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Die Balkanroute: wilde Camps, Polizeigewalt und brutale Pushbacks

Eingereicht on 11. Oktober 2021 – 9:06

Ina Zeuch. Die Flucht über die Länder des ehemaligen Jugoslawiens bleibt gefährlich. Eine zentrale Rolle spielt die EU-Grenzschutzbehörde Frontex und ein ehemaliger österreichischer Bundeskanzler.

„Ins Game gehen“, so nennen die Geflüchteten ihre riskante Reise, wenn sie zu Fuß über die Grenze von Bosnien nach Kroatien aufbrechen. Wer dabei geschnappt wird, erleidet traumatisierende Gewalt. Viele Geflüchtete erzählen davon, wie sie brutal zusammengeschlagen wurden.

Sie kehren mit nichts außer ihren Kleidern am Leib zurück. Rucksäcke und alle ihre Wertsachen und ihr Geld, das sie sich für ihre Flucht besorgt haben, werden ihnen abgenommen. Vor allem werden ihre Handys vor ihren Augen mit Fußtritten zerstört.

Der kroatische Innenminister Vlaho Orepić dazu in einem Interview mit der Deutschen Welle im Februar 2017:“Die Balkanroute ist formell geschlossen. Was jetzt an den Grenzen außerhalb des Schengener Raums geschieht, sind illegale und kriminelle Handlungen, das ist Menschenschmuggel. Das hat nichts mit der Flüchtlingsproblematik zu tun.“

Das war eine Steilvorlage auch für die bosnische Polizei, um Menschen auf der Flucht wie Kriminelle zu behandeln, was vom kroatischen Innenminister als „gute und saubere Arbeit“ bezeichnet wird: „Ich habe die Nachbarländer besucht, denn nur durch gute Zusammenarbeit kann man die illegalen Prozesse effektiv bekämpfen.

Es ist wichtig, diesen Prozessen entgegenzuwirken. Dass kann man am besten durch gute und saubere Arbeit an den Grenzen sowie durch die konsequente Abschiebung der Personen, die illegal die Grenze überquert haben“, so der Vlaho Orepić weiter im Interview.

In Velika Kladusa – nur wenige Kilometer von der bosnisch-kroatischen Grenze entfernt – kampierten im September 2021 etwa 300 afghanische Geflüchtete auf einer Wiese entlang eines Maisfeldes, darunter viele Familien mit etwa 60 Kindern von einem Jahr sowie ältere Kinder, Jungen und Mädchen zwischen sechs und 13 Jahren.

Von Rahma (حْمَة, arabisches Wort für Barmherzigkeit), einer bosnischen Graswurzelorganisation, werden sie mit Wasser versorgt.

Rahma wurde von Alma Mujakić gegründet und verteilt auch Essen selbst bis zu den entlegensten Unterkünften von Geflüchteten im Wald oder in verlassenen Häusern. Keiner der hier Gestrandeten will in Bosnien bleiben. Viele von ihnen haben bereits Bekannte und Verwandte in Italien, Frankreich oder Deutschland, die ihnen für die Weiterreise über Westen Union oft auch Geld schicken.

Weil er nicht an sein Geld von 150 Euro kommt, das ihm seine Schwester aus Kanada geschickt hat, spricht Ahmed eine Mitarbeiterin von SOS Balkanroute bei der Verteilung von Spielsachen für die Kinder und Hygieneartikel für die Frauen im Camp an.

Denn Western Union blockiert den Geldtransfer bei arabischen Namen. Er bittet eine Helferin, das Geld unter ihrem Namen abzuheben. Aber auch viele Helfer:innen sind dem US-amerikanischen Geldhaus inzwischen namentlich bekannt und werden ebenfalls nicht mehr bedient.

Das ist nur eine der vielen Methoden, um Geflüchtete zu schikanieren und zu kriminalisieren. Ziel ist es, ganz im Sinne der EU, dass diese Menschen nicht in Mittel- und Westeuropa ankommen sollen, die nicht nur im Fall von Afghanistan aus eindeutig humanitären und international anerkannten Gründen auf der Flucht sind.

Hier in Velika Kladusa wie auch in Bihac, zehn Kilometer entfernt oder Tuzla nahe der serbischen Grenze, werden oft von Busbahnhöfen oder öffentlichen Plätzen von der Polizei vertrieben. Auch Friseursalons oder Cafés verweigern ihnen ihre Dienstleistungen, obwohl sie bezahlen können. Inhaber von Geschäften werden dazu von der örtlichen Polizei unter Druck gesetzt.

„Die Balkanroute ist geschlossen“

Seit 2015 wird die Balkanroute von Menschen aus dem Nahen Osten genutzt, um in die EU zu gelangen. Im ersten Halbjahr 2015 passierten circa 80.000 Menschen die Balkanroute. Sebastian Kurz, damaliger Außenminister und inzwischen auch ehemaliger österreichischer Bundeskanzler, verkündete 2016 überzeugt: „Die Balkanroute ist geschlossen“.

Damit dürfte er seine rechten Wähler gut bedient haben. Die EU setzt diese „Flüchtlingspolitik“ konsequent um, indem sie die EU Außengrenzen und ihr Exekutionsorgan Frontex seit 2016 massiv aufrüstet.

„Frontex verfolgt drei strategische Ziele: Beseitigung von Schwachstellen an den Außengrenzen auf der Grundlage einer umfassenden Lageerfassung, Gewährleistung sicherer, geschützter und gut funktionierender EU-Grenzen sowie Planung und Aufrechterhaltung der Kapazitäten der Europäischen Grenz- und Küstenwache“, heißt es auf der Webseite von Frontex.

Das EU-Mitglied Kroatien hat auf bosnischem Staatsgebiet eine breite Schneise in die bewaldeten Hügel kilometerweit vor dem eigentlichen Grenzübergang geschlagen und damit ganz im Sinne von Frontex eine „Schwachstelle“ geschlossen und eine „gut funktionierende EU-Grenze geschaffen“.

Flüchtlinge, die diese Rodung überqueren, die Tag und Nacht von kroatischen Grenzsoldaten bewacht wird, sind weithin sichtbar. Wenn sie diese Schneise mit viel Glück dennoch überquert haben, müssen sie immer noch die eigentliche Grenze mit dem Zaun aus Nato-Stacheldraht überwinden.

Die Balkankonferenzen

Die westlichen Balkanländer hatten bereits Fakten geschaffen, bevor Sebastian Kurz sich an die Spitze der Nulltoleranz gegenüber Geflüchteten stellte – allen voran Slowenien, Mitglied im Schengen-Raum und besonders dazu aufgefordert, die Grenze zu Kroatien zu bewachen.

Daraufhin rüsteten auch Kroatien, Mazedonien und Serbien ihre Grenzen auf. Zuvor hatte Ungarn seine Grenze zu Serbien mit dem Bau eines Grenzzaunes dicht gemacht.

2013, kurz nach der Aufnahme Kroatiens in die EU, fand die erste von Frontex organisierte Balkankonferenz in Wien statt, mit dem Ziel das „Migrationsmanagement am Balkan“ zu ordnen.

Dazu trafen sich am 13. und 14. November 2013 Vertreter internationaler Organisationen, die EU und Regierungspolitiker der Westbalkan-Staaten, um darüber zu beraten, wie man Migration über die Balkanroute eindämmen oder besser noch ganz verhindern könne.

Zwei weitere Konferenzen folgten 2014 ebenfalls in Wien und 2015 in Berlin, bei der auch die Beitrittsgesuche Albaniens, Bosnien-Herzegowinas, Serbiens, Mazedoniens, Montenegros und des Kosovo zum EU-Beitritt diskutiert wurden. Dabei wurden Infrastrukturprojekte in Milliardenhöhe gewährt. „Die Zukunft des Balkans liegt in Europa“, stellte der damalige deutsche Außenminister Sigmar Gabriel klar.

Doch noch bevor diese Pläne umgesetzt werden konnten, wurde die sogenannte Balkanroute im Sommer 2015 zur die Hauptstrecke für Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa.

Geflüchtete kamen von der Türkei über Griechenland weiter nach Mazedonien und von dort weiter über Serbien, Kroatien und Slowenien nach Österreich und Deutschland. Einzig Ungarn wurde für den Bau seines Grenzzauns im Herbst 2015 kritisiert, das als wichtiges Transitland den Geflüchteten aus Serbien die Grenze dicht machte und die Menschen damit zwang, ihre Route nach Bosnien zu verlagern. Erst der (kürzlich neu aufgelegteFlüchtlingspakt mit der Türkei beendete die Migration nach Südosteuropa im großen Stil.

Österreich, historisch eng verwoben mit dem Balkan und zudem Nachbarland Sloweniens, hat großes Interesse daran, dass die West-Balkanländer ihre Grenzen aufrüsten.

Seit 2017 war Sebastian Kurz Österreichs Bundeskanzler und gab den starken Mann gegen Einwanderung, gegen die er ein gemeinsames europäisches Bollwerk errichten möchte. Doch gegen diese Abschottungspolitik gibt es in Österreich auch viel Widerstand aus der Bevölkerung.

So hat Sigrid Spenger, die Kassiererin der Initiative SOS Balkanroute, ihre eigene Organisation Ankommen in Wien ins Leben gerufen und zusammen mit Afghanen und Afghaninnen eine Demonstration in Wien organisiert, bei der die Geflüchteten selbst zu Wort kamen „Es ging nicht darum, dass wir für sie sprechen, sondern dass sie öffentlich sichtbar für sich selber sprechen“, so Sigrid Spenger.

Wachsende zivile Aufmerksamkeit für die Geflüchteten

SOS Balkanroute, im April 2019 unter anderem vom Rapper Petar Rosandic gegründet, unterstützt Geflüchtete in Bosnien, die dort festsitzen. Petar Rosandic hat kroatische Wurzeln und spricht die Landessprache. So konnte er viele Kontakte und ein beeindruckendes Netzwerk mit kleinsten bosnischen Flüchtlingsinitiativen entwickeln.

„Am Anfang sind wir mit einer Spende von 2.000 Euro losgefahren. Das Geld war in zehn Minuten für Hilfsgüter ausgegeben und am Ende des Tages verteilt“, erzählt er von seiner ersten Reise nach Bosnien.

„Inzwischen haben wir viele erfolgreiche Aktionen für Sach- und Geldspenden gestartet.“ Diese Sachspenden liefert SOS Balkanroute direkt nach Bosnien und unterstützt außerdem mit Spendengeldern, viele kleine Graswurzelinitiativen, die in Bosnien entstanden sind und minutiös durch Quittungen für die Spender belegt werden.

Sie helfen mit dem Nötigsten wie Schlafsäcken, Kleidern und Nahrung. SOS Balkanroute half im August auch mit 8.000 Euro aus, als die bereits erwähnte Geflüchtetenhilfe Rahma ein Finanzierungsproblem hatte, damit Rahma weiterhin Menschen in den Camps mit Nahrung und Kleidern versorgen kann.

Im Frühling 2021 spendete sie für Rahma auch ein Fahrzeug für 7.000 Euro. Die Finanzierung von Fahrzeugen spielt eine wesentliche Rolle bei der Verteilung von Spendengeldern, die SOS Balkanroute rekrutiert. Bereits drei Helferinnen konnten so Fahrtzeuge gekauft werden.

Interessant ist auch die Aktion Bauern helfen Bauern, die zusammen mit Rahma das Camp mit den afghanischen Familien versorgt. SOS Balkanroute besucht regelmäßig Zemira Gorinjac vom Verein Solidarnost in Bihać, die Geflüchtete mit Sachspenden versorgt.

Ebenso regelmäßig schaut SOS Balkanroute bei Azra Velagić Macić vom Verein Hedija in Sarajewo vorbei und fragt nach den dringendsten Bedürfnissen bei der Versorgung der Geflüchteten. Azra Velagić Macić versorgte die Geflüchteten zunächst in der Innenstadt von Sarajewo, bis sie von der Polizei vertrieben wurde. Seitdem ist ihre kleine Wohnung voll mit Sachspenden, die sich im Flur stapeln und die sie an ihrer Wohnungstür an die Geflüchteten ausgibt.

Die beiden Schwestern Amina und Merdija Kobilica waschen Kleidung für die Geflüchteten und bekamen von SOS Balkanroute eine Waschmaschine gespendet. Das Tageszentrum in Tuzla, das ebenfalls regelmäßig von SOS Balkanroute besucht wird, wenn die Initiative von Wien aus wieder in Bosnien unterwegs ist, konnte mit deren Spendengeldern sechs Duschen bauen.

Hier können sich die Geflüchteten von zehn bis 18 Uhr aufhalten. Vor allem im Winter, wo die meisten Menschen wegen der Kälte nicht über die Grenze gehen, ist dies ein wichtiger Ort zum Aufwärmen, Duschen, Tee trinken, Handys aufladen und um ins Internet zu gehen.

In der Hochsaison der Flucht über die Grenze kleiden sich die Menschen hier neu ein, versorgen sich mit Rucksäcken, telefonieren noch einmal mit ihrer Familie.

Mirela Ahmetbegović arbeitet zudem in Emmaus, einer Organisation, die halbstaatlich, halb mit privaten Spendengeldern finanziert wird und 1999 ins Leben gerufen wurde – ursprünglich, um die Geflüchteten von Kosovo aufzunehmen und zu versorgen. Emmaus ist hauptsächlich für psychisch und körperlich Schwerstbehinderte tätig, für Menschen, die in keinem Krankenhaus mehr aufgenommen werden und keine Angehörigen haben.

Emmaus hat ihre sozialen Aktivitäten nun auch auf Geflüchtete ausgeweitet. Neben dem weitläufigen Heimgelände mit eigenem Gemüseanbau hat die Organisation nun auch einen Trakt für unbegleitete minderjährige Flüchtende errichtet. Dort waren 2021 im September 16 Jugendliche untergebracht.

„Wir beschäftigen sie so gut wie möglich und haben viele kreative Angebote für sie. Aber wir halten sie nicht, wenn sie nach Kroatien oder Serbien über die Grenze wollen“, erklärt eine Mitarbeiterin von Emmaus beim Besuch von SOS Balkanroute. Emmaus stellt außerdem täglich ein warmes Essen für die Geflüchteten, das sie am Busbahnhof von Tuzla an die Geflüchteten verteilt.

Es ist dieses Netzwerk kleinster Initiativen und inzwischen auch ein guter Kontakt zum bosnischen Fernsehen, das die Arbeit von SOS Balkanroute so effektiv macht.

„Als das Lager Lipa in Bihac brannte, waren unglaublich viele Helfer:innen vor Ort. Die blockierten sich teilweise gegenseitig – zu viel unorganisierte Hilfe ist nicht immer hilfreich. Aber nach diesem Wirbel war niemand mehr von ihnen übrig“, erzählt Petar Rosandic. „Von den großen Hilfsorganisationen haben wir nach dem Brand niemanden gesehen. Was hätten wir mit diesen riesigen Summen von Hilfsgeldern, die sie bekommen haben, bewerkstelligen können und wie viel haben wir aus den Geldern gemacht, die uns gespendet wurden.“

Doch auch ohne riesige Summen wird die Arbeit von SOS Balkanroute auf alle Fälle weitergehen.

#Bild: Camp von circa 60 Familien aus Afghanistan in Velika Kladusa. Bild: Ina Zeuch

Quelle: Telepolis… vom 11. Oktober 2021

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