Brigitte Studer: Reisende der Weltrevolution. Generalstab der Weltrevolution
Jens Renner. Die Kommunistische Internationale ist zwar gescheitert, doch im Buch von Brigitte Studer [Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 618 Seiten, ca. 37.00 SFr, ISBN 978-3-518-29929-6] werden sie und die Beteiligten dieses welthistorischen Experiments kritisch gewürdigt.
Revolution braucht Organisation. Und Weltrevolution? „Kader und ein globales Netzwerk“, schreibt die Schweizer Historikerin Brigitte Studer in ihrem lesenswerten Buch „Reisende der Weltrevolution – Eine Globalgeschichte der Kommunistischen Internationale“. Deren Gründung Anfang März 1919 in Moskau habe „den Nerv der Zeit“ (S. 19) getroffen. Der Rote Oktober 1917 in Russland galt den Gründer*innen der „Komintern“ (oder einfach KI) nur als Prolog weiterer revolutionärer Umwälzungen, nicht zuletzt in Deutschland. Als die Revolution im Westen ausblieb, gerieten zunehmend auch antiimperialistische Bewegungen ausserhalb Europas in den Blick.
Lenin und Trotzki wandten sich direkt an die „Kolonialsklaven Afrikas und Asiens“, um ihnen ein Bündnis anzubieten. Internationalismus war keine hohle Phrase: „Über die nationalen und ethnischen Grenzen hinweg bewegte ein Elan der Solidarität die Beteiligten“ (S. 72), schreibt Studer. Längst nicht alle definierten sich als Kommunist*innen. Zum zweiten Weltkongress der KI im Sommer 1920 kamen neben „linksradikalen Gruppen und Individuen anarchistischen, syndikalistischen und revolutionären Zuschnitts“ (S. 63) auch Beobachter*innen sozialdemokratischer Parteien.
Aktivistisches Kapital
Dass die KI ab Ende der 1920er Jahre, zeitgleich mit der Stalinisierung der KPdSU, zum Instrument machtpolitischer Interessen der Sowjetunion und der Moskauer „Apparat“ immer bürokratischer wurden, bestreitet Studer nicht. Ihr Buch ist mehr als eine weitere Geschichte der Komintern. Im Zentrum stehen einige Frauen und Männer und deren Lebensentscheidung, aus der revolutionären Tätigkeit einen Beruf zu machen – einen bezahlten und mit ein paar Privilegien, aber auch mit Entbehrungen und Gefahren verbundenen Beruf.
320 Revolutionär*innen erwähnt sie namentlich; die fünf, deren Lebensweg sie ausführlich schildert, sind der Inder Manabendra Nath Roy (1887-1954), die Italienerin Tina Modotti (1896-1942), der Schweizer Jules Humbert-Droz (1891-1971) sowie die Deutschen Willi Münzenberg (1889-1940) und Hilde Kramer (1900-1974).
Letztere ist zwar die am wenigsten „Prominente“, an ihrem Beispiel wird aber besonders gut nachvollziehbar, wie die Aufbruchstimmung der frühen 1920er Jahre junge Revolutionär*innen motivierte. KPD-Mitglied seit Ende 1918, arbeitete Kramer ab 1920 in Moskau als Übersetzerin und Stenografin für die KI. In einem Brief an eine Berliner Freundin schrieb sie über den Empfang der KI-Delegierten im August 1920: „Überall rote Fahnen, überall der Klang der Internationale. Und das alles trotz der herrschenden Not, die man sich im Auslande kaum vorstellen kann.“ (S. 75) Mitunter lässt sich auch Studer von der Begeisterung ihrer Protagonist*innen mitreissen. Mehrfach hebt sie hervor, wie deren aktivistisches Kapital Chancen eröffnete. Das galt auch für Frauen, die allerdings in den Entscheidungsgremien kaum vertreten waren, sondern – wie Hilde Kramer – überwiegend unverzichtbare „technische“ Zuarbeit leisteten.
Spektakulärer vollzog sich die Tätigkeit der Reisenden. Die Schauplätze, an denen Studers Revolutionär*innen agieren, sind neben Moskau auch Baku und Taschkent, Berlin und andere europäische Metropolen, China und Spanien nach Francos Putsch 1936. Verfolgt, wenig vertraut mit der Landessprache, häufig im Konflikt mit den nationalen kommunistischen Parteien – fast immer waren die von der Moskauer Zentrale entsandten Berater mit ihren Aufgaben überfordert. Viel Zeit beanspruchte das Abfassen von Berichten und die Kommunikation mit dem Apparat. Dieser erwartete Linientreue und ständige Wachsamkeit gegenüber mutmasslichen Abweichler*innen. Nicht nur in Spanien entstand ein Klima des Verdachts und der Denunziation; „Trotzkismus“ wurde zur allgegenwärtigen und für die Betroffenen lebensgefährlichen Anklage. Etwa 100 der 320 Komintern-Kader, die Studer namentlich erwähnt, kamen gewaltsam ums Leben; 58 von ihnen wurden Opfer stalinistischer „Säuberungen“.
Kollektiver Enthusiasmus
Als Stalin die KI 1943 kurzerhand auflöste, war sie, gemessen an ihrem Ziel, gescheitert. Die Idee, mithilfe eines revolutionären Generalstabs die Geschichte zu beschleunigen, liess sich nicht umsetzen, die Revolution nicht beliebig exportieren. Statt sich über den Voluntarismus der Beteiligten zu erheben, macht Studer deren kollektiven Enthusiasmus nachvollziehbar. Die Welt der Kommunist*innen der Zwischenkriegszeit sei „einer weitverzweigten Grossfamilie vergleichbar“ gewesen: „Solange man sich nicht von ihr losgesagt hatte, gehörte man irgendwie dazu.“ (S. 538) Es sei denn, man wurde – teils unter absurden Beschuldigungen – aus ihr ausgestossen und als Feind*in geächtet. Dann half auch das „Geflecht von Bekanntschaften, Freundschaften, Liebschaften“ nicht mehr; „aus Freundschaften wurden auch Feindschaften.“ (S. 539)
Brigitte Studer ist weit davon entfernt, ihre Protagonist*innen zu heroisieren. In den mit „Ausblick“ überschriebenen drei Seiten am Ende des Buches würdigt sie aber deren „selbst gewählte Mission“ und die Komintern als „welthistorisches Experiment“. Die Kommunistische Internationale ist Geschichte, die ihrer Gründung zugrundeliegende Idee aber keineswegs erledigt.
#Bild: Gruppe von Mitgliedern des Proletkult Büros im August 1920. Darunter findet sich auch der Schweizer Jules Humbert-Droz (ganz rechts), welcher für das Komintern aktiv war und dessen Lebensweg im Buch ausführlich geschildert wird. / Anonymous (CC BY-SA 4.0 cropped)
Quelle: untergrund-blättle.ch… vom 11. Oktober 2021
Tags: Bücher, Deutsche Revolution, Russische Revolution, Stalinismus
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