Neoliberale Offensive und Zunahme der weltweiten Ungleichheit
In dem 1. Band seines Werkes «Das Kapital. Zur Kritik der politischen Ökonomie» formuliert Karl Marx im 23. Kapitel das sogenannte allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation: Dass unter dem Kapitalverhältnis tendenziell mit zunehmendem Reichtum auch wachsende Armut unter den Arbeiter:innen produziert wird. Nun, dieses Gesetz bestätigt sich immer stärker seit dem Einsetzen der neoliberalen Offensive in den 1970er Jahren. General Pinochet, der Anführer des blutigen Staatsstreiches in Chile vom 11. September 1973 hat das neoliberale Programm trefflich formuliert – und gnadenlos durchgesetzt: «Eine Welt zu schaffen, wo es den Reichen gut geht». Er erntete dafür auch viel Lob und tatkräftige Unterstützung – von den Reichen und deren Regierungen in den USA, in Deutschland, Grossbritannien, Italien, Frankreich, der Schweiz und vielen anderen Ländern. Die Reichen und die Regierungen dieser Länder fühlten sich zunehmend bedroht durch die stürmischen Arbeiter:innenkämpfe jener Periode.
Der folgende Beitrag von Michael Roberts untermauert diese These des allgemeinen Gesetzes mit einigen einschlägigen Zahlen und Grafiken. Dabei wird auch klar, dass die herrschenden politischen und wirtschaftlichen Funktionsmechanismen die Reichen während der vergangenen zwei Jahren der Pandemie viel reicher gemacht haben, während breite Teile der Arbeiter:innenklasse verstärkt von Existenzängsten geplagt werden. Ganz abgesehen davon, dass diese Verhältnisse eine Lösung der verschiedenen akuten Krisen (Klima, Ökologie, Gesundheitsversorgung, Ernährungssicherheit, Wasserversorgung, Wohnen, …) oder eine Abwendung einer drohenden anhaltenden inflationären Entwicklung unmöglich machen. Nur eine Massenbewegung, die die Eigentums- und Machtfrage konsequent stellt und die Erzeugung und Verwendung des Reichtums unter weltweite demokratische Kontrolle stellen will, kann diese Krisen lösen. Ganz abgesehen davon, dass nur eine weltweite emanzipatorische Massenbewegung der immer schärferen imperialistischen Kriegstreiberei ein Ende bereiten kann. [Redaktion maulwuerfe.ch]
Michael Roberts. Über die vergangenen 40 Jahre hat die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen weltweit zugenommen. Das geht aus dem World Inequality Report 2022 hervor, der hier abgerufen werden kann. Der vom World Inequality Lab unter der Leitung von Thomas Piketty und einer Gruppe von über 100 Analysten aus aller Welt erstellte Bericht enthält die aktuellsten und vollständigsten Daten zu den verschiedenen Facetten der weltweiten Ungleichheit: globales Vermögen, Einkommen, geschlechtsspezifische und ökologische Ungleichheit.
Der Bericht zeigt, dass im Jahr 2021, «nach drei Jahrzehnten der Handels- und Finanzglobalisierung, die globalen Ungleichheiten immer noch extrem ausgeprägt sind … heute ungefähr so gross wie auf dem Höhepunkt des westlichen Imperialismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Obwohl der Bericht über die weltweite Ungleichheit feststellt, dass die Ungleichheiten zwischen den Nationen seit dem Ende des Kalten Krieges zurückgegangen sind (vor allem aufgrund des Anstiegs des Lebensstandards in China), heisst es, dass die Ungleichheit innerhalb der meisten Länder zugenommen hat und durch die globale Pandemie der letzten zwei Jahre noch ausgeprägter geworden ist.
Die weltweite Konzentration des persönlichen Reichtums ist extrem. Dem WIR zufolge besitzen die reichsten 10 % der Erwachsenen weltweit etwa 60-80 % des Vermögens, während die ärmste Hälfte weniger als 5 % besitzt.
Dies ist ein ähnliches Ergebnis wie die andere wichtige Studie über die weltweite Ungleichheit der Vermögen, die jedes Jahr von der Credit Suisse erstellt wird. Dieser Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass nur 1 % der Erwachsenen in der Welt 45 % des gesamten Privatvermögens besitzen, während fast 3 Milliarden Menschen nichts besitzen. Die Vermögensungleichheit ist viel grösser als die Einkommensungleichheit – ein Thema, über das ich schon früher berichtet habe.
Zudem ist die Einkommensungleichheit immer noch sehr hoch. Das WIR stellt fest, dass die reichsten 10 % der Weltbevölkerung derzeit 52 % des Welteinkommens für sich beanspruchen, während der Anteil der ärmsten Hälfte nur 8 % beträgt. Im Durchschnitt verdiente eine Person aus den obersten 10 % der weltweiten Einkommensverteilung im Jahr 2021 122.100 Dollar (92.150 Pfund) pro Jahr, während eine Person aus der ärmsten Hälfte der weltweiten Einkommensverteilung nur 3.920 Dollar pro Jahr verdiente, also 30 Mal weniger!
Tatsächlich ist der Anteil des Einkommens, den die ärmste Hälfte der Weltbevölkerung derzeit erzielt, etwa halb so gross wie 1820, also vor der grossen Kluft zwischen den westlichen Ländern und ihren Kolonien. Mit anderen Worten: Der Aufstieg des Imperialismus als «höchstes Stadium» des Kapitalismus hat die Ungleichheit der Einkommen weltweit verstärkt. Der Anteil des persönlichen Einkommens der ärmsten 50 % der erwachsenen Weltbevölkerung, d. h. von etwa 3 Milliarden Menschen, ist nur noch halb so hoch wie 1820! So viel zur gleichmässigen und gemeinsamen Entwicklung nach 200 Jahren Kapitalismus.
Zurück zum Reichtum: Das WIR stellt fest, dass «die Nationen reicher, die Regierungen aber ärmer geworden sind». Der Reichtum, sowohl der materielle als auch der finanzielle, ist nicht gleichmässig verteilt. «In den letzten 40 Jahren sind die Länder deutlich reicher geworden, aber ihre Regierungen deutlich ärmer. Der Anteil des Vermögens, der von öffentlichen Akteuren gehalten wird, geht in den reichen Ländern gegen Null oder ist sogar negativ, was bedeutet, dass sich der gesamte Reichtum in privaten Händen befindet.» Der Hauptautor des Berichts, Lucas Chancel von der Paris School of Economics, drückt es so aus: «Was wir brauchen, um die Gleichheit zu erhöhen, den Klimanotstand zu bekämpfen und die Bedingungen für ein gutes Leben für alle zu schaffen, ist private Genügsamkeit und öffentlicher Luxus, aber das Gegenteil ist der Fall.»
Im 21. Jahrhundert hat die Ungleichheit des Reichtums erheblich zugenommen. So ist das Vermögen der 50 reichsten Menschen der Welt zwischen 1995 und 2001 jährlich um 9 % gestiegen, während das Vermögen der 500 reichsten Menschen jährlich um 7 % zunahm. Das durchschnittliche Vermögen wuchs im gleichen Zeitraum mit 3,2 % um weniger als die Hälfte. Seit 1995 haben die obersten 1 % in den letzten 25 Jahren 38 % des gesamten zusätzlichen weltweiten Reichtums an sich gerissen, während die unteren 50 % nur 2 % davon abbekommen haben. Der Anstieg der so genannten mittleren Einkommensgruppe in der nachstehenden Grafik ist hauptsächlich auf die Verringerung des Armutsniveaus in China zurückzuführen.
Die obersten 0,01 % der Erwachsenen steigerten ihren Anteil am Privatvermögen von 7,5 % im Jahr 1995 auf jetzt 11 %. Und der Anteil der Milliardäre stieg von 1 % auf 3,5 %.
Die vergangenen beiden Jahre der Pandemie haben die Ungleichheit nur noch verstärkt. Während der ersten Wellen der Covid-19-Pandemie wuchs das Vermögen der Milliardäre weltweit um 3,7 Billionen Dollar. Laut Chancel entspricht dieser Betrag «fast den gesamten jährlichen Ausgaben aller Regierungen der Welt für die öffentliche Gesundheit vor der Pandemie – etwa 4 Billionen Dollar». (Die Gesamtausgaben für Gesundheit aus allen Quellen beliefen sich laut WHO im Jahr 2017 auf 7,8 Billionen Dollar). Aber im gleichen Zeitraum wurden durch Covid weltweit 100 Millionen Menschen mehr in extreme Armut gestürzt.
Und es sind die Reichen, die die meisten Kohlenstoffemissionen verursachen (durch Verkehr und Reisen) und am meisten von den Vorteilen der Impfungen profitieren, um Krankheiten oder Tod zu vermeiden.
Sowohl die COVID-Pandemie als auch der Klimawandel erhöhen den Anteil des Reichtums, der an die ohnehin schon Reichen geht. Lucas Chancel: «Die globale wirtschaftliche Ungleichheit heizt die ökologische Krise an und macht es viel schwieriger, sie zu bewältigen. Es ist schwer vorstellbar, wie wir die Anstrengungen zur Bewältigung des Klimawandels ohne eine stärkere Umverteilung von Einkommen und Vermögen beschleunigen können». Alle internationalen Organisationen, die sich mit dem Klimawandel und der Pandemie befassen, stimmen mit Chancel überein. Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor der WHO, sagte auf einer Sondersitzung der Weltgesundheitsorganisation, dass: «Die globale Gesundheitssicherheit ist zu wichtig, um sie dem Zufall, dem guten Willen, wechselnden geopolitischen Strömungen oder den Interessen von Unternehmen und Aktionären zu überlassen.» Und letzte Woche gab eine Gruppe von fast 40 UN-Sonderberichterstattern eine Erklärung ab, in der es heisst: «Die gerechte Bewältigung der Gesundheitskrise muss Vorrang haben vor der Gewinnmaximierung von Unternehmen und dem Horten von Impfstoffen durch Länder mit hohem Einkommen.»
Aber es wird nichts unternommen, um diese Ungleichheiten in Bezug auf Wohlstand, Einkommen und Gesundheit zu beseitigen.
Quelle: thenextrecession.com… vom 10. Dezember 2021; Übersetzung durch Redaktion maulwuerfe.ch
Tags: Arbeitswelt, Covid-19, Gesundheitswesen, Neoliberalismus, Ökosozialismus, Politische Ökonomie, Widerstand
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