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Stimmen aus Lateinamerika: „Kabul, game over“

Eingereicht on 31. August 2021 – 15:11

Über das Ende der US-Hegemonie, die „Freedom Fighters“ Taliban und Contras und warum der Weg von Afghanistan nach Haiti über die USA führt. Einschätzungen von Atilio Borón, Jorge Majfud und Pedro Brieger.

Atilio Borón. Der Fall Kabuls in die Hände der Taliban ist ein Wendepunkt, der das Ende des globalen geopolitischen Übergangs markiert. Das internationale System hat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erhebliche Veränderungen erfahren.

Hiroshima und Nagasaki waren zusammen mit der Niederschlagung des Nationalsozialismus in Europa durch die Rote Armee die Ereignisse, die die sogenannte „bipolare Ordnung“ hervorbrachten.

Der Fall der Berliner Mauer und der Zerfall der Sowjetunion Ende 1991 markierten das Ende dieser Epoche und erregten die Phantasien von US-amerikanischen Strategen und Wissenschaftlern, die sich die falsche Hoffnung eines „neue amerikanischen Jahrhunderts“ machten.

Zbigniew Brzezinski warnte erfolglos vor der Fragilität der unipolaren Ordnung und den Risiken einer solch gefährlichen Illusion. Seine Befürchtungen wurden am 11. September 2001 bestätigt, als mit dem Fall der Zwillingstürme auch dieses unipolare Trugbild verschwand.

Die Vervielfachung neuer staatlicher und nichtstaatlicher globaler Machtkonstellationen, die nach diesem Ereignis verstärkt auftraten – oder besser gesagt nach diesem Datum sichtbar wurden – waren der Ausgangspunkt für eine neue Phase: die Multipolarität.

Der lateinamerikanische „progressive Zyklus“ entwickelte sich vor dem Hintergrund dieser neuen Realität, in der die US-Hegemonie auf immer mehr Schwierigkeiten stieß, ihre Interessen und Prioritäten durchzusetzen. Ein zunehmend einflussreiches China in der Weltwirtschaft und die Rückkehr Russlands in die vorderste Reihe der Weltpolitik nach der Finsternis der Jahre mit Boris Jelzin waren die Hauptmerkmale der entstehenden neuen Ordnung.

Viele Analysten hielten den Polyzentrismus für dauerhaft, daher dachten sie an einen langen „globalen geopolitischen Übergang“. Einige verglichen diese neue internationale Konstellation sogar mit dem „Konzert der Nationen“, das auf dem Wiener Kongress (1815) nach der Niederlage der napoleonischen Armeen vereinbart wurde und über ein Jahrhundert lang Bestand haben sollte.

Nur dass es in dem Fall, um den es hier geht, eine Ordnungsmacht gab, die USA, die mit ihrem riesigen Militärbudget und der globalen Reichweite ihrer Regeln und Institutionen ihre schwindende Vormachtstellung in anderen Bereichen – der Wirtschaft und einigen Zweigen der aktuellen technologischen Entwicklung – durch eine gewisse Fähigkeit zur Schlichtung kompensieren konnte; sie dämmte Meinungsverschiedenheiten unter ihren Verbündeten ein und hielt widerstrebende Mächte in den Krisenherden des internationalen Systems in Schach.

Der Rückschlag, den das von Barack Obama begonnene militärische Abenteuer in Syrien erlitten hat und das Russland wieder zu seiner verlorenen militärischen Bedeutung verholfen hat, die katastrophale Niederlage in Afghanistan nach zwanzig Jahren Krieg und die Verschwendung von zwei Billionen US-Dollar (das heißt 2.000 Milliarden) sowie das unbeschreibliche menschliche Leid, das durch die imperiale Besessenheit verursacht wurde, schließen diese Phase endgültig ab.

Der Einzug der Taliban in Kabul markiert die Entstehung einer neuen internationalen Ordnung, die durch die Präsenz einer dominanten Triade aus den USA, China und Russland gekennzeichnet ist und diejenige ablöst, die seit den Jahren des Kalten Krieges mit Mühe überlebt hatte und aus Washington, einigen europäischen Ländern und Japan bestand.

Daher rührt das Illusorische des von Joe Biden vorgebrachten Anspruchs, die wichtigsten Nationen der Welt an den Verhandlungstisch zu bringen und von der Stirnseite des Tisches her die neuen Regeln und Orientierungen festzulegen, die im internationalen System vorherrschen sollten, weil er, wie er sagte, eine solch heikle Aufgabe nicht den Chinesen und Russen überlassen könne. Seine Worte wurden aber zu toten Buchstaben, weil dieser Tisch schon gar nicht mehr existiert.

An seine Stelle ist ein anderer, dreieckiger getreten, der keine Stirnseite mehr hat und an dem neben den USA China und Russland Platz genommen haben. China, laut OECD die weltweit führende Volkswirtschaft und eine beeindruckende Macht im Bereich der künstlichen Intelligenz und der neuen Technologien, und Russland, ein Energieimperium, im Besitz des zweitgrößten Atomwaffenarsenal der Welt und traditioneller Protagonist der internationalen Politik seit Beginn des 18. Jahrhunderts: Sie setzen der einst unumstößlichen Vormachtstellung der USA Grenzen.

Zum ersten Mal in der Geschichte wird Biden mit zwei Mächten verhandeln müssen, die Washington als Feinde definiert und die zudem ein mächtiges Bündnis geschlossen haben. Nutzlos sind Trumps Werbetricks „Lasst uns Amerika wieder groß machen“ oder Bidens jüngster „Amerika ist zurück“. Auf dem neuen Tisch zählen die wirklichen Faktoren, die die Macht der Nationen definieren: Wirtschaft, natürliche Ressourcen, Bevölkerung, Territorium, Technologie, Führungsqualität, Streitkräfte und schließlich alle Utensilien der sogenannten „sanften Macht“ (soft power).

In jüngster Zeit waren es die beiden letztgenannten Trümpfe, über die die USA verfügten, um ihre verlorene imperiale Allmacht zu erhalten.

Aber wenn sich ihre Truppen in einem der ärmsten und rückständigsten Länder der Welt nicht durchsetzen konnten, werden auch Hollywood und die ganze weltweite Medienoligarchie keine Wunder vollbringen können.

Diese neue Epoche des internationalen Systems wird nicht frei von Risiken und Gefahren aller Art sein, aber sie eröffnet den Völkern und Nationen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas nie dagewesene Möglichkeiten.

https://www.pagina12.com.ar/361926-kabul-game-over

„Freedom Fighters“: Contras und Taliban

Jorge Majfud. Nach der Niederlage in Vietnam sagten der frühere Außenminister Henry Kissinger und die ehemalige Sozialistin und spätere Ultrarechte in der Regierung von Ronald Reagan, Jeane Kirkpatrick, dass die USA einen Krieg erfinden müssten, den sie gewinnen könnten, um verlorenes Prestige zurückzugewinnen.

Kirkpatrick zufolge war Nicaragua ein guter Kandidat, aber noch besser war Granada, eine Karibikinsel mit kaum 100.000 Einwohnern, deren Präsident so unverschämt war zu erklären, dass sein Land unabhängig und souverän ist und daher mit jedem Handel treiben könne, mit dem es Lust hatte.

Die glorreiche Invasion und Befreiung US-amerikanischer Studenten, die sich nicht von einer nicht existierenden Tyrannei befreien lassen wollten, fand 1983 statt, und selbst die Bürokraten, die ihren Schreibtisch in Washington nie verließen, erhielten Medaillen für Tapferkeit im Krieg.

Die Strategie stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert, als Washington Kanada annektieren wollte und damit endete, dass der Amts- und offizielle Regierungssitz des Präsidenten der Vereinigten Staaten in Flammen aufging (danach wurde er weiß gestrichen, um die Schande des Brandes zu verbergen), so dass er beschloss, nach Westen und Süden zu expandieren, in Gebiete von „minderwertigen und unbewaffneten Rassen“.

Am Ende desselben Jahrhunderts, nachdem er „eine Explosion“ in Kuba voraussagte und ein Jahr vor der Erfindung des Mythos vom Untergang der USS Maine im Jahr 1897, schrieb der gerade zum stellvertretenden Marineminister von Präsident Willian McKinley ernannte und zukünftige Präsident Theodore Roosevelt an einen Freund: „Ich bin für fast jeden Krieg, und ich denke, dieses Land braucht einen“.

Es gibt nichts Besseres, als neunzig Meilen entfernt von einem auseinanderbrechenden Imperium wie Spanien angegriffen zu werden, mit Holzschiffen bewaffnet, um sich gegen Metallschiffe und modernste Technologie zu verteidigen.

In seinem dritten Film, 1988, wird Rambo (Sylvester Stallone) Seite an Seite mit diesen tapferen „freedom fighters“ (Freiheitskämpfern) des exotischen Afghanistan kämpfen. Dieselbe Katharsis der Frustration von Vietnam, dieselbe Geschichte der militärischen Supermacht, die im Alleingang nur kleine tropische Inseln wie Grenada besiegen konnte und zu allem Überfluss 1961 von einer dieser Inseln, nämlich Kuba, ohne Hilfe besiegt wurde.

Wie so viele andere „Rebellen“-Gruppen sind auch die Taliban eine Schöpfung der CIA, wenn auch keine originäre. In den 1970er und 1980er Jahren versuchte Washington, die sozialistische Regierung des Schriftstellers Nur Muhammad Taraki zu stürzen. Die säkulare Demokratische Republik Afghanistan, die von einer kleinen Gruppe linker Intellektueller geführt wurde, überlebte nur knapp von 1978 bis 1992, als sie von den Taliban zerstört wurde.

Wie die New York Times selbst in einem vergessenen Nachruf berichtet, hatte Osama bin Laden eingestanden: „Dort [in Tora Bora] habe ich Freiwillige empfangen, die aus dem saudischen Königreich und aus allen arabischen und muslimischen Ländern kamen. Ich richtete mein erstes Lager ein, in dem diese Freiwilligen von pakistanischen und US-amerikanischen Offizieren ausgebildet wurden. Die Waffen wurden von den Amerikanern geliefert, das Geld von den Saudis“.

Das Tora Bora-Gebiet, in dem sich Qaida-Mitglieder versteckten, war mit Hilfe der CIA als Stützpunkt für die Afghanen eingerichtet worden, die gegen die Sowjets und die damalige Regierung kämpften. Obwohl die Mudjahedin und die Taliban nicht ein und dieselbe Gruppe waren, war der Gründer der Taliban, Mohammed Omar, ein Mudjahedin wie Osama Bin Laden und viele andere.

Ein Jahr bevor er die Mudjahedin im Weißen Haus empfing, hatte Präsident Ronald Reagan persönlich einen seiner „Diktatorenfreunde“, den völkermordenden Guatemalteken Efraín Ríos Montt, besucht und ihn als ein Beispiel für die Demokratie in der Region anerkannt. Das Gleiche taten mächtige Pastoren, Fanatiker wie Pat Robertson vom The 700 Club.

Zu den Heldentaten des Diktators Ríos Montt gehörte das Massaker an mehr als 15.000 Indigenen, die auf die schlechte Idee kamen, ihr Land zu verteidigen, das von ausländischen Konzernen und der traditionellen kreolischen Oligarchie begehrt wurde.

Kurz darauf stellte Präsident Reagan, der heute von Republikanern und Demokraten für etwas, das er nicht getan hat (die endgültige Zerschlagung der Sowjetunion), zum Mythos erhoben wird, die Contras in Mittelamerika (Soldaten der gestürzten Somoza-Diktatur in Nicaragua) ebenfalls als „Freiheitskämpfer“ dar.

Als der US-Kongress weitere Millionen Dollar für die terroristischen Contras untersagte, wird die Reagan-Regierung heimlich über Israel Waffen an den Iran verkaufen; das gewaschene Geld wird in einer Schweizer Bank deponiert und dann an die Contras in Honduras überwiesen werden.

Wie die Mudjahedin wurden auch die Contras von der CIA ausgebildet und finanziert und werden bald darauf zu den Maras, die Mittelamerika und in einigen Fällen auch die USA selbst heimsuchen.

Wenn die Ausbilder in ihr Heimatland, die USA, zurückkehren, werden sie „die Grenze“ vor den armen Eindringlingen schützen, die auf der Suche nach Arbeit kommen. Aus reiner Nostalgie werden viele dieser armen Menschen eingemeindet, als wären sie in ihrem eigenen Land Revolutionäre.

Als die Taliban im August 2021 in kaum einer Woche Dutzende Städte und schließlich Kabul einnehmen, sprießen in den USA die Presseanalysen nur so und versuchen, das Unerklärliche zu erklären, nach 20 Jahren Krieg, Besatzung, Hunderttausenden von Toten und Hunderten von Milliarden Dollar. Alle, oder fast alle, zeigen ihre analytische Radikalität und beginnen oder enden mit der Warnung: Beginnen wir mit dem „very beginning“ (dem Anfang vom Anfang) dieser Geschichte, den Terroranschlägen vom 11. September 2021.

Wie Ronald Reagan selbst am 24. März 1983 in der Library of Congress anlässlich der Eroberung des Wilden Westens sagte: „Die Amerikaner glaubten vom Westen nicht, was wahr war, sondern was für sie wahr sein sollte“.

Natürlich gab es auch US-Amerikaner, die bereit waren, den Fanatikern die Wahrheiten zu sagen, die sind, nicht die, die sein sollten. Natürlich waren nur sehr wenige für einen solchen Gefallen dankbar. Ganz im Gegenteil.

https://www.alainet.org/es/articulo/213523

Der Weg von Afghanistan nach Haiti führt über die USA

Pedro Brieger. Die Entfernung zwischen Afghanistan und Haiti lässt vermuten, dass die beiden Länder nichts gemeinsam haben. Ihre Geschichte, Kulturen, Sprachen, ethnische Herkunft und Geografie sind nicht zu vergleichen, und es ist schwierig, etwas zu finden, was die beiden Länder verbindet. Doch es gibt etwas und es ist sehr mächtig: die USA.

Während die weltweit führende Macht ihre Truppen nach fast 20 Jahren Besatzung aus Afghanistan abzieht, treffen in Haiti wieder US-Soldaten ein.

Jetzt sagen sie, dass sie humanitäre Hilfe wegen des Erdbebens vom 14. August bringen und möglicherweise ist das so. Allerdings reiht sich die Präsenz im Jahr 2021 in eine lange Liste von US-Interventionen in dem kleinen Land ein, das sich die Insel Hispaniola mit der Dominikanischen Republik teilt.

Vor mehr als hundert Jahren, im Jahr 1915, landeten die US-Marineinfanteristen nach dem Mord an Präsident Jean Vilbrun Guillaume Sam, um die Interessen der USA zu schützen, und sie blieben – wie in Afghanistan – fast zwanzig Jahre lang.

In dieser Epoche gab es Al-Qaida nicht, auch war nicht die Rede von „islamischen Terrorismus“ und die Sowjetunion war noch nicht einmal geboren. Aber es war bereits die Rede davon zu intervenieren, „um die nordamerikanischen Interessen zu schützen“, diese ebenso vage wie weit gefasste Formulierung, mit der die USA zahllose Invasionen rechtfertigen, sowohl in Haiti – zu verschiedenen Zeiten seiner Geschichte – wie auch in anderen Teilen der Welt.

Gegenwärtig haben Afghanistan und Haiti, zwei der ärmsten Länder der Welt, Priorität in der Außenpolitik der USA, wie Dokumente des US-Kongresses enthüllen, der die „Sondergeneralinspektion für den Wiederaufbau Afghanistans“ (Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction, Sigar) schuf, ein Gremium, das sich ausdrücklich der Analyse des „Wiederaufbaus von Afghanistan“ widmet.

Im Sigar-Bericht von August dieses Jahres mit dem Titel „Was wir lernen müssen: Lehren aus 20 Jahren Wiederaufbau Afghanistans“ wird auf die Notwendigkeit hingewiesen, die afghanischen Erfahrungen für andere Wiederaufbaumissionen in den Bereichen „Institutionen, Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Sicherheitskräfte“ in mehreren Ländern, darunter Haiti und Panama, zu nutzen.

Im Gegensatz zu Afghanistan, in das die USA 2001 einmarschiert sind, haben sie in Haiti seit dieser frühen Besetzung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bereits Millionen Dollar in zahlreiche „Hilfsprojekte“ investiert, um die Institutionen „wieder auf die Beine zu stellen“.

Unter den „Hilfen“ war die Unterstützung der brutalen Diktatur der Duvalier-Familie, die von 1956 bis 1986 regierte, sowie Millionen Dollar für den „Wiederaufbau“ nach dem schrecklichen Erdbeben von 2010, ohne dass Ergebnisse in Sicht wären.

Haiti bleibt weiterhin das ärmste Land Amerikas, trotz aller „Hilfe“ aus den USA. Abgesehen davon, dass Demokraten und Republikaner sich das Recht anmaßen, Länder „wiederaufzubauen“, ohne ein Mandat der Vereinten Nationen erhalten zu haben, stimmt noch etwas an diesen „Wiederaufbauten“ nicht, die nicht der lokalen Bevölkerung zugute kommen. Afghanistan und Haiti können dies bezeugen.

https://www.nodal.am/2021/08/la-columna-de-pedro-brieger-la-ruta-de-afganistan-a-haiti-pasa-por-estados-unidos/

#Bild: Präsident Reagan mit Vertretern der afghanischen Mudjahedin am 2. Februar 1983 im Weißen Haus

Quelle: amerika21.de… vom 31. August 2021

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