedemütigt, und eines der schrecklichen Dinge, die sie nach einer Niederlage tun, ist es, sich zu rächen, indem sie Sanktionen als Strafe verhängen. Sie haben das in Vietnam gemacht, im Iran, im Irak und in Kuba. Die Sanktionen werden die Arbeit von Hilfsorganisationen enorm erschweren. Viele Menschen in den Städten arbeiteten für die Besatzung, ihre Arbeitsplätze und damit ihr Geld fallen nun weg. Gleichzeitig befindet sich die ländliche Bevölkerung kurz vor dem Hungertod.

Die Klimaerwärmung ist in Afghanistan seit Jahrzehnten spürbar, es herrschen enorme Hitze und Dürre. Das bedeutet Hunger. Ein Land, das auf Geld und Nahrungsmittelhilfe durch die Besatzung angewiesen war, wird jetzt sich selbst überlassen. In ihrem Rachebestreben hoffen die USA nun, dass Afghanistan im Chaos versinkt, denn keine Regierung ist erfolgreich, wenn sie nicht in der Lage ist, die Bevölkerung zu ernähren. In diesem Chaos wird es erneut einen Bürgerkrieg geben, den die Taliban verlieren werden. Dann können die USA sagen: Seht her, sie haben versagt.

Die andere Perspektive – die positive, wenn man so will – ist, dass die Taliban, auch wenn sie keine Demokraten sind, bisher bewiesen haben, dass sie nicht korrupt sind, und dass sie den Versuch einer stabilen Regierung ernst meinen. Ob sie das unter diesen Umständen schaffen, ist schwer zu sagen. Dass die umliegenden Staaten keinen er­neuten Bürgerkrieg wollen, könnte ihnen helfen.. Das führte in der Vergangenheit zu massiven Flüchtlingsströmen in den Iran und nach Pakistan und außerdem zu radikalisierten islamistischen Gruppen. Auch Russland will das nicht und China ist interessiert daran, Afghanistan in Straßenprojekte quer durch Asien und den Balkan zu integrieren. Es könnte also sein, dass eben diese Staaten – Pakistan, Iran, Russland, China – die notwendigen Hilfsleistungen zur Verfügung stellen.

Wenn wir über die Taliban sprechen, sprechen wir dann über eine Gruppe von ausschließlich männlichen Mitgliedern oder sind auch Frauen aktiv an den Kämpfen beteiligt?

Die Taliban sind ohne Zweifel Sexisten. Aber ich weiß es ganz einfach nicht. Im New Yorker erschien kürzlich ein toller Artikel von Anand Gopal, er heißt „The Other Afghan Women“. Er reiste für etwa sechs Monate durchs Land und interviewte Frauen in den ländlichen Gegenden. Er fragte sie nach ihrem Leben, sie waren alle etwa 40, 50 Jahre alt. Diese 40 Jahre hindurch befand Afghanistan sich im Krieg, und diese Frauen sind sich völlig im Klaren über die Auswirkungen von Besatzungen, der Sowjetunion, des Bürgerkriegs, den Taliban, den Amerikanern und nun wieder den Taliban. Soweit ich weiß, rennen keine Frauen mit schweren Waffen herum, aber diese Frauen kämpfen trotzdem. Sie unterstützen Kämpfer, beschützen die Kinder, verstecken Menschen und sorgen für die Ernte.

Man muss erst einmal verstehen, wie unglaublich groß die Armut in diesem Land ist und wie sehr alle wirklich an einem Strang ziehen müssen. Als ich vor langer Zeit Feldforschung in Afghanistan betrieb, sah ich, dass für die Paschtunen die Zusammenarbeit das wichtigste war. Sonst wären sie verhungert, ihr Land und ihr Vieh wären gestohlen worden. Diese Verletzlichkeit braucht den Zusammenhalt. Das ist also ein wichtigeres Verständnis, als nur an bewaffnete Kämpferinnen zu denken, wie zum Beispiel die kurdischen Frauen.

Die US-Invasion in Afghanistan 2001 wurde nicht nur zum „Krieg gegen den Terror“, sondern auch zum Befreiungsakt afghanischer Frauen erklärt. Was hat sich während der US-Invasion geändert? Gab es tatsächlich eine Frauenbefreiung oder war das hauptsächlich westliche Propaganda?

Es war definitiv eine Entschuldigung, eine Sammlung von Stereotypen um den Krieg zu verkaufen. Aber das begann viel früher. Es gab einen Putsch 1973 und dann einen kommunistischen Putsch 1978. Die Kommunisten wollten Frauenrechte und Landreformen, sie hatten gute Ideen. Aber sie waren auch die gebildeten Leute aus Kabul und anderen Städten. Die ländliche Bevölkerung konnten sie nicht erreichen und überzeugen. Um ihre Ziele zu erreichen, setzten sie Gewalt ein und schließlich kam die Sowjetunion und besetzte Afghanistan, um die Kommunisten zu unterstützen.

Es folgten Jahre des Horrors. Eine Million Menschen wurden ermordet, eine weitere Million verstümmelt, sechs Millionen Menschen flohen nach Pakistan und den Iran, drei bis vier Millionen waren innerhalb des Landes auf der Flucht. Und das in einem Land mit 25 Millionen Einwohnern. Unter dem Strich heißt das, dass die Leute, die Frauenbefreiung und Landreformen forderten, mit ungeheurer Gewalt in Verbindung stehen und das hat die Idee des Feminismus kontaminiert.

In den frühen 90ern unterstützten die USA die Taliban. Der Sexismus war immer da, aber tatsächlich brachten sie Frieden ins Land. Sie machten die Straßen sicher und beendeten den Bürgerkrieg. Aber sie waren auch eine nationale Befreiungsbewegung, die von den Amerikanern nicht kontrolliert werden konnte. Und in diesem Moment, etwa um 1996, begann die Verbreitung dieser Stereotype über die barbarischen, wilden Taliban, kaum menschlich, Monster, und über die passiven afghanischen Frauen, die gerettet werden müssen.

Es war also rund vier Jahre vor 9/11, dass diese Stereotype verbreitet wurden, um die Taliban loszuwerden. Einige Wochen nachdem Bush den Krieg in Afghanistan begonnen hat, hielten seine Frau Laura Bush und Cherie Blair, die Ehefrau von Tony Blair, Reden über die Befreiung der afghanischen Frauen. Man braucht einen Vorwand für einen solchen unmoralischen Angriff, für solche Gewalt gegen ein Land. Von Anfang an hatten die USA ein riesiges Bombenlager angelegt. Wie rechtfertigt man das? Indem man die Befreiung der Frauen benutzt.

Wir haben also die ganze Rhetorik von Frauenrechten, verbunden mit einer extrem gewalttätigen Besetzung. Also – hat es Frauen geholfen? Das kommt etwas darauf an, welche Frauen man meint. Denn offensichtlich gibt es Frauen aus der Mittelschicht, die mit den Besatzern zusammengearbeitet haben, einige von ihnen sind sicherlich echte Feministinnen, andere einfach nur Opportunistinnen. Die Besetzung dominierte einen so großen Teil des Lebens im ganzen Land, dass die Menschen Kompromisse eingehen und manche profitieren natürlich. Aber wenn man das Gesamte betrachtet, ergibt sich ein sehr großer Widerspruch, da das Gerede von Frauenrechten auch mit Gewalt verbunden ist. Das ist eine Tragödie für den Feminismus. Und es wird Menschen geben, Frauen und Männer, da bin ich mir sicher, die wieder für die Rechte der Frauen kämpfen werden, aber sie kämpfen aus einer Position heraus, die durch diese lange Geschichte sehr beschädigt ist.

Gibt es im Moment irgendwelche aktiven feministischen Gruppen oder Bewegungen in Afghanistan?

Ich glaube nicht, aber ich bin mir sicher, dass es sehr viele Menschen gibt, die diese Ideen vertreten. Es gibt sie in den Flüchtlingslagern in Pakistan und anderswo, es gibt sie natürlich in Afghanistan. Aber was sie im Moment tun können, ist sehr begrenzt.

In den Medien gab es in letzter Zeit viele Vergleiche der Situation der Frauen heute, unter den Taliban, und in den liberalen 1970er Jahren. Im Wesentlichen beschränkte sich das auf die Gegenüberstellung der Frau im Minirock und der Frau in Burka. Im Grunde ist diese Diskussion an sich ja schon sehr von Sexismus geprägt. Wie frei waren Frauen in den 60er und 70er Jahren wirklich?

Man muss hier über soziale Klassen nachdenken. Zum einen war ein Großteil der Bevölkerung Bauern, Hirten oder Pächter, also Bauern die nicht einmal eigenes Land bewirtschafteten, sondern für andere arbeiteten. Zum anderen gab es die Großgrundbesitzer, die Landlords, die diese landwirtschaftlich genutzten Gebiete kontrollierten. Und dann gab es noch eine kleine Mittelklasse, die dieselben Wünsche hatte wie alle in den 60ern und 70ern: Sex, Drugs und Rock’n’Roll, Bildung, Mitbestimmung und so weiter.

Es gab also einen riesigen Spalt zwischen den Klassen. Es herrschten großartige Freiheiten in Städten wie Kabul, und auch in den ländlichen Gegenden gab es mehr Bestrebungen nach Unabhängigkeit, als die meisten verstanden haben, jedoch eingeschränkter. Die Erfahrung während meiner Feldstudien war die: weil die ökonomische Situation so prekär war, konnten Frauen ihren eigenen Haushalt führen und taten das auch manchmal. Ich kannte eine erstaunliche Frau, sie nahm mich bei sich auf, und sie war bekannt als Oberhaupt der Frauen. Sie nahm auch tatsächlich an den Diskussionen der Dorfvorsteher teil. Es gab einen viel größeren Spielraum für Partizipation, weil die Menschen jeden brauchten. Und ich denke, dies ist nicht die Art von Frauenrechten, die wir gerne hätten, aber es gab keinen großen Unterschied zu den Männern, die in denselben Haushalten lebten. Und ich denke, das ist ziemlich wichtig, um die Unterdrückung sowohl von Männern als auch Frauen unter diesen Umständen zu verstehen.

Du hast nicht nur in Afghanistan Feldforschung betrieben, sondern auch in vielen anderen islamisch geprägten Ländern, zum Beispiel in Syrien. Siehst du Parallelen? Welche Rolle spielen Tradition und Religion?

Ich war zunächst im Iran, dann in Afghanistan, danach in der Türkei und in Syrien. Mein damaliger Partner Richard Tapper und ich hatten gehofft, dass wir noch einmal in dieselbe Gegend in Afghanistan zurückkehren könnten, aber das war nach der russischen Invasion nicht mehr möglich. Aber wir wollten den praktizierten Islam studieren, den Islam des Alltags. Wir wollten zu den Menschen in den Dörfern gehen, den Hirten, dort kannten wir uns schon aus und hatten Kontakte. Wir wollten wissen, was der Islam für diese Menschen bedeutet. Es gab beinahe keine Studien dieser Art im Mittleren Osten.

Der Islam, den wir in Afghanistan kennenlernten, war sehr tolerant. Ich erinnere mich an eine Debatte: Manche glaubten, dass Menschen – vor allem Frauen – von bösen Geistern bewohnt werden. Ich erinnere mich an eine ziemlich lange Diskussion mit einem Sufi Pir (spiritueller Meister im Sufismus), der eine Frau exorzieren sollte, von der man sagte, dass sie von einem Dschinn besessen sei. Die Frau hatte viele Kinder verloren und war sehr krank. Und wir fragten: Können wir Fotos machen? Können wir das Tonbandgerät mitlaufen lassen? Und der Sufi Pir meinte: Wahrscheinlich keine Fotos, aber ja klar, ihr könnt Tonaufnahmen machen, das ist ok. So akzeptabel war das. Es gab diese Spaltung zwischen den schiitischen Hazaras und den Sunniten, welche die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, aber selbst hier rauften sich die Menschen zusammen, es gab ein hohes Maß an Toleranz. Es gab rituelle Feste, Momente in denen die Menschen teilten und soziale Grenzen überwanden, so wie es bei uns an Weihnachten oder Ostern ist.

Nancy schreibt: „1971 und 1972 lebten Richard Tapper und ich fast ein Jahr lang bei afghanischen Dorfbewohnern, den Piruzai. Hajji Tuman war während unseres gesamten Aufenthalts bei den Piruzai unser Gastgeber. Dies ist ein Bild von Tuman und seiner Tochter Maygol. Sie waren verrückt nacheinander.” Quelle: https://annebonnypirate.org

Ok, wir konnten also diese Feldforschung nicht in Afghanistan machen, also entschieden wir uns, sie in einer kleinen Stadt in der Türkei zu machen. Das war in den späten 70ern. Als wir die Vorbereitungen trafen, mit Gelehrten in Ankara und Istanbul und mit Menschen vor Ort sprachen, sagten alle: Was zum Teufel wollt ihr mit dem Islam machen, der Islam ist erledigt. Völlig am Ende. Die Türkei ist ein säkularer Ort, natürlich gibt es einige traditionelle Muslime, aber das ist nichts, absolut nichts. Wir machten die Studie trotzdem, und sie wurde als komplett irrelevant angesehen, wir erforschten etwas, das vergangen war. Nun ja, was dann folgte, passierte zum Teil auch aufgrund der Geschehnisse in Afghanistan. Der Widerstand gegen die sowjetische Invasion wurde im Namen des Islams geführt, das verband die Menschen. Dasselbe passierte in anderen Gegenden des Nahen Ostens, mit Saddam Hussein, den Assads, oder in Ägypten – das waren Regime, die anfangs sozialistisch oder kommunistisch waren, und dann korrupt wurden – korrupte, brutale Diktaturen. Aber sie waren säkular, und diese Säkularität war kontaminiert. Es ist nichts falsch an der Idee an sich, aber sie war verknüpft mit einem Regime, das Menschen wegsperrt und ermordet. Und einer der Orte, wo sich Menschen vereinen können, widerstehen können, ist der Islam, der immerhin sagt: „Alle Muslime sind gleich.“

Haben Frauen in Afghanistan Zugang zu Bildung? Welche Rolle spielt sie in ihrem Leben?

Hier muss man wieder an die Armut denken. Wenn man sich tatsächlich jeden Tag die Finger wund arbeiten muss, um zu essen, ist das nicht gerade das Wichtigste. Ich erinnere mich an Freundinnen im Dorf – das war 1970 – die mit ihren Brüdern oder anderen gebildeten Personen sprachen, und sie lernten ihre Namen zu schreiben. Natürlich wussten sie, wie wichtig lesen und schreiben ist. Ich wohnte im Haus des Dorfoberhauptes. Der hatte zwei Ehefrauen und beide waren sehr stolz, dass sie mehrere Söhne hatten, wovon jeweils einer als Mullah ausgebildet wurde. Einer der beiden jungen Männer würde wahrscheinlich der Mullah für die gesamte Gemeinschaft werden und der andere würde die Rolle seines Vaters übernehmen. Als Oberhaupt musste man lesen und schreiben können. Unser Gastgeber konnte Persisch und Paschtu lesen und er konnte genug Arabisch, um den Koran zu lesen. Er konnte Nachrichten schicken, Pachtverträge lesen und so weiter. Im Dorf gab es eine Koranschule, die vom Mullah geführt wurde. Aber sie war nur für Jungs, und nur für sehr wenige, weil man die Arbeitskräfte nicht entbehren konnte. Also wieder muss man verstehen, wie prekär die gesamte Situation für die Menschen war.

In den Städten haben die Mädchen in den 70ern sogar so etwas wie Bildung bekommen, es gab Schulen und es war für Mädchen genauso möglich, sie zu besuchen, wie für Jungs. Aber auch hier galt das nur für eine sehr kleine privilegierte Gruppe. Ich glaube niemand, Männer oder Frauen, hat Illusionen, wie wichtig all das ist, aber in der Praxis sind sie nicht in der Lage, es umzusetzen. Das liegt auch daran, dass die Amerikaner ihr Versprechen, Schulen zu bauen, nicht erfüllt haben. Sie hatten Subunternehmer beauftragt, aber das wurde nicht weiterverfolgt. Es war alles nur oberflächlich, fast alles. Aber wir wissen, dass Frauen natürlich privat – wo sie konnten und wo es gebildete Frauen gab – kleine Schulen für Frauen in ihrer Umgebung betrieben. Die Menschen tun, was sie können.

Was können wir tun, um die Menschen in Afghanistan zu unterstützen?

Ich denke, eines der wichtigsten Dinge ist es, sich für humanitäre Unterstützung, Verständnis und Empathie einzusetzen. Es ist wichtig zu verstehen, dass nicht nur die Kollaborateure das Land verlassen wollen, sondern dass während eines 40 Jahre andauernden Kriegs jeder zum Kollaborateur wird. Du machst Dinge, die du nicht tun willst. Du verhältst dich auf eine Weise, für die du dich schämst, weil du versuchst, zu überleben. Die Gewährung von Asyl soll Menschen helfen die Hilfe brauchen, und nicht entscheiden, ob sie gute oder schlechte Menschen sind oder ob sie während der Besatzung schlimme Dinge getan haben.

Offensichtlich müssen wir uns dafür einsetzen, dass so viele Menschen wie möglich Asyl bekommen. Aber ganz konkret braucht es auch humanitäre Organisationen, die nach Afghanistan gehen. Aber sie werden durch das US-Embargo gestoppt. Wir müssen dafür sorgen, dass sich Regierungen schämen, dass sich alle schämen für diese menschliche Tragödie. Und wir müssen die Verbindung zum Klimawandel sehen. Wir müssen wirklich verstehen: So wird es uns allen gehen – oder zumindest den meisten von uns.

Wir brauchen eine Bewegung, die gegen Islamophobie kämpft, die den Menschen entgegentritt, die sagen: „Die Taliban sind so schrecklich“ – wer zum Teufel schert sich darum, wie die Taliban sind, wenn Menschen verhungern! Natürlich ist es sehr schwer zu sagen, was zu tun ist. Aber es wird uns nicht weiterbringen, vor einer amerikanischen Botschaft herumzusitzen. Und wir müssen uns klar machen, dass die meisten Menschen keine Möglichkeit haben, das Land zu verlassen, auch wenn sie möchten. Es geht auch darum, diesen Menschen zu helfen, den Menschen, die hungern und daran sterben werden. Hungersnöte sind nie nur natürliche Ereignisse. Hungersnöte sind immer politisch geprägt und haben immer einen Klassenaspekt: Es sind die Ärmsten und Schwächsten, die verhungern. Und die Reichen verdienen oft noch daran.

Man muss also von Hungersnot sprechen, von extremer Armut, von der Zerstörung durch den Krieg. In diesen Begriffen denken, heißt auch, an die Klimazerstörung zu denken. Wir als Sozialist_innen müssen uns mit Umweltgruppen und Öko-Sozialist_innen vereinen. Das ist ein guter Anfang, denn am Ende ist es genau das, was wir Sozialist_innen tun wollen.

Das Interview führte Katharina Anetzberger

Quelle: linkswende.org… vom 16. Dezember 2021

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