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Genf: Erste Bilanz eines beispielhaften Kampfes

Eingereicht on 15. Januar 2016 – 17:40

Im öffentlichen Dienst des Kantons Genf kam es vergangenen Herbst im Zusammenhang mit den Sparplänen der Regierung zu einer Welle von Streiks und breiten Mobilisierungen.

Diese wollte im Rahmen die schweizweit immer aggressiveren Programme für Steuererleichterungen für Konzerne entsprechend auf Kosten des Personals im öffentlichen Bereich und durch Kürzung der breiten Versorgung mit Bildung, Gesundheit, Verkehr und anderen öffentlichen Gütern durchziehen. Ein Programm, wie wir dies aus der ganzen Schweiz – und natürlich auch international – kennen. Im Unterschied aber zur übrigen Schweiz regte sich in Genf ein – vorläufig -erfolgreicher Widerstand gegen diese Anmassung. Wir haben bereits mehrere Male darüber berichtet (siehe etwa Genf: Insel des Widerstandes im Meer der Austeritätspolitik und Die Unternehmungssteuerreform und der Streik in Genf)

In diesem Kampf werden nebst dem Angriff auf den Service Public auch die Steuerpolitik und die Pläne und konkreten Schritte der Schweizer Bourgeoisie zur Einbindung der Schweiz in die globalen Freihandelsverträge, insbesondere in TTIP und TiSA, thematisiert. Gerade mit letzterem sollen die potenziell profitablen und wachstumsfähigen Bereiche der öffentlichen Aufgaben, insbesondere die Bildung und die Gesundheit, dem internationalen Kapital geöffnet werden. In Genf, wie beispielsweise in Zürich ist durchsichtig, dass mit den Sparmassnahmen in der öffentlichen Bildung den kapitalistisch organisierten privaten Bildungsinstitutionen eine weitere Bresche geöffnet werden soll. Man sieht an dieser Bewegung in Genf, dass der Basis, wenn sie sich mobilisieren kann, recht schnell die wahren Dimensionen einer politischen Problematik bewusst werden und dass sie bereit ist, dagegen anzugehen. Leider trifft dies auf die Führung der Gewerkschaft nicht zu.

Der folgende Text stammt von Paolo Gilardi, Lehrer und Vorstandsmitglied es VPOD, der zentralen Figur in dieser Bewegung. Er basiert auf einem Interview, das in der Zeitung des VPOD vom 15. Januar 2016 erschienen ist. Übertragung ins Deutsche durch die Redaktion maulwuerfe.ch

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Welche Bilanz ziehst Du nach dieser ersten Etappe von zwei Monaten intensiver Mobilisierungen im öffentlichen Dienst?

Die heutige Lage muss in einem Gesamtzusammenhang beurteilt werden. Dabei geht es um Milliarden von Franken, der Milliarden an Steuergeschenken für die grossen Firmen ab 2019.

Es handelt sich um einleitende Massnahmen für die Umsetzung der Unternehmenssteuerreform III (USR III); dabei will die Regierung den öffentlichen Sektor brutal angreifen. Denn um die Steuersenkungen um mehrere Hundert Millionen pro Jahr für die Unternehmen garantieren zu können, will die Regierung das Terrain vorbereiten.

Sie ist es, die auf Befehl der Unternehmerverbände eine enorme Reduktion der Steuersätze auf Unternehmergewinnen von 24 % auf 13 oder 13.5 % in die Wege leitet. Der Einnahmenausfall für den Kanton Genf könnte sich damit jährlich auf bis zu einer Milliarde Franken belaufen!

Wie kann mit einer Milliarde weniger Einnahmen ein einigermassen effizientes Funktionieren des Staates garantiert werden, wenn nicht durch eine Erhöhung der Arbeitszeit, eine Nichtbesetzung von Abgängen, mit einer Verallgemeinerung der Teilzeitarbeit – mit einem Teilzeitlohn aber erhöhter Produktivität – und mit einer Lockerung des Kündigungsschutzes?

Diese strukturellen Massnahmen wollte die Genfer Regierung, der Staatsrat, spätestens auf Anfang Januar 2016 einführen. Als Ergebnis der Mobilisierungen konnte der Staatsrat nun aber verpflichtet werden, diese aufzuschieben, auf jeden Fall frühestens bis Ende März. Er musste damit deren mehr als problematischen Charakter anerkennen, was es ihm erschweren wird, diese Massnahmen überhaupt einzuführen…

Wie war die Teilnahme in Deinem Bereich, der Schule, an der Bewegung? Auf welche Schwierigkeiten seid ihr dabei gestossen?

Die Teilnahme ist sehr gut gewesen. Und, bemerkenswerte Tatsache, gerade die Jungen sind am aktivsten in der Organisation der Bewegung gewesen.

Während der Streiks haben sich die Lehrerzimmer in wahre Bienenstöcke verwandelt: Dort wurde debattiert, die Demo vom Nachmittag vorbereitet, Spruchbänder wurden zurechtgemacht, über Briefe an die Eltern entschieden. Alle zusammen übrigens: Sicher Lehrerinnen und Lehrer, aber auch Sozialarbeiterinnen und – arbeiter, Psychologinnen und Psychologen und, insbesondere, die Verwaltungsangestellten und technische Angestellte. Diese Initiative, diese Dynamik der kollektiven Übernahme von Verantwortung für den Kampf trägt dazu bei, ein Gefühl der Stärke und des Vertrauens zu schaffen.

Überdies hat die hohe Beteiligung an den Versammlungen es ermöglicht, aus der selektiven Empörung auszubrechen, die sich auf den eigenen Arbeitsplatz, den eigenen Bereich begrenzt, um sich um die Probleme anderer Berufe, anderer Abteilungen zu kümmern und die gemeinsamen Interessen wahrzunehmen, die die Lehrerinnen und Lehrer, die Polizistinnen und Polizisten, die Pflegerinnen und Pfleger, die Steuerbeamtinnen und -beamten, die Sozialarbeiterinnen und -arbeiter, die Bibliothekarinnen und Bibliothekare dazu bringen, gemeinsam zu kämpfen.

Dies ist die wichtigste Errungenschaft dieser ersten Phase unseres Kampfes und sie darf nicht vergeudet werden, denn angesichts der Herausforderungen sind die Verankerung unserer Bewegung in der Dauer und ihre Erweiterung unverzichtbar.

Sicherlich erfordern sieben Tage Streik eine grosse Anstrengung, auch auf der Gefühlsebene. Nach einer gewissen Zeit überkommt einem eine Müdigkeit. Dazu gesellen sich die Schwierigkeiten, nach den Streiktagen erneut die Arbeit im Unterricht wiederaufzunehmen. Dies ist ein wirkliches Problem.

Aber gleichzeitig lässt dies vorausahnen, wie eine Schule aussehen könnte, wo aufgrund der fehlenden Zeit und der Zunahme der Arbeitsstunden, die Zeit, die mit den Schülerinnen und Schülern verbracht werden kann, eingeschränkt sein wird. Dann wird die disziplinarische Logik zur Regel; sie wird gegenüber allen anderen Aspekten überwiegen, wie etwa den pädagogischen, didaktischen, intellektuellen, sozialen Erwägungen ….

Wie beurteilst Du das mit dem Staatsrat unterzeichnete Vereinbarungsprotokoll? Was sagen die Kolleginnen und Kollegen aus Deinem Bereich dazu?

Ich habe bereits eingangs erwähnt, dass man die Dinge im Lichte des Gesamtzusammenhangs beurteilen muss. Diese Vereinbarung drückt in zwei Punkten einen Teilrückzug des Staatsrates aus. Einerseits gesteht er schriftlich ein, dass neue Einnahmequellen – also Steuern – in Betracht gezogen werden müssen, um die öffentlichen Dienstleistungen und die Leistungen an die Bevölkerung finanzieren zu können. Für eine Regierung, die sich in ihren Grundsätzen jeder neuen Steuer widersetzt hat, ist dies nicht wenig. Zweitens, darüber haben wir bereits gesprochen, wurde sie gezwungen, die strukturellen Massnahmen auszusetzen, die sie bereits jetzt in Kraft setzen wollte.

Dabei ist es wichtig, die Tragweite dieses Aufschubs zu verstehen, auch wenn die bestehenden Vorschriften die sehr angespannte Lage vor Ort verdecken.

Schauen wir beispielsweise die 40 Stundenwoche an. Sicher, die Zunahme des Arbeitsvolumens zwingt die Leute bereits jetzt in Tat und Wahrheit mehr als 40 Stunden zu arbeiten, sagen wir 42 Stunden. Wenn die Arbeitszeit nun auf 42 Stunden erhöht wird, so werden sie wohl tatsächlich 44 oder 45 Stunden ableisten müssen.

Desgleichen für die Primarlehrerinnen und -lehrer. Der Übergang zur 42 Stundenwoche wird einer Lohnsenkung gleichkommen. Da man die Anzahl der Stunden der Schülerinnen und Schüler nicht erhöhen kann – eine Woche zu 28 Perioden – , können die Lehrkräfte, wie die Chefin des Departementes für öffentliche Bildung bestätigt hat, nicht 29 Perioden Unterricht leisten, dem Äquivalent von 42 Wochenstunden. Infolgedessen wird ihr Lohn in der gleichen Proportion gekürzt.

Diese Vereinbarung ist zwar nicht so, wie man es sich gewünscht hätte, aber sie ist ein Ausdruck der aktuellen Kräfteverhältnisse. Auf der einen Seite eine sehr starke Bewegung und auf der anderen Seite eine Regierung, deren Härte ein Resultat des Druckes der Unternehmerverbände an der Rue de Saint Jean 98 darstellt. Für diese würde jede Konzession eine Gefahr für den Umfang der Steuergeschenke an die Unternehmen, wie sie in der USR III vorgesehen sind, darstellen.

Wie geht es weiter mit den Mobilisierungen nach den Verhandlungen mit dem Staatsrat?

Dem Staatsrat scheinen die Zügel entglitten zu sein und er lässt das Parlament je nach den jeweiligen und zufälligen Mehrheitsverhältnissen sich durchwursteln. Sicher, da gibt es auch eine Rollenverteilung, in der sich die Regierung hinter den Kompetenzen des Parlamentes versteckt, um nicht entscheiden zu müssen, sofern ihr dies gerade gelegen kommt.

Gleichzeitig aber ist die Lage zum Jahresbeginn viel komplexer. Ende Dezember hat nur eine der bei der Abstimmung anwesenden 96 Abgeordneten dem Budgetentwurf der Regierung zugestimmt. Anders gesagt, das Parlament hat sich beinahe einstimmig gegen die Regierung gestellt. Dies ist Ausdruck einer grösseren politischen Krise.

Nun, Genf ohne Budget, das heisst, dass die Investitionen nicht garantiert sind, diese knackigen Pfründen für die Unternehmer, die sich gerne als die Apostel des «schlanken Staates» aufspielen. Der Druck für die Annahme eines Budgets wird also sehr stark und voller Widersprüche sein, mit einer bürgerlichen Mehrheit, die nur allzu bereit die Sozialausgaben und die Personalkosten beschneidet.

Von daher ist es wichtig, vor Ort präsent zu sein. Um zu verhandeln, muss man sich auf die Bewegung abstützen, diese ist die einzige Garantin für Ergebnisse.

Dann ist es notwendig, dass wir uns weiterhin versammeln, aber nicht um Vorschläge für Einsparungen zu erarbeiten, was nur zu Spaltungen unter uns führen kann. Vielmehr müssen wir Beschwerdelisten erarbeiten, die die Bedürfnisse in Gestalt von Stellen, von Infrastruktur, von Material auflisten, um dem verfassungsmässigen Auftrag an die öffentlichen Dienstleistungen gerecht werden zu können.

In diesem Sinne müssen wir ein neues Element ergreifen. Zum ersten Male hat sich das Kader, das heisst die Direktorinnen und Direktoren der sozialen Einrichtungen, der Schulen oder dann der subventionierten Bereiche nicht von Anbeginn an auf die Seite der Regierung gestellt. Ganz im Gegenteil!  Deshalb darf man sich nicht in seinem Gegner täuschen!

Angesichts der parlamentarischen Zufälligkeiten und insbesondere der Anmassung der Unternehmer, sich jährlich gegen eine Milliarde Franken an Steuergeschenken zuzugestehen, bleibt die Aufrechterhaltung und die Verstärkung einer breiten und solidarischen Mobilisierung die einzige wirkliche Gegenkraft gegen die wirklichen Privilegierten, das heisst die Aktionäre und Aktionärinnen und die Reichen.

(P. Gilardi, le 9 janvier 2016)

 

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