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Die Moral der Geschichte: «Alle gegen Russland!»

Eingereicht on 20. April 2022 – 8:54

Willi Eberle. Während der Krieg in der Ukraine tobt, werfen die Hauptparteien des Krieges: das russische Regime und der US-Imperialismus, der die Ukraine in dieses blutige Gemetzel vorausgeschickt hat, ihre Schatten auch in die weltweiten, vor allem aber in die US-amerikanischen und europäischen linken Milieus. Auch dort bilden sich zunehmend harte Fronten zwischen den Unterstützern des einen oder anderen Lagers heraus. Eine dritte Logik – diejenige des Festhaltens an der Traddition des revolutionären Sozialismus – ist kaum sichtbar. Gerade die Unterstützer des US-Imperialismus bewegen sich innerhalb eines postmodernistischen moralisierenden Orientierungsrahmens. Dieser verbietet jede Erklärung der Krise aus längeren geschichtlichen Konflikten, bettet alle Argumentationen ein in einen vorgegebenen Diskurs «Alle gegen Russland!» und schliesst vor allem jede Forderung aus, die sich irgendwie kritisch gegen die Nato und den US-Imperialismus wendet.

So etwa Gilbert Achcar, einer der führenden Köpfe der Restbestände des ehemaligen Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale, der schon in den Kriegen in Libyen und in Syrien den Ton für eine Kampagne im Gefolge des US-Imperialismus vorgab. In Libyen ging es um die Forderung der militärischen Unterstützung durch den US-Imperialismus für gewisse Rebellengruppen, in Syrien um die Errichtung einer Flugverbotszone; beide Male sollten dadurch humanitäre Katastrophen verhindert, oder fortschrittliche Kräfte geschützt werden.  Auf dieser Linie führt er aktuell einen moralisierenden Vergleich zwischen einer (hypothetischen) Invasion der USA in Venezuela und der (tatsächlichen) Invasion Russlands in der Ukraine an, um eine Argumentationslinie zu stützen, die in ihren Forderungen jede, insbesondere auch militärische, Unterstützung für den ukrainischen Widerstand fordert und sich gegen die sofortige Auflösung der Nato und den Abzug des Nato Militärpersonals aus Osteuropa stellt. Viele linke Organisationen – gerade auch in der Ukraine und in Russland – und die Ukraine-Solidaritätskomitees übernehmen diese Forderungslogik.

Diese Logik begründet sich aus der Annahme, dass eine Niederlage Russlands in diesem Krieg die Voraussetzung überhaupt darstellt, die sich seit über 30 Jahren verschärfenden kriegerischen Entwicklungen weltweit wenn nicht zu beenden, aber immerhin zu bremsen. Zudem ist der Widerstand in der Ukraine objektiv gesehen von der politischen und zumindest indirekten militärischen Unterstützung der Nato und vor allem des US-Imperialismus abhängig. So weit so gut – oder doch nicht?

Erstens hinkt dieser hypothetische Vergleich: In Venezuela entwickelte sich spätestens ab der Mitte der 1990er Jahre ein Prozess mit eindeutig progressiver, emanzipatorischer Grundlinie heraus, der insbesondere gegen den US-Imperialismus gerichtet war. Dass das daraus hervorgegangene chavistische Regime sich letztendlich gegen diese progressiven Elemente stellte, die eindeutig aus der Selbstorganisation der Arbeiterklasse stammten, die das Regime noch jahrelang gegen rechte Putschversuche verteidigten, ist eine andere Geschichte; Parallelen dazu finden sich in verschiedenen anti-imperialistischen Revolutionen und dem Schicksal der daraus hervorgegangenen Regimes. Insbesondere aber in der Geschichte und im Geschick der aus der Russischen Revolution hervorgegangenen Sowjetunion, und in deren Zentrum: Russland. Die trotzkistischen Analysen auf Basis der Theorien um Bürokratisierung und Stalinismus versuch(t)en, diese Entartungen einigermassen überzeugend zu erklären.

Ganz anders die Ukraine. Der Zerfall der Sowjetunion führte in allen daraus hervorgegangenen Ländern aufgrund der neoliberalen Strukturanpassungen unter der Ägide der Perestroika-Bürokratie und der internationalen imperialistischen Agenturen – vor allem des US-imperialismus – zu einem massiven Verarmungsprozess gerade in der Arbeiterklasse; diese war weitgehend wehrlos, da das stalinistische Regime über Jahrzehnte jede Form der Arbeiterselbstorganisation brutal unterdrückte oder ausschaltete und so keine grössere Organisation und keine Kultur zur Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse vorhanden war. Gerade nicht in der Ukraine, die im Donbas über grosse industrielle Zentren verfügt(e), mit einer mehrheitlich russischsprachigen Bevölkerung. Es kam in den vergangenen 30 Jahren nie auch nur annähernd zu einem organisierten emanzipatorischen Prozess, wie beispielsweise in Venezuela. Im Gegenteil: Aufgrund des Fehlens jeden proletarischen Befreiungskampfes mit grösserer Ausstrahlung kam es zu einer deutlichen Erhitzung der nationalistischen, rechten Dynamik, wie sie weltweit, gerade auch in den imperialistischen Zentren der USA und in Europa immer stärker hervortrat und sich weiter verstärkt. Der Maidan-Aufstand vom Frühjahr 2014 wurde von diesen rechten militanten Kräften mit Unterstützung der USA und Deutschlands für einen rechten Putsch genutzt. Diese selbsternannte rechtsnationalistische Regierung umfasste neben anderen auch drei Mitglieder der faschistischen Svoboda Partei. Diese Regierung duldete die weiteren Umtriebe faschistischer militanter Kräfte, die bald eine magnetische Ausstrahlung auf faschistische Kräfte in Europa und den USA ausübte und Übungsszenarien an der Waffe vor allem im Bürgerkrieg in der Donbas-Region für europäische faschistische Milizionäre anbot. Die berühmteste dieser ukrainischen Milizen ist das Azow-Regiment, das in die Militärstrukturen integriert wurde und dort eine Eliteeinheit stellt. Diese rechten Milizen spielen seit 2014 eine wichtige Rolle sowohl im offiziellen Krieg gegen die beiden Donbas Republiken und aktuell bei der Verteidigung der Stadt Mariupol; sie bekommt durch die von Achcar geforderten bedingungslosen Waffenlieferungen hochmodernes effizientes Kriegsmaterial in die Hände.

Andererseits setzt Achcar bei seinem moralisierenden Vergleich den hypothetischen militärischen Angriff der USA auf Venezuela den US-Imperialismus dem (allfälligen) russischen Imperialismus gleich, ganz nach der Logik, wer den ersten Schuss abgibt, ist imperialistisch. Selbst wenn er diese offensichtlich fragwürdige Definition des Imperialismusbegriffes nun leicht zurückschraubt, und Russland als imperialistische Regionalmacht beschreibt, wie es einige seit längerem tun, so ist offensichtlich, dass Venezuela nie in keiner Art und Weise irgendeine Bedrohung gegen die USA dargestellt hätte. Die Ukraine hingegen, insbesondere seit dem Maidan-Putsch von 2014, wurde durch den US-Imperialismus mittels militärischer, politischer und wirtschaftlicher Unterstützung und politischer Einflussnahme systematisch als «Stachel im Unterleib Russlands» aufgebaut, quasi in Fortsetzung der Bestrebungen in den 1990er Jahren, «Russland in 20 gefügige und machtlose Gebilde zu zerlegen» (Dick Cheney, 1992).  Der seit 2014 wütende Bürgerkrieg in der Ostukraine war ein zentrales Element in dieser Strategie. Nun bezahlt die ukrainische Arbeiterklasse einen schweren und blutigen Preis für ihre politische Schwäche. Dieses Schicksal könnte auch der europäischen Arbeiterklasse blühen, wenn der US-Imperialismus und Russland in diesem Krieg nicht gestoppt werden können!

Dass die Beschreibung solcher Zusammenhänge bei Achcar et àl. auf keinen Fall in eine Analyse der Entwicklung des Krieges einfliessen darf, zeigt das tiefe Malaise seiner politischen Strömung, die sich seit längerem zunehmend in postmodernistischen Orientierungen, der Betonung von Unterdrückung und Identitäten verliert, anstatt sich dem Aufbau einer revolutionären politischen Organisation zu widmen, die die Arbeiterklasse, deren Kämpfe und Perspektiven und Probleme ins Zentrum stellt. Dazu würde die produktive Weiterentwicklung der für ein revolutionäres Verständnis von Politik und Geschichte notwendigen Begriffe gehören, wie z.B. des Imperialismusbegriffs, um die Veränderung und Grundstruktur kapitalistischer Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse zu verstehen und umzuwerfen. Diese Verabschiedung von der Tradition des revolutionären Marxismus, die seit etwa 30 Jahren in verschiedenen Strömungen der radikalen Linken zunehmend Überhand gewonnen hat, fand ihren Ausdruck auch in der Strategie der Breiten Parteien, die sich vor allem gegenüber den zentristischen Tendenzen in der Sozialdemokratie und des ex-Stalinismus öffnete und zu verheerenden politischen Niederlagen wie in Italien, Brasilien, Griechenland, Frankreich, Spanien, Venezuela u.a.O. führte. Kein Zufall, dass Achcar weiterhin ein prominenter Verfechter dieser Strategie ist.

Dass die Inspirationen für kritische Positionen heute von hochgebildeten eher mit dem Imperialismus verbundenen Intellektuellen, wie dem renommierten US-amerikanischen Politikwissenschafter der Schule des Politrealismus John J. Mearsheimer oder Scott Ritter nebst vielen Anderen herkommt, verweist auch auf die Schwäche der Linken, die immer nur in moralischen Kategorien denken kann; diese imperialistischen Intellektuellen gehen von realen Machtverhältnissen aus und versuchen, geschichtliche und politische Zusammenhänge im Weltmassstab zu verstehen. Dies ist ja geradezu ihr Beruf, arbeiten sie doch im Dienste der Aufrechterhaltung der US-Dominanz im Imperialismus. Dass das moralisierende Denken aber nicht notwendigerweise zu einer Verblendung gegenüber historischen Prozessen und Herrschaftsstrategien führen muss, zeigen aktuelle Stellungnahmen renommierter Theologen, deren Beruf ja gerade die Pflege moralischer Grundsätze ist. Einige von ihnen sind nämlich durchaus in der Lage, hier die Schuldigen zu benennen.

Dass die Logik der Solidarität mit dem ukrainischen Widerstand am Begriff des russischen Imperialismus festgemacht werden muss – ohne aber diesen auch nur irgendwie zu analysieren – ist ein Bärendienst an der internationalen Arbeiterklasse. Diese unterschiedslose Behandlung des ukrainischen Volkes und seines Widerstandes übersieht die tiefe Kluft, die sich mit der Anstachelung der antirussischen Kräfte im Bürgerkrieg weiter geöffnet hat, ganz abgesehen von den ukrainischen Oligarchen, die nun zum Volk gezählt werden. Dass nun rechtsradikale bis faschistische Kräfte im Widerstand eine wichtige Rolle einnehmen – sie verfügen über eine hohe Motivation, eine effiziente straffe Organisation, Waffen, internationale Beziehungen und vor allem über eine mehrjährige Kriegserfahrung – ist äusserst beunruhigend. Diese Kräfte werden im aktuellen Krieg gestärkt – es sei denn, sie werden beim Fall von Mariupol physisch vernichtet.

Dies ist eine Warnung an alle linken Kräfte weltweit: Wenn es nicht gelingt, den Vormarsch der radikalen Rechten und der Faschisten zu stoppen, droht eine noch grössere Schlächterei als in der Ukraine. Dabei kann die Nato und der US-imperialismus sicher keine Hilfe sein – vielmehr hiesse das, den Bock zum Gärtner zu machen. Damit ist das Dilemma der Linken angedeutet, die mit dem Aufbau der Ukraine-Solidarität und vor allem mit der Zusammenarbeit mit ukrainischen und russischen linken Organisationen eine wichtige und notwendige Arbeit machen. Aber aufgrund ihrer konzeptionellen Schwäche infolge ihres postmodernistischen, moralisierenden Orientierungsrahmens überlassen sie die inhaltliche Führung dieser Komitees oft diesen lokalen Organisationen, gerade was die Logik «Alle gegen Russland» anbelangt. In deren verzweifelten Lage ist dies verständlich, stellt aber eine gefährliche Achse dar. Dies geht bis zur Forderung nach einer Stärkung und einer Unterstützung durch die Nato in ihrem verzweifelten Kampf. Sie rufen so nach dem Bock, der letztendlich die Katastrophe zum grossen Teil angerichtet hat.

Dass das russische Regime wie auch das ukrainische Regime und schon gar nicht die Nato für die Eindämmung der kriegerischen Eskalation, vor allem nicht für eine Stärkung emanzipatorischer Ansätze eintreten wollen, hat die Geschichte gezeigt, auch in Libyen und Syrien. Vor allem auch in Russland! Hätte das Regime die Offensive des US-Imperialismus mit einer emanzipatorischen Perspektive begegnen wollen, so hätte es versucht, in der Ukraine, in Europa, in den USA und vor allem in Russland die Arbeiterselbstorganisation zu stärken; es half vielmehr den reaktionären Regimes in Kasachstan und in Belarus, die Aufstände der Arbeiterklasse niederzuschlagen. Es stärkte aber überall die reaktionärsten Kräfte, wie zum Beispiel die Unterstützung für Trump, für Marine Le Pen in Frankreich, von Orban in Ungarn, für den ehemals Rechten Sektor in der Ukraine zeigt. Dass die Linke hinter Achcar nun gegen Russland die Option des US-Imperialismus wählt, zeigt nur deren Bankrott auf! Deren Unterschied zur Schweizer Version der Kriegshetzerei ist in den harten Fragen um die militärische, politische und ökonomische Eskalation kaum wahrnehmbar.

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