Klassismus –Anerkennung der Diskriminierten statt Analyse der Ausbeutung
Eszter Kováts & Thomas Land. Warum der Begriff des Klassismus die Kapitalismuskritik in den westlichen Industrieländern derzeit abzulösen scheint, hat verschiedene Gründe. Einer davon ist die Akzentverschiebung von strukturellen/sozioökonomischen Fragen auf Fragen der Kultur und Anerkennung. Als Reaktion auf die blinden Flecken des Arbeiterbewegungsmarxismus prägten sich in den 1960er und -70er Jahren im Westen die identitätspolitischen Kämpfe des Feminismus, des Antirassismus und der Schwulen- /Lesbenbewegung aus, die teilweise wichtige Korrekturen vornahmen. Zudem galt das sozialistische Projekt mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Sieg der neoliberalen Offensive als endgültig diskreditiert.
Um nicht in den Verdacht zu geraten, längst überholten Theorien oder totalitären Praktiken anzuhängen, verschob man die ‚soziale Frage‘ – sofern man sie überhaupt stellte – vom ökonomischen ins kulturelle Register. Aus dem antagonistischen Klassen- und Interessengegensatz der kapitalistischen Gesellschaft wurde die bunte Vielfalt von Identitäten, Projekten und Initiativen in der Sphäre der Zivilgesellschaft. Große Teile der universitären Linken interessierte sich fortan mehr für horizontale (kulturelle) Differenzen als für vertikale (soziale) Konflikte. Bereits 1995 beklagte Nancy Fraser, dass das Anerkennungsparadigma zum Zentrum linker Theoriearbeit geworden sei. Der Begriff des Klassismus ist nun der Versuch, die ‚soziale Frage‘ wieder salonfähig zu machen, indem ökonomische Ungleichheiten in das Paradigma der Anerkennung integriert werden. Man kann noch weiter gehen und argumentieren, dass die Pointe des Klassismus-Begriffs gerade darin zu bestehen scheint, der wissenschaftlichen Kritik der Produktionsverhältnisse ihren kritischen Stachel zu nehmen und auf das in liberalen Demokratien weniger verfängliche Gebiet der Antidiskriminierung und der Anerkennung auszuweichen.
Hinzu kommt die kritiklose Übernahme von sozialwissenschaftlichen Begrifflichkeiten und Trends aus dem US-Wissenschaftsbetrieb. Die USA gelten nach wie vor als Wegweiser und anführen, dass der Begriff des Klassismus, dass er in den USA längst schon verwendet wird. Nun lassen sich Begriffe, die etwa in den USA geprägt wurden, nicht ohne Weiteres auf europäische Gesellschaften anwenden. Ohne entsprechende Adaption und Kontextualisierung verschleiern analytische Instrumente bisweilen mehr als sie aufdecken. Man sollte zum Beispiel nicht vergessen, dass die USA eine vergleichsweise individualistischere Gesellschaft sind – sozialstaatliche Gesundheitssysteme etwa, wie sie in Kontinentaleuropa verbreitet sind, sind dort immer noch undenkbar. Deshalb kommt dort der Antidiskriminierung als Mittel individueller Interessenvertretung, ein höherer Stellenwert zu. Dass dort aus der Not eine Tugend gemacht wird, heißt nicht, dass dieser Ansatz auch für Europa empfehlenswert ist.
Zum Beitrag: Klassismus –Anerkennung der Diskriminierten statt Analyse der Ausbeutung
Quelle: rote-ruhr-uni.com… vom 9. Dezember 2021
Tags: Arbeitswelt, Feminismus, Neoliberalismus, Postmodernismus
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