Imperialistischer Krieg gegen die syrische Bevölkerung
Joseph Daher. Wir sind derzeit Zeugen eines weiteren Versuchs, politisch wie militärisch dem Aufstand in Syrien ein Ende zu setzen. Die militärische Offensive der Regimestreitkräfte, unterstützt von Bodentruppen der konfessionellen Hezbollah- und Schiitenmilizen sowie von iranischen und russischen Luftschlägen, setzt sich – trotz rhetorischer Verurteilung – mit Duldung der westlichen imperialistischen Mächte fort, während die syrische Opposition von denselben internationalen Kräften zu diplomatischen Verhandlungen gedrängt wird, damit sie sich den Bedingungen des Assad-Regimes beugt.
In den letzten Wochen haben die Streitkräfte des Assad-Regimes mit Unterstützung der Hezbollah- und Schiitenmilizen und russischer Luftangriffe beispiellose Erfolge in der Region nördlich von Aleppo erzielt und die befreiten Gebiete Aleppos eingeschlossen; die Belagerung der schiitischen Städte Nubl und Zahraa durch Jaysh al-Fath, eine von Jabhat al-Nusra und Ahrar Sham dominierte Koalition bewaffneter Kräfte, wurde dadurch aufgehoben. Damit hat das Regime die Versorgungslinien zu den freien Gebieten Aleppos abgeschnitten und die verschiedenen bewaffneten Anti-Assad-Kräfte nördlich von Aleppo isoliert.
Zehntausende Zivilisten sind vor dem Vormarsch der Regimestreitkräfte und ihrer Verbündeten geflohen und haben Zuflucht am Grenzübergang Bab al-Salama oder in der Stadt Afrin gesucht, die von der kurdischen PYD kontrolliert wird. Gleichzeitig zerstörten russische Luftschläge massiv zivile Infrastrukturen, so z.B. das letzte größere Krankenhaus in einer befreiten Region im nördlichen Aleppo.
Die oppositionellen bewaffneten Gruppen, die in der Region nördlich von Aleppo operieren, haben in Reaktion auf diese Offensive einen «Vereinten Militärrat» geschaffen. Der örtliche Rat hat in den befreiten Gebieten Aleppos ein Krisenzentrum gebildet, um die Versorgung der Grundbedürfnisse an Nahrung und Brennstoff zu erschwinglichen Preisen zu sichern. Den größten Teil seiner Ressourcen verwendet der Rat dazu, Brennstoff für Bäckereien, Krankenhäuser und Gruppen der Zivilverteidigung sowie Wasserpumpen zur Verfügung zu stellen, doch hat er Zweifel geäußert, ob die verfügbare Menge ausreicht. In den von der Opposition kontrollierten Bezirken Aleppos fanden Massenproteste statt, auf denen die Vereinigung der bewaffneten Fraktionen der Provinz zu einer «Armee Aleppos» und ein freies Syrien gefordert wurde.
Nicht nur Aleppo
Auch Zehntausende Einwohner von Daraa fliehen in den letzten Tagen vor dem Vormarsch der Bodentruppen des Regimes und vor den russischen Luftangriffen. Die Organisation «Ärzte ohne Grenzen» berichtete am 9.Februar, eines ihrer Krankenhäuser in der Provinz Daraa sei von einem russischen Luftangriff getroffen worden. Bei der Eroberung der strategisch wichtigen Städte Ataman (3 km nördlich von Daraa) und Sheikh Miskeen (75 km südlich von Damaskus) waren russische Luftschläge entscheidend für den Vormarsch der Streitkräfte des Assad-Regimes.
In den von der Opposition kontrollierten Gebieten um Homs warfen Flugzeuge des Regimes Flugblätter ab, in denen mit dem Einsatz von hochgradig zerstörerischen Waffen gedroht und behauptet wurde, die Bewohner würden in ihren Schutzräumen nicht sicher sein. Damit will das Regime unter den Einwohnern Angst schüren. Russische Flugzeuge flogen in zwei aufeinanderfolgenden Nächten (8./9.Februar) 50 Angriffe auf die Stadt Telbeesa – zahlreiche Tote und eine massive Zerstörung der lokalen Infrastruktur sind die Folge. In der ländlichen Provinz Idlib wurden am 9.Februar mindestens 15 Menschen getötet, als russische Luftschläge ein Flüchtlingslager trafen.
Diese Erfolge des Regimes wären ohne die militärische Hilfe Russlands, des Iran, der Hezbollah oder diverser schiitischer Milizen nicht möglich gewesen. Denn die syrische Armee ist erheblich geschwächt. Verschiedenen Schätzungen zufolge ist ihre Stärke von 300000 auf 60000–80000 Mann gesunken; vor dem Sommer 2015 hatte sie mehrere bedeutende Niederlagen einstecken müssen, besonders nachdem die nördlichen Städte Idlib und Jisr al-Shughour im Mai 2015 in die Hände der Koalition Jaysh al-Fath gefallen waren.
Fahnenflucht und der fehlende Wille der syrischen Jugend, für ein korruptes und autoritäres Regime zu sterben, erklären vorrangig die Unfähigkeit des Regimes, neue Soldaten zu rekrutieren. Viele junge Männer sind nach Europa geflohen, nachdem sie ihren Einberufungsbefehl erhalten haben. Wegen der Schwäche der syrischen Armee wurde eine 1215000 Mann starke «Nationale Verteidigungsstreitkraft» gebildet, die hauptsächlich von der Islamischen Republik Iran ausgebildet und bezahlt wird.
Ohne die ausländischen imperialistischen Interventionen wäre das Regime nicht fähig, seinen Krieg gegen die syrische Bevölkerung fortzusetzen und zu vertiefen.
Genf III, München…
Die Genf-III-Konferenz ist abermals gescheitert, denn das Regime setzt mit seinen Verbündeten die militärische Offensive gegen verschiedene Gebiete Syriens, die von bewaffneten Oppositionsgruppen kontrolliert werden, ungebrochen fort. Deshalb sah sich das oberste Verhandlungskomitee der syrischen Opposition gezwungen, den Verhandlungstisch zu verlassen. UN-Sonderbotschafter De Mistura hat als neues Datum für die Wiederaufnahme der Gespräche den 25.Februar angesetzt.
Inzwischen haben sich die verschiedenen imperialistischen Mächte am 11.Februar als International Syria Support Group in München getroffen, um die «Friedensbemühungen» wiederzubeleben. Vor diesem Treffen hatte US-Außenminister John Kerry versucht, den Zusammenbruch der diplomatischen Bemühungen zu verhindern, und für einen Waffenstillstand und freien Zugang humanitärer Hilfe plädiert. Die russischen Vertreter haben sich einverstanden gezeigt, dennoch setzt Russland seine Luftschläge von Aleppo bis Deraa ungemindert fort.
Vertreter des Assad-Regimes haben klargestellt, dass sie nicht bereit sind, den militärischen Vormarsch zu stoppen. Syriens Außenminister al-Muallem erklärte, es werde keinen Waffenstillstand geben, «bis die türkische Grenze gesichert ist», während Assads Chefberater Shaaban am 9.Februar erklärte, dass «der Vormarsch der Armee, der das Ziel verfolgt, Aleppo zurückzuerobern und Syriens Grenze zur Türkei zu sichern», nicht nachlassen wird.
Das oberste Verhandlungskomitee der syrischen Opposition wiederum hat erneut seine Bereitschaft bekundet, an den Gesprächen in München teilzunehmen, um die Friedensbemühungen wiederzubeleben. Gleichzeitig appellierte es an US-Präsident Obama, mehr zu tun, um die russischen Luftangriffe zu stoppen, und Waffen zu liefern, damit sich die bewaffneten Oppositionsgruppen verteidigen können.
Waffenlieferungen ohne politische Vorbedingungen an die demokratischen Teile der Freien Syrischen Armee für ihren Kampf gegen das Assad-Regime und die islamisch-fundamentalistischen Kräfte ist seit langem eine Hauptforderung der Unterstützer der syrischen Revolution – bislang ohne Erfolg.
Mehr denn je sehen wir, dass ein regime change nicht auf der Tagesordnung der imperialistischen Mächte in Syrien steht, ganz im Gegenteil.
Regime change nicht auf der Tagesordnung
Seit dem 30.September 2015 sind die Ziele der russischen Militärintervention klar: Sicherung und Festigung der militärischen Macht des Assad-Regimes. Russlands Präsident Putin erklärte am 28.September, vor dem Beginn der russischen Luftangriffe: «Es gibt keinen anderen Weg, den Syrien-Konflikt beizulegen, als durch die Stärkung der bestehenden legitimen Regierungsinstitutionen in ihrem Kampf gegen den Terrorismus.» In anderen Worten, die Zerschlagung aller Formen von Opposition, ob demokratisch oder reaktionär, gegen das Assad-Regime im Rahmen des «Krieges gegen den Terror».
Alle autoritären Regime haben zu dieser Art von Propaganda gegriffen, um Volksbewegungen zu unterdrücken: Assad vom ersten Tag des Volksaufstands an; General Sissi in Ägypten vor allem zur Unterdrückung der Muslimbrüder, aber auch linker und demokratischer Bewegungen; Erdogan gegen die PKK und verschiedene linke Bewegungen…
Sind sich die USA der Ziele Russlands nicht bewusst? Es ist kaum zu glauben, dass sie es nicht sein könnten. Viel eher betrachten sie die russische Intervention als Gelegenheit, die Opposition zu Verhandlungen mit Assad zu drängen – wie es tatsächlich in den letzten Wochen geschehen ist und noch geschieht. Außenminister Kerry hat der syrischen Opposition vorgeworfen, die Genf-III-Gespräche verlassen und damit den Weg für eine gemeinsame Offensive des syrischen Regimes und Russlands gegen Aleppo bereitet zu haben. Diese Haltung der USA kann nicht überraschen, sie haben noch nicht eine Sekunde lang den Willen zu einem regime change in Syrien gehabt.
Trotz ihrer Rivalität und ihrer Streitigkeiten verfolgen die imperialistischen und subimperialistischen Interventionen heute denselben Zweck: die im März 2011 begonnene Volksbewegung zu liquidieren, das Regime in Damaskus zu stabilisieren und zu versuchen, den IS militärisch zu besiegen. So erklärte der saudische Außenminister al-Jubeir am 8.Februar, Riyad sehe die Möglichkeit, saudische Spezialkräfte nach Syrien als Teil einer von den USA geführten Koalition gegen den IS zu entsenden. Auch die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain äußerten sich im selben Sinne, während Kuwait seine Unterstützung für die Anti-IS-Koalition signalisierte, selbst aber keine Truppen schicken würde. Gleichzeitig empfing der König von Bahrain den russischen Präsidenten und überreichte Putin eine Damaszenerklinge, die er das Schwert des Sieges nannte… Putins Berater verkündete am 10.Februar, der saudische König werde Russland Mitte März besuchen.
Wir dürfen nicht denken, dass die imperialistischen Rivalitäten im globalen Maßstab zwischen den USA, China und Russland unüberwindlich sind, sind sie doch in vielen Fragen voneinander abhängig. Es sind alles bürgerliche Regime, die immer Feinde von Volksrevolutionen sind und sein werden. Sie wollen stabile politische Zustände, die es ihnen erlauben, ihr politisches und ökonomisches Kapital auf Kosten der Bevölkerung zu vermehren. 12.Februar 2016
Joseph Daher ist Dozent an der Universität Lausanne. Er ist syrischer Herkunft und betreibt den Blog «Syria Freedom forever».
Quelle: Soz Nr. 03/2016
Tags: Imperialismus, Syrien
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