Schweiz
International
Geschichte und Theorie
Debatte
Kampagnen
Home » Debatte, International

Marine Le Pens Front national und die Arbeiterklasse

Eingereicht on 27. Februar 2016 – 12:27

 

Claudia Mäder. Als der Front national noch von Jean-Marie Le Pen geführt wurde, war die Partei stramm rechts. Unter seiner Tochter Marine vollzieht die Partei eine dezidiert «national-sozialistische» Wende. ———–

Marine Le Pen könnte ein arbeitsamer Sonntag bevorstehen. Man mag es ihr und sich nicht wünschen, aber im schlimmsten Fall muss die Chefin des Front national (FN) morgen gleich zwei Glückwunschtelegramme aufsetzen. Der Schweizerischen Volkspartei pflegt die Französin nach Urnengängen regelmässig zu gratulieren. Diesmal könnten aber auch die Jungsozialisten in die Kränze kommen. Denn die Eindämmung der Nahrungsmittelspekulation steht genauso auf dem Programm des FN wie die kompromisslose Ausschaffung krimineller Ausländer.

Während Le Pen im Kampf gegen die Spekulanten der «ultraliberalen Finanzmärkte» auf nachbarschaftliche Vorarbeit bauen kann, wird sie beim Ausbau des Sozialstaates selber Massstäbe setzen müssen: Das Rentenalter auf 60 Jahre zu senken, dürfte hierzulande auch der träumerischsten Jungpartei nicht einfallen. Dem FN aber wäre das längst nicht genug. Um Arbeitsplätze zwangsweise zu sichern, sieht er Verstaatlichungen von Privatunternehmen vor; um Jung und Alt ein würdevolles Leben zu ermöglichen, möchte er die tiefsten Löhne um 200 Euro heben, die Renten erhöhen und die Reichen stärker besteuern; um alle Franzosen in die Nation einzubinden, propagiert er einen grossflächigen Ausbau des Service public – kurz und in Marine Le Pens Worten: Um Land und Leute weiterzubringen, will der FN den Staat als «Speerspitze» benutzen.

Auflösung der polaren Ordnung

«Rechtsextrem» steht gemeinhin auf dem Etikett, das die Medien der Partei anheften. Mit «Rechtspopulismus», «Nationalpopulismus», «Ultranationalismus» und ähnlichen Kreationen behelfen sich differenziertere Beobachter zuweilen, und sicher vermögen solche Charakterisierungen die eine Seite des Projekts ganz gut zu erfassen. Wenn Le Pen in pompösen Massenveranstaltungen den Vorrang der Franzosen ausruft, deren Unterwerfung unter fremde Mächte und heimische Eliten geisselt oder zur Eliminierung der Kuscheljustiz die Einführung der Todesstrafe vorschlägt, ist es zweifellos zutreffend, die charismatische Figur auf dem abschüssigen rechten Feld zu positionieren.

Auf diesem aber spielen längst Kräfte, die sich an keine polare Ordnung mehr halten. 1789 hat die Sitzordnung der französischen Nationalversammlung das politische Spektrum erstmals trennscharf strukturiert und in eine links placierte republikfreundliche und eine rechts angesiedelte monarchietreue Seite gespalten. Heute muss man anerkennen, dass dieses Schema in seinem Ursprungsland (und wohl auch anderswo) nicht mehr greift.

Dass strikte theoretische Scheidungen den Realitäten nicht standhalten, hat sich schon früher immer wieder gezeigt, und von Napoléon über Pétain bis de Gaulle haben sich etliche Staatschefs die Überwindung der Gräben und ein programmatisches «ni droite ni gauche» auf die Fahne geschrieben. Das tut heute auch Marine Le Pen. Nur kann man der doppelten Verneinung wenig Sinn abgewinnen, wenn man ihr Projekt studiert. Was die Chefin des FN anbietet, ist weniger ein Weder-noch als vielmehr ein Sowohl-als-auch: eine Fusion von xenophobem Nationalismus auf der einen und antiliberalem Etatismus auf der andern Seite. Wollte man Le Pens Gemisch mit gängigen Begriffen beschreiben, müsste man es folglich, ganz nüchtern betrachtet, «national-sozialistisch» nennen.

Mit der Nüchternheit ist es in dieser Sphäre leider nicht weit her. Schnell war die Nazi-Keule immer schon zur Hand, wenn es gegen den FN ging. Sie würde heute zwar den ideologischen Kern der Sache treffen, wird aber paradoxerweise zögerlicher eingesetzt, seit dieser Gehalt sich deutlicher zeigt.

Früher war das Ziel ein Kopf und die Sache denkbar einfach: Jean-Marie Le Pen, der die Partei 1972 gegründet hat, bot in seiner Formation lange Zeit etlichen Kollaborateuren und Nostalgikern der Kriegszeit Unterschlupf und tat auch selbst sein Bestes, sich niederer Gesinnungen verdächtig zu machen. Indem er mehrfach bekräftigte, die Gaskammern als «Detail in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs» zu erachten, hat sich der berufsmässige Extremist selber in die nazistische Schmuddelecke geredet.

Solche Ausfälle und jede Form von Antisemitismus verbittet sich seine Tochter entschieden. Als «summum de la barbarie» bezeichnete sie ihrerseits die Konzentrationslager, kaum dass sie 2011 zur Präsidentin der Partei gewählt worden war – um den verfemten FN in der Folge einer veritablen «Entdiabolisierung» zu unterziehen. Schlecht beleumdete Mitglieder, die mit dem Hitlergruss von sich reden machten, schloss sie aus. Papa Le Pen enthob sie nach groteskem Gezänk seines Amts als Ehrenvorsitzender. Und ihre Gegner pflegt Marine nicht mit diffamierenden Attacken, sondern mit den Argumenten der Republik zu bekämpfen: Nur weil sie den Laizismus achte – und nicht etwa aus Fremdenfeindlichkeit –, tritt Le Pen laut eigenem Bekunden gegen Schleier, Burkas und andere Insignien des muslimischen Glaubens an.

Das ostentative Andocken an einen republikanischen Diskurs ist dazu angetan, die Nazi-Keule an einer sauber polierten Oberfläche abprallen zu lassen. Würde die Kritik auf die zugrunde liegende Ideologie zielen, müsste sie jetzt aber erst recht laut werden. Denn hinter der verjüngten und modernisierten Parteifassade vollzieht sich die alte Verquickung von linken und rechten Themen mit gesteigerter Dynamik.

Der Parteigründer hatte mit sozialen Anliegen vorerst nichts am Hut. Die Sorge um die «Überfremdung» der eigenen Nation, welche die Partei von Beginn weg und ab dem Ende der 1970er Jahre immer stärker umtrieb, war im Programm des Vaters ursprünglich mit einer stramm wirtschaftsliberalen Position verbunden. Jean-Marie Le Pen gefiel sich im Bild eines französischen Reagan, lobte Deregulierung, Markt und Konkurrenz, predigte Privatisierung und blies zum Rückzug des Staats. Nachdem mit dem Kommunismus ein grosser Feind der Partei zusammengebrochen war und sich mit der Globalisierung ein neuer Internationalismus am Horizont abzeichnete, begann sich die Haltung aber zu ändern: Ab den 1990er Jahren wandte sich der FN dem Sozialen zu – freilich ohne darob vom Nationalen abzurücken.

Sichtbar wurde die neue Verschmelzung jährlich bei den Paraden zu Ehren der heiligen Jeanne d’Arc, die nunmehr unter Einbezug der Arbeiterschaft am 1. Mai veranstaltet wurden. Und in unregelmässigeren Abständen zeigte sie sich fortan auch an der Urne: Einst primär vom rechtskatholischen Bürgertum unterstützt, machte der FN bei den Präsidentschaftswahlen von 1995 ein geschätztes Viertel seines Gesamtstimmenanteils von 15 Prozent in Arbeiterkreisen. – Zwanzig Jahre später konnte Le Pens Partei beim ersten Durchgang der Regionalwahlen 28 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, wobei laut Umfragen über 43 Prozent der Arbeiter FN gewählt haben sollen.

Kompromissloser, als das irgendwer zuvor in der Partei getan hat, adressiert Marine Le Pen seit ihrem Amtsantritt den «kleinen Mann». Jene «99 Prozent» des Volks, die gemäss ihrer Rhetorik die Zeche für Steuergeschenke an die Reichsten zahlen; jene «invisibles et oubliés», die als «triples rien» vor der herrschenden Politik des «triple A» stehen; jene braven Franzosen, die das liberale Dogma der angeblich gnadenlosen Konkurrenz zum Freiwild des Markts gemacht und schutzlos der deregulierten Welt ausgeliefert hat: All diese «petits gens» will der FN unter die Fittiche seines interventionistischen und umverteilenden Staates nehmen. Dass dieser das Füllhorn seiner Wohltaten nicht über irgendeinem abstrakten «homo oeconomicus», sondern ausschliesslich über dem zur nationalen Gemeinschaft gehörigen «homo gallicus» ausschütten würde, versteht sich von selbst.

Die nationale Einhegung ist denn auch der zentrale Punkt, in dem Le Pens Programm von dem abweicht, was am anderen Ende des Spektrums Jean Luc Mélenchons linksradikaler Front de gauche propagiert. Die «Macht der Märkte» brechen und die «liberale Globalisierung» stoppen hingegen will man hüben wie drüben. Natürlich empört sich die Linke über die feindliche Übernahme ihrer Werte, heisst das Soziale beim FN eine Maskerade, verurteilt die Instrumentalisierung des «Guten» durch das «Böse» oder tut die linken Gehalte als schieren Populismus ab. Aber egal, wie sie argumentiert: Jede Erklärung, die das halbe Programm des FN zur zufälligen Entgleisung kleinredet, greift zu kurz und übersieht, dass gerade die verheerenden Nationalismen des 20. Jahrhunderts eine erstaunliche soziale Kehrseite hatten.

Man kann das in Frankreich selber sehen, wo sich in den 1930er Jahren ein Grossteil der Faschisten, die den in ihren Augen dekadenten liberalen Parlamentarismus zugunsten einer starken nationalen Ordnung überwinden wollten, aus ehemals kommunistischen Kreisen rekrutierte und entsprechende Sozialvorstellungen mitbrachte. Man darf aber auch nach Deutschland schauen und dem Umstand ins Auge blicken, dass die Nazis den «kleinen Mann» nicht nur mit einer verqueren Rassentheorie zum Herrn hochhoben, sondern ihm auch mit handfesten staatlichen Leistungen unter die Arme griffen. Während Hitler erst ausgrenzte und später auslöschte, wer nicht zur von ihm definierten Gemeinschaft gehörte, bescherte er den deutschen Volksgenossen Kindergelder, Steuererleichterungen, Rentenerhöhungen und andere soziale Annehmlichkeiten.

Parallelen im Parteiprogramm

Rechtspopulismus? Ultranationalismus? Wohlfahrtschauvinismus? Nationalsozialismus wie er im Gründungsbuch steht. Die Forderung nach einem «grosszügigen Ausbau der Alters-Versorgung», der Verstaatlichung von Trusts oder der «Verhinderung jeder Bodenspekulation» figurierte 1920 genauso auf dem 25-Punkte-Programm der NSDAP wie die Unterbindung «jeder weiteren Einwanderung Nicht-Deutscher».

«Qui a besoin de le lire?», fragte Jean-Luc Mélenchon entsetzt, als das Verlagshaus Fayard letzten Herbst eine kommentierte Neuausgabe von Hitlers «Mein Kampf» ankündigte. Sicher, die Zeiten sind andere. Der FN offenbart weder revolutionäre Seiten noch expansive Gelüste, und er agiert nicht in einer von Krieg gezeichneten, sondern noch immer von relativem Wohlstand geprägten Gesellschaft. Die Zeiten werden aber auch künftig wieder andere sein. Man möchte deshalb meinen, dass es niemandem schaden würde, die Bücher der Vergangenheit zu durchblättern, derweil Marine Le Pen ihre Glückwunschtelegramme präpariert.

Quelle: Neue Zürcher Zeitung vom 27. Februar 2016

Tags: , , , ,