Ukraine: Der Landraub «nebenbei»
Dieter Drüssel. Russische Agrarunternehmen eignen sich im Krieg ukrainische Güter an. Das ist geläufig. Kaum thematisiert wird hingegen die westliche Grossoffensive zur fortschreitenden Übernahme der ukrainischen Landwirtschaft. Das erfordert Bauernopfer. Auch die Schweiz hat ihre Finger mit im Spiel.
Das Papier «War and Theft: The Takeover of Ukraine’s Agricultural Land» des Oakland Institute von Februar 2023 ist hochspannend – und provoziert Wut. Die von Frédéric Mousseau und Eve Devillers verfasste Analyse beleuchtet, wie die Landwirtschaft in der Ukraine seit den Maidan-Ereignissen von 2014 sukzessive unter das Diktat der «internationalen Märkte» gezwungen wird. Insbesondere ging und geht es um die sogenannte «Agrarmarktliberalisierung», also das Kommando transnationaler Agrarunternehmen und Investmentfonds über den extrem fruchtbaren Boden und die Bäuer:innen.
Oligarchische Agrarunternehmen
Diese spezielle Liberalisierung traf aber auf breiten Widerstand in der Bevölkerung, die sie über Jahre in wichtigen Teilen blockieren konnte. So blieb, trotz massiver Erpressungsmanövern von EU, IWF und Weltbank, der Erwerb ukrainischen Landes durch ausländische Investor:innen grundsätzlich verboten. Diese fanden allerdings auch so Wege zum Besitz, etwa durch Minderheitsbeteiligungen an Agrarunternehmen der ukrainischen Oligarchie. Laut dem Bericht des Oakland Institute befinden sich rund 28 Prozent des anbaufähigen Landes im Besitz von «Oligarchen, korrupten Individuen und grossen Agrarunternehmen». Auf diesen 28 Prozent weiden schon Investmentfonds wie Vanguard oder von Goldman Sachs, grosse US-Pensionskassen oder etwa der staatliche norwegische Ölfonds. Diese oligarchischen Agrarunternehmen haben bei der zwischenstaatlichen Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), gegründet Anfang der 1990er-Jahre zwecks Vermarktwirtschaftlichung von Osteuropa, bei der Europäischen Investitionsbank und beim Privatsektor-Arm der Weltbank, der International Finance Corporation (IFC), grosse Schulden aufgenommen und tanzen folglich nach deren Takt.
Im Auftrag von Brüssel
Die anderen Teile des ukrainischen Agrarlandes sind im Besitz von rund acht Millionen ukrainischen Bäuer:innen. Der «klassische» Konflikt also: umweltzerstörende, dafür kapitalistisch profitable grosse Monokulturen versus bäuerische Landwirtschaft. Das Oakland Institute schreibt: «Es sind die kleinen und mittleren Bäuer:innen der Ukraine, die die Ernährungssicherheit des Landes garantieren, während die grossen Agrar-unternehmen auf die Exportmärkte ausgerichtet sind». Die Grausamkeit der Lage lässt uns das Institute mit diesem Zitat der Professorin Olena Borodina erahnen: «Heute kämpfen und sterben tausende von Landjungen- und mädchen im Krieg. Sie haben alles verloren. Die Regeln für freien Verkauf und Erwerb von Land werden zunehmend liberalisiert und annonciert. Das bedroht wirklich das Recht der Ukrainer:innen auf ihr Land, für das sie ihr Leben geben.»
2020 verankerte die Regierung Selenski den Auftrag aus Washington und Brüssel zur Schaffung eines Agrarlandmarktes in einem Gesetz. Es ermöglichte den vorerst abgestuften und getarnten, ab 2024 offenen Besitztransfer auch an ausländisches Kapital. Das Gesetz trat 2021 in Kraft. Der damals neue Präsident Selenski nutzte die «Gunst der Stunde»: Die Covid-Pandemie wütete im Land im Lockdown, grosse Strassenmobilisierungen gegen die Liberalisierung wie noch zu Jahresbeginn waren damit vom Tisch. Den gleichen «Trick» benutzten Selenski & Co. letztes Jahr, um die vom «solidarischen Westen» geforderte brutale Aushebelung von Arbeitsrechten mit Kriegsrecht durchzudrücken.
Die Ukraine ist heute der drittgrösste Schuldner beim IWF (nach Argentinien und Ägypten). Das schlägt sich nicht nur im transnationalen Landraub nieder. IWF-Massnahmen seit dem Maidan wie Rentenkonterreform oder Erhöhung der Tarife für staatliche Dienstleistungen haben die Armut explodieren lassen: von 28,6 Prozent 2016 auf 41,3 Prozent im Jahr 2019, wie das Institut Angaben von Unicef wiedergibt.
CH-Komplizenschaft
Dem Institute-Bericht ist ein Hinweis auf die Schweizer Beteiligung am Landraub zu verdanken. Und zwar im Zusammenhang mit den sogenannten «crop receipts» (Ernteschuldscheinen). Der Begriff meint, die Bäuer:innen erhalten einen Kredit, wofür sie aber ihre zukünftige Ernte als Garantie einsetzen müssen. In ihrer Mitteilung vom 3.Februar 2020 mit dem Titel «IFC and Switzerland Partner to Help Agricultural Capital Markets in Ukraine, Benefiting Small Farmers» schreibt die IFC, was Sache ist: «Da die Ukraine sich dieses Jahr für den Bodenmarkt öffnet, werden Bäuer:innen mehr Arbeitskapital für den Anbau benötigen». Mit anderen Worten: Wir brachten sie in die Bredouille. Die smarte Lösung dazu: «Um die zusätzliche Finanznachfrage der Bäuer:innen zu managen, werden auch Kreditgeber neue Instrumente fordern. In diesem Kontext wird die IFC unter Benutzung ihres Vierjahres-Projekts Ukraine Agricultural Capital Markets mit der Regierung arbeiten, um die lokalen Finanzinstitute mit dem nötigen Instrumentarium und Wissen auszustatten. Das wird ihnen beim Zugriff auf Kapitalmarktliquidität helfen, dank Wertpapieren, die auf einem innovativen, ‹corn receipts› genannten Instrument beruhen.»
Lassen wir den Begriff «innovativ» weg für die alte Verschuldungsmasche mit dem zukünftigen Arbeitsprodukt als Pfand, das die Bäuer:innen, wenn es schiefläuft, an andere verlieren – meist zusammen mit Existenzgrundlage. Lesen wir weiter: «Ernteschuldscheine, von der IFC 2015 eingeführt, erlauben es ukrainischen BäuerInnen, zukünftige Ernten als Sicherheit anzubieten. Das half bis jetzt mehr als 4000 Bäuer:innen, Finanzierung von fast
1,3 Milliarden US-Dollar zu erhalten.» Das sei «signifikant» für ein Land, in dem die Landwirtschaft ein entscheidender wirtschaftlicher Treiber und «ein grosser Arbeitgeber ist». Aufbauend auf dem Erfolg des IFC-Crop-Receipt-Projekts in der Ukraine werde das in Partnerschaft mit dem Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) umgesetzte neue IFC-Projekt helfen, einen «sekundären Markt für diese Schuldscheine zu schaffen. Das wird mit der Verbriefung dieser landwirtschaftlichen Forderungen, die an der Börse handelbar sind, erreicht werden und zusätzliche Liquidität in den Sektor bringen.»
Der Hebel ist angesetzt
Was sollen auch ukrainische Finanzinstitutionen mit den mit IFC und anderen westlichen Geldern erworbenen Schuldscheinen anfangen? Etwa selbst Getreide aussäen? Besser, sie verkaufen sie an das ukrainische oder transnationale Agrobusiness. Und da kauft man diese Dinger nur, wenn sie Profit versprechen, sei es über den Kreditzins oder dass die «begünstigten» BäuerInnen in genügendem Ausmass bankrottgehen. Das bedeutet der Begriff Verbriefung (die Schuldscheine handelbar machen).
Nicole Ruder, damals Kooperationschefin in der Schweizer Botschaft in der Ukraine, heute zu «Vize-Direktorin der Deza und Leiterin der Abteilung Multilaterales und NGO» aufgestiegen, verklärt den Raubzug in der IFC-Mitteilung zum Halleluja für unten und oben: «Während die Verbriefung von grossen Kreditoren und Marktplayers umgesetzt wird, werden die Endbegünstigten die Kleinbäuer:innen sein. Ein erweiterter Zugang dieser Kleinbäuer:innen zu Finanzen wird folglich die landwirtschaftliche Produktivität ankurbeln, Innovation in der Landwirtschaft fördern und das Wirtschaftswachstum stärken.» Man weiss, wo der Hebel anzusetzen ist.
Quelle: vorwaerts.ch… vom 25. Juni 2023
Tags: Arbeitswelt, Bauern, Imperialismus, Neoliberalismus, Politische Ökonomie, Russland, Ukraine
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