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Schweiz: Wahlen 2015 für wen und wozu?

Eingereicht on 21. August 2015 – 16:05

Willi Eberle. Am 18. Oktober 2015 finden die helvetischen Wahlen in die beiden nationalen Parlamente, und danach, im Dezember, die Bundesratswahlen statt. Um welche politischen Inhalte und Weichenstellungen, wenn überhaupt, geht es dabei? Hat die Arbeiterklasse überhaupt eine Aussicht auf eine politisch unabhängige Vertretung im Nationalrat oder gar im noch konservativeren Ständerat?

Es sei vorausgeschickt: die parlamentarische Demokratie mit direkt-demokratischen Elementen, wie sie die Schweiz kennt, ist ein unerlässlicher Faktor in der Entwicklung einer unabhängigen Position der Arbeiterklasse im politischen Kräfteverhältnis. Erstaunlich ist jedoch, dass dies in der Schweiz, wo gerade die Institutionen der direkten Demokratie international am weitesten entwickelt sind, die Arbeiterklasse im politischen System durch keine unabhängige Partei vertreten wird – diesbezüglich also keine bessere Ausgangsposition hat, um ihre Interessen zu formulieren und durchzusetzen als andernorts. Hierzulande gilt, wie seit Jahrzehnten an den meisten Orten, dass sich die politischen Institutionen in der Hand der Interessen der wichtigen Segmente der Bourgeoisie befinden und gemäss der neoliberalen Programmatik umgebaut werden.

Es sei an das Wort von Engels erinnert, dass «das allgemeine Stimm- und Wahlrecht der Gradmesser der Reife der Arbeiterklasse ist. Mehr kann und wird es nie sein im heutigen Staat». In diesem Sinne kann festgestellt werden, dass die Schweizer Arbeiterklasse keine politischen Instrumente hat, um die aktuellen politischen Aufgaben in ihrem Interesse anzugehen. Dies wird sich auch bei den Wahlen vom 18. Oktober nicht ändern.

Politische Detailkorrekturen nach der Wende der neunziger Jahre

Bei den nationalen Wahlen wird es um politische Justierungen zur Weitertreibung der neoliberalen Reformen gehen, die in den 90er Jahren eingeleitet wurden: Die Klärung der Einpassung des Schweizer Kapitalismus in das imperialistische System, insbesondere die Frage des Verhältnisses zur EU; ferner um die Immigration in Verbindung mit der Arbeitsmarktliberalisierung und mit der Asylpolitik, die Sicherung des Finanzplatzes, die Stärkung des sogenannten Wirtschaftstandortes z.B. über eine unternehmerfreundliche Steuerpolitik und dem Ausbau der Eigentumsrechte und weitere Schritte zum Abbau der Sozialversicherungen, insbesondere der Altersvorsorge. Diese Probleme stehen seit dem Ende der 1980er Jahre im Zentrum der Restrukturierung der helvetischen Politiklandschaft.

Dabei kam es zu erheblichen Verschiebungen der Wählerstärke der systemtragenden Parteien SVP, FdP, CVP, SPS, Grüne, und es entstanden innerhalb dieser Konstellation Abspaltungen, wie die BDP und die GLP (beide 2007), die tendenziell aber wieder an Bedeutung verlieren werden. Dabei muss festgehalten werden, dass das ganze Gebilde der politischen Konkordanz innerhalb der vergangenen 25 Jahre nach rechts gerückt ist, das heisst, dass der nationalistische Diskurs um das vermeintliche Erfolgsmodell Schweiz an Bedeutung zugenommen hat.

Insgesamt hat sich über diese Periode der Trend der abnehmenden Wahlbeteiligung fortgesetzt, mit einer Trendumkehr Mitte der 1990er Jahre; so lag diese in den 1950er Jahren noch bei 70 % während sie auf dem Tiefpunkt von 1995 bei 40 % lag. Der Aufstieg der SVP vermochte die Jungen bis 25 Jahre und die Alten wieder für die Wahlen zu mobilisieren, so dass die Wahlbeteiligung 2011 bei knapp 50 % lag. Diese Mobilisierung zentrierte sich um nationalistische Themen wie der Abgrenzung gegen die EU, die UNO und um die Ausgrenzungspolitik insbesondere gegenüber von Flüchtlingen und randständigen Bevölkerungsgruppen. Dabei bleibt festzustellen, dass die ausländische Wohnbevölkerung seit der Mitte der 1960er Jahre über 15 % und seit dem Ende der 1990er Jahre über 20 % liegt. Dieses Fünftel der Bevölkerung hat keine politischen Rechte; es kann wohl davon ausgegangen werden, dass deren politischen Präferenzen mittlerweile in etwa dem Schweizer Durchschnitt entsprechen, vielleicht abgesehen von der Frage der EU-Integration.

Diese politische Konstellation erlaubte es bis anhin, die helvetische Bourgeoisie bei der Lösung ihrer wichtigsten Probleme politisch abzustützen. Aber der Imperialismus als Ganzes verändert sich immer schneller, die Kräfteverhältnisse in der Konkurrenz der globalen Kapitalfraktionen verschieben sich in hohem Tempo angesichts der sich akzentuierenden Krisenprobleme. Dies erfordert von der helvetischen Bourgeoisie noch weitergehende politische Handlungsmöglichkeiten. Die gegenwärtige Schweizer Politlandschaft scheint u.E. vorläufig zumindest für die politische Abstützung der Bewahrung und Stärkung der Interessen des helvetischen Kapitalismus innerhalb der sich verschärfenden Situation des imperialistischen Gesamtzusammenhangs genügend zu sein.

Nun ist politische Stabilität gefragt

Ab den neunziger Jahren erfolgten die entscheidenden politischen Weichenstellungen in Richtung einer Verschlechterung der Asylgesetzgebung, der Angriffe auf die Altersvorsorge und die Invalidenversicherung, der Finanzierung des Gesundheitswesens, eines Vorwärtstreibens der Arbeitsmarktliberalisierung insbesondere mittels der Personenfreizügigkeit mit der EU, einer Etablierung von Freihandelsabkommen mit einzelnen Ländern oder Ländergruppen, der bilateralen Verträge mit der EU, eines Umbaus des Steuersystems zugunsten der Unternehmer und der Reichen. Dabei musste die Schweizer Bourgeoisie auch Rückschläge einstecken, gerade hinsichtlich des Bankenplatzes (Bankgeheimnis und nachrichtenlose Vermögen). Aber insgesamt konnte sie bedeutende Fortschritte erzielen im Ausbau ihrer Position in der sich verschärfenden imperialistischen Konkurrenz und dies gleichzeitig mit einer unangefochtenen innenpolitischen Hegemonie abstützen.

Zwar wird auf der Bühne des helvetischen Polittheaters sehr häufig mit dem Papp-Popanz einer Polarisierung zwischen rechts (SVP) und links (SPS) herumgefuchtelt. Dieser wird geradezu gehegt und gepflegt wie ein schwindsüchtiges Lieblingskind. Diese Mechanik dient unter anderem dazu, den Politikbetrieb in seiner Dynamik nach rechts zu dynamisieren: solange die Sozialdemokratie ihre Politik auf die Eroberung der Institutionen ausrichtet, wird sie ihren Beitrag leisten, die unteren Schichten durch Politikverdrossenheit in die Arme der Rechten oder ins Lager der Stimm- und Wahlabstinenz zu treiben. Denn gerade die nationalchauvinistische Rechte, allen voran die SVP, hat sich als Kraft positioniert, die zumindest propagandistisch die politische Konkordanz, den helvetischen Politikfilz, überwinden will. Und diese Konkordanz ist – mit seinem Pendant, dem absoluten Arbeitsfrieden – der politische wichtigste Stabilitätsfaktor des politischen Systems der Schweiz. Dies weiss die SVP und entsprechend ordnet sie sich – entgegen aller propagandistischen Knallpetarden – auf allen politischen Ebenen de facto in diese Konkordanz ein. Wie die SPS und die anderen im Parlament vertretenen Parteien. Auf der Strecke bleiben gerade die politisch sprachlosen einfachen Leute.

Bei den entscheidenden neoliberalen Reformen ab den 1990er Jahren spielte die SPS denn auch eine entscheidende Rolle: Sie trug die Einführung der Mehrwertsteuer mit, deren Regierungsmitglieder setzten die Verschärfungen im Asylbereich durch, verfochten die Gegenreformen im Gesundheitswesen und der Altersvorsorge, bei der Liberalisierung der öffentlichen Dienste (Stichwort: New Public Management) und, mit der Unterstützung der Personenfreizügigkeit, die Liberalisierung des Arbeitsmarktes. Sie stützten sich dabei auf die Unterstützung oder doch Duldung durch die Gewerkschaften. Einzig mit dem Beharren auf einem Beitritt zur EU lag ihre Orientierung abseits der Interessen der massgebenden Segmente der helvetischen Bourgeoisie; denn der Finanzplatz ist seit längerem eher auf den Dollarraum ausgerichtet – so sind beispielsweise die SMI-Aktien zu beinahe der Hälfte in US-Besitz (NZZ vom 21. August 2015) -, wie auch die Aussenpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg deutlich auf die führende imperialistische Macht, die USA, setzte.

Die neuen Mittelschichten, auf deren Interessen die SPS ihre Politik abstützt, binden ihr berufliches Fortkommen und ihre Lebensperspektive im Grunde an eine Weitertreibung der neoliberalen Gegenreformen, der Vertiefung der Warenform im Alltag und im Beruf. Dies ganz im Gegensatz zu den sogenannten «einfachen Leuten», die sich durch diese forcierte Atomisierung der wichtigsten Bezüge des Arbeits- und Alltagslebens, durch die mit der Liberalisierung voranschreitende Stärkung der Marktmechanismen, eher bedroht fühlen. Da keine politischen Gegenprojekte des kollektiven politischen Handelns sichtbar sind, wenden sie sich in ihren politischen Äusserungen nationalistischen und anderen identitären Zusammenhängen zu. Dies die Grundzüge der politischen Umstrukturierung seit den 1990er Jahren.

Vorläufig sind also die politischen Weichen für weitere Etappen der neoliberalen Gegenreformen gestellt. Allerdings bleiben viele Unwägbarkeiten, die indes vor allem aus den stürmischen Entwicklungen des imperialistischen Systems selbst herrühren und weniger aus der Entstehung von politischem Widerstand in der Schweiz; hier gibt es keine weithin sichtbare politische Kraft, die ein Interesse daran hätte, die breite Bevölkerung gegen diese Gegenreformen zu mobilisieren. Das neueste Beispiel sind beispielsweise die neuen Freihandelsverträge, wo die institutionelle Linke höchstens versucht, in Absprachen mit dem Staatssekretariat für Wirtschaft (seco), dem Verhandlungsführer, Einfluss zu nehmen, so dass beispielsweise beim Abkommen über Dienstleistungen (TISA) gewisse Bereiche vor der Privatisierung geschützt werden sollen, anstatt eine Mobilisierung gegen weitere Liberalisierungen und Privatisierungen aufzubauen. Die bewährte Mechanik der politischen Konkordanz und des absoluten Arbeitsfrieden also.

 

 

 

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