Gipfel in Glasgow und der Klimawandel: Ein Plädoyer für den Sozialismus
Daniel de Vries. Seit dem Wochenende tagen für die kommenden zwei Wochen Staatsoberhäupter, Minister sowie mehrere Tausend Delegierte aus aller Welt auf der 26. Weltklimakonferenz, die dieses Jahr im schottischen Glasgow stattfindet.
Im Jahr 1992 verabschiedeten mehr als 190 Länder die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC) in Rio de Janeiro (Brasilien). In den folgenden 29 Jahren internationaler Zusammenkünfte versagten die kapitalistischen Regierungen ein ums andere Mal und ließen die Welt wissentlich auf eine Katastrophe zusteuern. Die diesjährige Tagung in Glasgow wird dem in nichts nachstehen.
Seit der letzten Verhandlungsrunde 2019 hat sich allerdings viel verändert. Allein in den vergangenen zwei Jahren kam es weltweit zu immer drastischeren Klimakatastrophen: massive Waldbrände vom australischen Busch bis an die Westküste der USA, verheerende Überschwemmungen in Europa, Asien und Amerika sowie tödliche Hitzewellen überall auf der Welt.
Aber auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klimawandel und dessen Auswirkungen auf die Menschheit haben sich in dieser Zeit weiter vertieft. Der Weltklimarat (IPCC) bestätigt in seinem aktuellsten Bericht, der letzten August veröffentlicht wurde, dass die Auswirkungen des Klimawandels „bereits jetzt umfassend sind, schnell voranschreiten und sich weiter verstärken werden, wobei einige Trends bereits jetzt unumkehrbar sind“. Im Vergleich zum vorindustriellen Niveau hat sich die Welt bereits um 1,2 Grad Celsius erwärmt. Die Trägheit des Klimasystems bedingt einen globalen Temperaturanstieg von 1,5 Grad Celsius innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte, wenn nicht sogar früher.
Doch weder die düsteren Warnungen seitens der Wissenschaft noch die offensichtlichen Folgen extremer Wetterereignisse veränderten die erbärmliche globale Reaktion auf den Klimawandel. Weiter verstärkt wird die internationale Lähmung angesichts der Klimakrise durch eine fehlende globale Antwort auf die Corona-Pandemie. Die Gespräche in Glasgow wurden um ein Jahr verschoben, weil man auf ein kollektives Vorgehen im Kampf gegen die Pandemie hoffte. Doch stattdessen folgte ein noch schlimmeres Coronajahr. Die weltweite Todesrate wird sich bis Ende des Jahres mehr als verdoppeln.
Vorrangiges Ziel der diesjährigen Weltklimakonferenz ist, die Treibhausgas-Minderungsziele zu überarbeiten, zu denen sich einzelne Länder nach der Verabschiedung des Übereinkommens von Paris 2015 verpflichtet haben. Diese Verpflichtungen sind dabei vollkommen freiwillig und unterliegen keinem völkerrechtlichen Durchsetzungsmechanismus. Die kollektiven Bestrebungen, die im Pariser Übereinkommen vereinbart wurden, sind also nicht nur vollkommen zahnlos. Sie bringen den Planeten nicht einmal in die Nähe des erklärten Ziels, den Temperaturanstieg auf 2 Grad zu begrenzen; ganz zu schweigen des Ziels von 1,5 Grad, das Wissenschaftler fordern.
Eine Analyse des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP), die vergangene Woche veröffentlicht wurde, ergab, dass die Temperaturen in diesem Jahrhundert um bis zu 2,7 Grad Celsius ansteigen werden – selbst, wenn die Länder ihre derzeitigen Verpflichtungen erfüllen. Realistisch gesehen wird es jedoch weit schlimmer. Viele Länder haben kaum auf erneuerbare Energien umgerüstet, die Effizienz gesteigert oder andere Maßnahmen durchgesetzt, die erforderlich wären, um ihre ohnehin unzureichenden Ziele umzusetzen. Sollte es zu keinerlei Anpassungen kommen, wird die Erderwärmung bis 2100 wahrscheinlich die Marke von 3 Grad überschreiten – ein Ausmaß, das die Zukunft der Zivilisation in Frage stellt.
Die Lösung, die in Glasgow diskutiert wird, besteht darin, neue, weitgehendere Ziele auszuarbeiten, die den Verlauf der Klimaerwärmung eindämmen sollen. Diese Ziele bleiben jedoch nach wie vor freiwillig und können durch zynische Tricks in der Bilanzierung manipuliert werden. Beispielsweise hat Brasilien seine voraussichtlichen Emissionen, wie 2005 festgelegt, nach oben korrigiert. Prozentual gesehen ist das Land damit weiter auf dem richtigen Weg, seinen Verpflichtungen nachzukommen.
Zwischen den CO2-Versprechungen seitens der Regierungen und der politischen Realität besteht ein schroffer Gegensatz. Es wird nach wie vor auf fossile Brennstoffe gesetzt und der Status quo bleibt unangetastet. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Vereinigten Staaten, die derzeit für mehr Kohlendioxid in der Atmosphäre verantwortlich sind als jede andere Nation. Präsident Joe Biden reiste mit dem Versprechen nach Glasgow, den Ausstoß von Treibhausgasen in den USA bis Ende des Jahrzehnts auf die Hälfte des Niveaus von 2005 zu reduzieren und Netto-Null-Emissionen bis Ende 2050 zu erreichen. Gleichzeitig verhandelt Biden in der Demokratischen Partei darüber, wie die Infrastruktur- und Sozialausgaben weiter gekürzt werden können. Die verbleibenden finanziellen Mittel zur Bekämpfung des Klimawandels belaufen sich über einen Zeitraum von zehn Jahren auf gerade einmal 550 Milliarden Dollar – ein Bruchteil dessen, was die USA innerhalb von nur einem Jahr für Kriegsvorbereitungen ausgeben. Der größte Teil des Klimafonds soll dabei in Form von Steuergeschenken an Unternehmen ausbezahlt werden.
Hinter den falschen Versprechungen und dem Getue um Verpflichtungen verbergen sich explosive nationale Rivalitäten, die den Gipfel in Glasgow prägen. Für den US-Imperialismus bedeutet der Wechsel von der Regierung Trump (die aus dem Pariser Abkommen ausgestiegen ist) hin zur Biden-Regierung (die dem Abkommen wieder beigetreten ist) keineswegs eine Wende hin zu einer internationalen Koordinierung, um eines der drängendsten Probleme der Menschheit zu lösen. Vielmehr geht es darum, eine neue diplomatische Front zu eröffnen im Kampf um die internationale wirtschaftliche und geopolitische Vorherrschaft. Dies zielt vor allem darauf ab, dem Aufstieg Chinas entgegenzuwirken.
Biden verdeutlichte dies am Donnerstag während seiner Rede, in der er sein eigentliches Ziel darlegte – nämlich „die Klimakrise in eine Chance zu verwandeln, um uns den Weg zu ebnen, den wirtschaftlichen Wettbewerb des 21. Jahrhunderts gegen China und jedes andere Land der Welt nicht nur zu bestehen, sondern zu gewinnen“.
Seine Äußerungen folgten auf die erst vor kurzem veröffentlichten Geheimdienstdossiers über die Auswirkungen des Klimawandels auf die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten, die das Weiße Haus erstmalig in diesem Zusammenhang in Auftrag gegeben hat. Darin wird zusammengefasst, was in Glasgow auf dem Spiel steht: „Es ist wahrscheinlich, dass geopolitische Spannungen zunehmen, da die Staatengemeinschaft vermehrt darüber streitet, wie Netto-Null-Emissionen schneller erreicht werden können, die im Abkommen von Paris festgelegt wurden.“ Weiter heißt es: „Die Debatte wird sich darauf konzentrieren, wer mehr Verantwortung trägt, wer – wie schnell – handeln und mehr zahlen muss, sowie um die Konkurrenz zwischen den Ländern, Ressourcen zu kontrollieren und neue Technologien zu beherrschen, die für den Übergang zu sauberer Energie benötigt werden.“
Alle imperialistischen Regierungen stellen ähnliche Berechnungen an und versuchen damit vor allem, wirtschaftliche Vorteile für ihre innerstaatlichen Industrien zu erlangen und ihre geopolitische Position zu stärken.
Gleichzeitig wird die Kluft zwischen den Ränkespielen der Regierungen in Glasgow und dem, was für die Rettung der Menschheit notwendig ist, immer größer.
Im Frühjahr veröffentlichte die Internationale Energieagentur (IEA), eine intergouvernementale Kooperationsplattform für Energietechnologien, einen Fahrplan, um bis 2050 einen weltweiten Netto-Null-Energiesektor zu schaffen. Der Energiesektor ist für drei Viertel der weltweiten Kohlenstoffemissionen verantwortlich. Dieser Weg ist notwendig, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen.
In dem Bericht wird dargelegt, dass „eine große Anzahl beispielloser Veränderungen in allen Bereichen des Energiesektors gleichzeitig umgesetzt werden müssten, während die Welt weiter versucht, sich von der Corona-Pandemie zu erholen“. Allein in den nächsten neun Jahren sind die folgenden Maßnahmen erforderlich:
- Sämtliche Genehmigungen für alle neuen Öl- und Gasfelder sowie Kohlebergwerke müssen eingestellt werden;
- Der Anteil erneuerbarer Energien in der Stromversorgung muss 60 Prozent betragen und damit mehr als verdoppelt werden;
- Jährliche Investitionen für den Energiesektor müssen verdreifacht werden;
- Die Hälfte der bestehenden Gebäude in den Industriestaaten und ein Drittel der Gebäude in den Entwicklungsländern müssen nachgerüstet werden;
- Die weltweite Batterieproduktion muss alle zwei Jahre verdoppelt werden;
- Die Anzahl der bestehenden Solaranlagen muss verfünffacht werden;
- 50 Prozent der neuen PKWs müssen über einen Elektroantrieb verfügen (es waren 2,5 Prozent im Jahr 2019).
Wer glaubt ernsthaft, dass die kapitalistischen Regierungen überall auf der Welt diese Ziele umzusetzen werden? Die Teilnehmer auf der Weltklimakonferenz in Glasgow können sich noch nicht einmal darauf einigen, ihre völlig unzureichenden Versprechen einzuhalten – von einem Systemwechsel ganz zu schweigen.
Die Corona-Pandemie hat die eigentlichen Prioritäten der herrschenden Klasse verdeutlicht, an denen sie trotz des Massensterbens festhält. Die völlig unzureichenden Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit gingen mit einem massiven Eingriff der Zentralbanken im März 2020 einher. Um einen Zusammenbruch des Finanzsystems zu verhindern, flossen praktisch unbegrenzt finanzielle Mittel zur Unterstützung von Banken und Großkonzernen. Nachdem die Märkte vorübergehend stabilisiert waren, bestand die oberste Priorität darin, die Wirtschaft in nahezu allen Regionen der Welt wiederzubeleben. Gleichzeitig konnte sich das Coronavirus ungehindert ausbreiten und mutieren. Die Folge sind Millionen Todesopfer – und ein Ende ist nicht in Sicht. Währenddessen hat die soziale Ungleichheit ungeahnte Ausmaße angenommen.
Im Kampf gegen den Klimawandel steht die Menschheit vor denselben grundlegenden Herausforderungen wie in der Pandemie. Genau wie das Coronavirus kennt auch Kohlenstoffdioxid keine staatlichen Grenzen. Um wirksame Antworten auf die Grundprobleme unserer Epoche zu finden müssen die Grenzen durchbrochen werden, die im Kapitalismus bestehen.
Es bedarf einer massiven Umverteilung vorhandener Ressourcen, die zur Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse und nicht für den privaten Profit eingesetzt werden müssen.
Für einen raschen Übergang hin zu einer Wirtschaft, die auf erneuerbaren Energien basiert, braucht es enorme Investitionen. Aber diese sind unmöglich, solange die Wirtschaft von privaten Profitinteressen kontrolliert wird.
Das Versagen in der Bewältigung des Klimawandels ist aber nicht abstrakt auf den Menschen zurückzuführen, sondern hat seine Ursache in einem bestimmten Gesellschaftssystem, dem Kapitalismus. Die inneren Widersprüche des Kapitalismus – erstens die Aufteilung einer wirtschaftlich integrierten Welt in rivalisierende Nationalstaaten und zweitens der Gegensatz zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und dem Privateigentum an den Produktionsmitteln – sind ein Hindernis, das überwunden werden muss, um die katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels abzuwenden. Hierfür ist ein rationaler, auf globaler Ebene koordinierter Wirtschaftsplan notwendig. Doch das erfordert einen Kampf für den Sozialismus.
In seinem Kern ist der Klimawandel eine Klassenfrage. In wessen Interesse handelt die Gesellschaft? Der Kapitalismus, der im Sinne einer winzigen, aber sagenhaft reichen herrschenden Elite agiert, hat sich als völlig bankrott erwiesen. Die dringendste Aufgabe besteht nun darin, sich der Arbeiterklasse zuzuwenden. Sie ist die einzige gesellschaftliche Kraft, die ein grundlegendes Interesse daran hat, die Gesellschaft so umzugestalten, dass soziale Bedürfnisse erfüllt werden und nicht privater Profit.
#Titelbild: Feuerwehrleute versuchen im Gebiet Gorny Ulus in Jakutien (Russland) einen Waldbrand unter Kontrolle zu bringen, 5. August 2021 (AP Photo/Ivan Nikiforov)
Quelle: wsws.org… vom 1. November 2021
Tags: Ökologie, Ökosozialismus, Politische Ökonomie, Strategie
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