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Italienische Wahlen: Ein weiterer Schlag für die Europäische Union

Eingereicht on 21. März 2018 – 9:24

Dave Stockton. Bei den italienischen Nationalwahlen konnten weder die einzelnen Parteien noch die beiden großen Koalitionsblöcke genügend Sitze für eine Mehrheit im Parlament erringen.

Die großen Gewinnerinnen am 4. März waren zweifellos die Fünf-Sterne-Bewegung (MoVimento 5 Stelle) mit 32,6 % und die Lega Nord (La Lega) mit 17,4 %. Diese populistischen Parteien, die nie an der Regierung beteiligt waren, verdrängten die traditionell regierenden Kräfte der Demokratischen Partei (Partito Democratico, PD) mit 18,7 % und Silvio Berlusconis seit 2013 wieder umbenannte Forza Italia (FI) mit 14 %.

Weil die Fünf-Sterne-Bewegung allein über keine Mehrheit verfügt, hat sie ihr Versprechen aufgegeben, nicht in einer Koalition zu regieren. Da sie behauptet, „weder links noch rechts“ und „post-ideologisch“ zu sein, dürfte ihre Suche nach einer Regierungspartnerin auch durch ihre berühmten fünf Prinzipien nicht behindert werden: öffentliche Wasserversorgung, umweltfreundlicher Verkehr, nachhaltige Entwicklung, Recht auf Internetzugang und Umweltschutz.

Die Fünf-Sterne-Bewegung teilt die demagogischen Angriffe der Lega auf die 600.000 MigrantInnen, die seit 2013 nach Italien eingereist sind und denen von den EU-„Partnern“ Frankreich und Österreich die Einreise verweigert wurde. Matteo Salvini, Lega-Politiker und ein ekelhafter, rassistischer Demagoge, will sie alle abschieben. Wie und wohin kann er nicht sagen. Berlusconi und seine Forza Italia haben ihre „humane“ Version hinzugefügt: „Wir müssen verhindern, dass Rassismus Wurzeln schlägt, indem wir auf humane Weise alle Illegalen ausweisen und den ItalienerInnen ein Gefühl der Sicherheit zurückgeben.“

Verbunden mit der Lega und Forza Italia sind die „post-faschistischen“ Fratelli d’Italia (Brüder Italiens, FdI), die fast 1,5 Millionen und somit 19 Sitze gewannen. Sie sind Nachfolger der Movimento Sociale Italiano (Italienische Sozialbewegung, MSI) und der Alleanza Nazionale, obwohl sie sich heute als national-konservativ bezeichnen. Zusammen mit der Lega bilden sie eindeutig eine rassistische und gegen die ArbeiterInnenklasse gerichtete Kraft, die in einer schweren wirtschaftlichen und sozialen Krise leicht zu ihren faschistischen Wurzeln zurückfinden könnte.

Während die Lega den Norden erobert hat – einschließlich der Industriegebiete, in denen die alte Kommunistische Partei Italiens (Partito Comunista Italiano, PCI) stark war – und die zentralen Provinzen um Rom herum, hat die Fünf-Sterne-Bewegung den Mezzogiorno (Süden) einschließlich Sizilien erobert und Berlusconi in seinen ehemaligen Hochburgen geschlagen. Die Fünf-Sterne-Bewegung gewann 49 % in Kampanien, 48 % in Sizilien, 44 % in Apulien, 43 % in Kalabrien und der Basilikata und 42 % in Sardinien. Es ist klar, dass Luigi Di Maio unter Druck stehen wird, etwas Sinnvolles für seine verarmte Wählerschaft zu tun. Um diesen Sieg zu erreichen, hat die Fünf-Sterne-Bewegung den vielen arbeitslosen Jugendlichen in der Region ein allgemeines Grundeinkommen sowie ein hartes Durchgreifen im Kampf gegen die enorme, die italienische Politik verseuchende Korruption versprochen.

Der krisengeschüttelte Kapitalismus

Doch der italienische Kapitalismus steckt nach wie vor in großen Schwierigkeiten, sowohl aus heimischen als auch internationalen Gründen. Offensichtlich haben sich sowohl die Sparmaßnahmen der Europäischen Union als auch der Druck des italienischen Großkapitals auf Regierungen der Rechten wie der „Linken“ als unfähig erwiesen, auch nur ein Problem des italienischen Kapitalismus zu lösen. Ja, sie haben diese nur explosiver gemacht.

Entscheidend ist, die enormen inneren Widersprüche und Ungleichheiten des italienischen Kapitalismus zu verstehen. Einerseits basiert er auf einem hochentwickelten, massiv konzentrierten und stark zentralisierten Finanzkapital sowohl im Industrie- als auch im Bankensektor, andererseits prägt ihn ein hoher Anteil an kleinen und mittleren Unternehmen. All dies geht einher mit einer dramatischen regionalen Kluft zwischen einem hochentwickelten Norden und dem verarmten Süden – einem Phänomen, das in anderen großen imperialistischen Ländern Europas nicht zu sehen ist.

Während des letzten Jahrzehnts seit Beginn der globalen Krisenperiode sind sowohl das italienische Finanzkapital als auch die kleinen Unternehmen dramatisch erschüttert worden. Die italienischen Banken waren vom Zusammenbruch bedroht und erhielten große staatliche Rettungspakete. Gleichzeitig haben viele der kleineren Unternehmen enorme Schulden bei Banken gemacht, die sie zunehmend nicht mehr begleichen konnten. Derzeit haben die italienischen Banken noch immer mehr Forderungsausfälle als der Rest der Eurozone zusammengerechnet. Auch der italienische Staat weist – neben Griechenland – mit 132,6 % die höchste Verschuldung im Verhältnis zum BIP auf. Diese Schuldenlast bedroht das Land und die EU mit einer Staatsinsolvenz. Diese kann jedoch nur durch einen erneuten, heftigen Angriff auf die ArbeiterInnenklasse und die Armen oder durch staatliche Eingriffe in den „Markt“, d. h. durch eine ArbeiterInnenregierung, die auch vor der Enteignung von Finanzkapital nicht Halt macht, verhindert werden.

Die Europäische Kommission wird weiterhin von der italienischen Regierung verlangen, dass sie Strukturreformen durchführt und die Haushaltsdisziplin verschärft, auch wenn dies – anders als in Griechenland – mit einigen Geschenken an die herrschende Klasse kombiniert werden kann und die Zinsen durch die Europäische Zentralbank niedrig gehalten werden. Auch die Wertpapiermärkte werden mit einer Erhöhung der Risikoprämie bei Staatsanleihen auf einen starken Anstieg der Staatsausgaben reagieren.

Politische Krise hält an

Die großen Siegerinnen der Wahlen – populistisch und rassistisch wie sie sind – werden es jedoch schwer haben, in eine Regierung der Austerität und offenen Angriffe einzutreten, welche auch ihre WählerInnen sofort zu desillusionieren erfordern würde. Außerdem wäre eine solche Regierung anfällig für demagogische Attacken seitens der parlamentarischen Opposition. Zudem ist es unwahrscheinlich, dass sich die verschiedenen „Anführer“ einander unterordnen.

Es ist unwahrscheinlich, dass Salvini sich Di Maios Führung oder Programm unterwerfen wird, das riesige Subventionen für den Süden beinhalten würde. Immerhin hat die Lega Jahrzehnte damit verbracht, den Süden als untätigen Schmarotzer an Steuern des hart arbeitenden Nordens zu stigmatisieren, ja sogar die Abspaltung von Italien und die Gründung eines neuen Staates namens Padania (nach dem Lateinischen für den Fluss Po) zu fordern.

Könnte sich die Fünf-Sterne-Bewegung also mit der anderen Partei der „Kaste“ verbünden – ein Begriff, den sie von Podemos in Spanien übernommen haben? Auch das wäre schwierig, da die letzten Ministerpräsidenten der DP, Matteo Renzi und Paolo Gentiloni, sowohl das Gesetz zur Deregulierung der Beschäftigung verabschiedeten als auch eine Arbeitsmarktreform, die Kürzungen der Armutsbekämpfungsprogramme, für RentnerInnen und der Sozialausgaben beinhaltete. Dennoch ist eine solche Zusammenarbeit nicht unmöglich, wenn man bedenkt, wie sehr die DP gedemütigt wurde – vom größten Wahlblock (Mitte-Links-Koalition) zur dritten Kraft und von ehemals fast 9 Millionen auf etwas mehr als 6 Millionen Stimmen abgerutscht. Die DP ist daher kaum in der Lage, hart zu verhandeln, und würde wahrscheinlich noch mehr Sitze und Stimmen verlieren, wenn sich Neuwahlen als notwendig erweisen.

In den kommenden Monaten ist jedoch eine anhaltende politische Krise nahezu sicher. Eine solche Entwicklung wäre aber nicht nur durch eine Manöverphase zwischen parlamentarischen Fraktionen, den alten und neuen Eliten, geprägt, sondern könnte angesichts der strukturellen Wirtschaftsprobleme des italienischen Kapitalismus zum Ausbruch einer Schulden- und Finanzkrise führen, die wiederum die gegenwärtige, leichte wirtschaftliche Erholung in der EU beenden würde. All dies deutet auf eine Intervention der EU, aber auch des italienischen Staatspräsidenten hin, um diese politische Krise zu „lösen“ – zum Beispiel durch eine Regierung von ExpertInnen oder TechnokratInnen.

Die extreme Rechte und die radikale Linke

Angesichts dieses politischen Durcheinanders könnten Kräfte außerhalb der Konkurrenten in diesem Machtkampf tatsächlich wachsen und die Situation für sich nutzen. In diesem Fall müssen wir die Stärke der radikalen Rechten, der ReformistInnen und der radikalen Linken betrachten.

Das Abschneiden der Linken war jämmerlich. Die kampferprobten AktivistInnen der großen Mobilisierungen gegen G8 in Genua 2001 oder des Europäischen Sozialforums 2002 in Florenz werden sich an die beeindruckende Vorstellung der italienischen Rifondazione Comunista (Partei der Kommunistischen Wiedergründung) erinnern. Mit historischen Wurzeln in der Partito Comunista Italiano (PCI) und ihrer Verankerung im Netzwerk sozialer Zentren der antikapitalistischen Bewegung im ganzen Land wurde sie zu einem neuen Modell für die europäische Linke. Sie spielte eine führende Rolle in der Antikriegsbewegung, die am 15. Februar 2003 drei Millionen Menschen auf die Straßen Roms mobilisierte.

Doch was ist aus dieser Bewegung geworden? Tatsächlich bleibt nur noch Potere al Popolo (Power to the People, PaP; deutsch: Macht dem Volk) übrig, das sich bei der Wahl als populistisches Bündnis ähnlich Spaniens Podemos präsentierte und gerade 1 % der Stimmen und somit keine Sitze gewinnen konnte. Noch bei der Wahl 2006 hatte Rifondazione 5,83 % der Stimmen und 41 Sitze erhalten. Wie konnte sie so tief fallen? Die Antwort ist einfach: Rifondazione trat in eine bürgerliche Regierung ein, die die ArbeiterInnenklasse attackierte. Der Eintritt in eine von der Demokratischen Partei angeführte Koalition erfolgte als angeblich kleineres Übel im Vergleich zu Silvio Berlusconi. Rifondazione verteidigte die Sozialkürzungen und stimmte für militärische Interventionen im Libanon und in Afghanistan – inklusive Ausschluss der beiden SenatorInnen, die gegen diese Einsätze gestimmt hatten. Doch für was das alles? Nur zwei Jahre später kehrte Berlusconi in sein Amt zurück und Rifondazione gewann keinen einzigen Sitz, so dass zum ersten Mal seit 1945 kein/e einzige/r kommunistische/r Abgeordnete/r im italienischen Parlament vertreten war.

Mit der Partei zerfielen die sozialen Bewegungen und die radikale Linke zersplitterte in winzige Sekten, was ein lebendiger Beweis dafür war, dass der Lohn für Opportunismus der politische Tod ist. Sogar diejenigen, die gegen den Ausverkauf von Rifondazione waren, haben sich schlecht geschlagen. Der „Block für eine revolutionäre Linke“, angeführt durch Marco Ferrando von der PCL (Partito Comunista del Lavoratori; Kommunistische ArbeiterInnenpartei), letztere 2006 als Abspaltung von Rifondazione gegründet, erhielt nur knapp 30.000 Stimmen bzw. 0,08 %.

Dies spiegelt eindeutig eine historische sowohl organisatorische und als auch politische Krise der ArbeiterInnenklasse und der Linken wider, die durch den Niedergang der sozialen Bewegungen, die Unterstützung der Regierung Renzi durch den Gewerkschaftsbund CGIL (Confederazione Generale Italiana del Lavoro) und die allgemeine Schwächung der ArbeiterInnenbewegung noch verschärft wird. Darüber hinaus hat der Populismus der Fünf-Sterne-Bewegung die Linke weiter fragmentiert und desorientiert. Auf Grund der Kombination aus Anti-Elitentum, post-modernen Formen im Wesentlichen plebiszitärer „Demokratie“ und ihrer EU-feindlichen Haltung verliebte sich ein ganzer Teil der italienischen Linken in einen autoritären, sich selbst inszenierenden Komödianten (Beppe Grillo), dessen Slogan für den Umgang mit der Korruption italienischer PolitikerInnen „Vaffanculo!“ („Leck mich am Arsch!“) war.

Die radikale Linke hat die Augen vor seiner im Wesentlichen rechtsgerichteten Politik einschließlich seines anti-europäischen, italienischen Nationalismus verschlossen. Von hier aus war es nur ein kleiner und logischer Schritt, Rassismus zu schüren und mit den „respektablen“ Parteien (DP, FI) und der extremen Rechten zu konkurrieren, die sich entschiedener gegen Geflüchtete und „GastarbeiterInnen“ wenden würden. Es zeigt einmal mehr, dass das Spiel mit einer nationalen, isolationistischen Antwort auf die Krise der EU und die Bildung eines europäischen imperialistischen Blocks à la Brexit keine Chance für radikale sozialistische Politik liefert, sondern eine reaktionäre Antwort. Wie in gesamtitalienischem Maßstab wird auch ein internationalistisches Programm und eine Politik, die das gemeinsame Interesse der ArbeiterInnenklasse und der Massen in den Vordergrund stellt, einen Ausweg für die italienische Linke und ArbeiterInnenklasse bieten.

Andernfalls drohen weitere Zersplitterung und weitere Niederlagen – sei es durch eine Regierung der SiegerInnen bei den jüngsten Wahlen oder einer aus TechnokratInnen. Darüber hinaus wenn die Linke keine politische Antwort, basierend auf einem Aktionsprogramm, zur Bewältigung der Krise geben kann, könnte die radikale Rechte, einschließlich der faschistischen Kräfte, somit leicht von der Ernüchterung der Bevölkerung durch die nächste Regierung profitieren.

Es gibt zwei offen faschistische Organisationen. CasaPound Italia (CPI), angeführt von Gianluca Iannone, erhielt mehr als 300.000 Stimmen und knapp 1 %, Forza Nuova (FN; deutsch: Neue Kraft), angeführt von Roberto Fiore in der Koalition „Italien den ItalienerInnen“, erzielte 125.000 Stimmen, was nicht einmal 0,5 % entspricht. Zwar stellen diese Gruppierungen keine ernstzunehmende politische Kraft an der Wahlurne dar, dennoch sei daran erinnert, dass auch die Nazis 1928 und somit fünf Jahre vor der Machtübernahme nur 2,8 % der Stimmen (damals 810.000 von 31 Millionen WählerInnen) gewonnen hatten. Der Faschismus beginnt seinen Aufstieg nicht in den Wahlkabinen, sondern auf den Straßen.

Dies zeigt sich jetzt schon durch eine Serie physischer Angriffe auf Flüchtlinge, ImmigrantInnen und Linke, hinter denen CasaPound Italia und Forza Nuova stehen. Es ist nicht verwunderlich, dass sie sich auf Benito Mussolinis faschistisches Programm von 1919 rückbeziehen. Aber um eine Chance zu haben, ihn nachzuahmen, müssen sie der Bourgeoisie zunächst einen Dienst erweisen, indem sie in einer Zeit tiefer wirtschaftlicher und politischer Krise einen drohenden ArbeiterInnenwiderstand zerschlagen.

Die Wahlen im Jahr 2018 haben die bürgerlichen Parteien – dem Muster der britischen und deutschen Wahlen folgend – vor ernsthafte Probleme gestellt. Für die herrschende Elite Italiens stellt sich nun die Frage, ob sie die offen rassistischen PopulistInnen der Lega ins Amt holen soll, die dem Euro kritisch gegenüberstehen und klare Ansagen gemacht haben, 600.000 Geflüchtete und MigrantInnen auszuweisen. Oder soll sie versuchen, die Fünf-Sterne-PopulistInnen zu zähmen, die ihren WählerInnen teure Versprechen gemacht haben. Eine Große Koalition hingegen würde dem Versuch gleichkommen, Öl und Wasser zu vermischen.

Für die italienische Linke – ReformistInnen und Möchtegern-RevolutionärInnen – ist es fast ein Jahr Null. Italien kann sich auf eine lange Tradition von MassenarbeiterInnenparteien, militanten Gewerkschaften sowie linken und spontanen Aufständen libertärer Jugendlicher stützen. Aber um etwas zu erreichen, ist es essentiell, die harten Lehren aus den letzten zwanzig Jahren zu ziehen. Dazu gehört es, den parlamentarischen Kretinismus abzulehnen, ohne Wahlen als solchen den Rücken zu kehren. Dazu gehört auch die Ablehnung von Volksfront-Bündnissen mit offen bürgerlichen Parteien, um „die Rechte zu blockieren“ und das vermeintlich geringere Übel zu wählen.

Wahrscheinlich werden sie in den wenigen verbliebenen Hochburgen von vorne anfangen und sich auf die Gewerkschaften stützen müssen, die sich gegen die Angriffe der neuen Regierung wehren werden, wenn sie kommen. Offensichtlich wird die Verteidigung der Geflüchteten ein kritischer Ansatzpunkt sein, da mit Sicherheit entweder eine „Mitte-Links“- oder eine Rechtsregierung sie angreifen wird.

Um aber eine neue Kampfpartei der italienischen ArbeiterInnenklasse aufzubauen, ist ein revolutionäres Programm unerlässlich, um das Debakel von Rifondazione und die versäumten Chancen der mächtigen sozialen Bewegungen der frühen 2000er Jahre nicht zu wiederholen.

Quelle: <arbeiterinnenmacht.de… vom 21. März 2018

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