Tarifrunde Metall: Ritual oder Mobilisierung?
Frederik Haber. Die kommende Tarifrunde startet unter neuen politischen Vorzeichen. Die SPD befindet sich nicht mehr an der Regierung; Schwarz, Gelb und Grün sondieren Flexibilisierung und weitere Angriffe. Die günstige Konjunktur hat die Profite der Großkonzerne nach oben getrieben; zugleich bedrohen Dieselskandal, Umstrukturierungen und Digitalisierung Arbeitsplätze.
Die Forderungen, mit denen die IG Metall in die Tarifrunde gehen will, spiegeln diese widersprüchliche Situation wider. Die wichtigsten lauten:
- 6 Prozent mehr Entgelt
- Arbeitszeiten, die zum Leben passen
Darunter ist zu verstehen, dass Beschäftigte ihre Lebensarbeitszeit flexibler planen können sollen, z. B. indem sie zeitweilig auf eine 28-Stunden-Woche wechseln und dann auf ihr „Normalarbeitsverhältnis“ zurückkehren dürfen.
- Entgeltzuschuss für Familie und Gesundheit
Beschäftigte, die ihre Arbeitszeit reduzieren, um Kinder unter 14 Jahren oder Pflegebedürftige zu betreuen, sollen einen Zuschuss von bis zu 200 Euro/Monat erhalten. SchichtarbeiterInnen und andere gesundheitlich besonders Belastete sollen bis 750,- Euro Zuschuss pro Jahr kriegen
- Personalausgleich und Angleichung der Arbeitszeiten im Osten
Richtig schwer hat sich der Apparat der IG Metall getan, bis die Forderungen für die nächste Runde standen. Es soll nämlich nicht nur um mehr Geld gehen, sondern auch um Arbeitszeit. Sie sollten wirkliche Bedürfnisse der Beschäftigten aufgreifen – und zugleich so vage bleiben, dass es der Wettbewerbsfähigkeit nicht allzu weh tut.
Der Vorstand hatte sich dazu etwas ausgedacht: Besonders belastete Beschäftigte sollen die Möglichkeit erhalten, befristet die Arbeitszeit geringfügig zu verkürzen – zum Beispiel SchichtarbeiterInnen.
Es ist was dran, dass diese besonders belastet sind und es in den letzten Jahren noch mehr wurden. Die Takte in der Produktion sind noch mehr verkürzt worden, die Arbeit verdichtet sich also. Die Schichten greifen immer mehr die Wochenenden an, Erholung wird schwieriger, soziale Kontakte werden (Familie, Freunde) ge- und zerstört. Zusätzlich macht die Erhöhung des Renteneintrittsalters den Leuten besonders zu schaffen und es ist bekannt, dass Wechselschichten, insbesondere mit Nachtschicht, die Lebenserwartung deutlich senken.
Natürlich gibt es auch sonst mehr Belastungen. Die psychischen Erkrankungen nehmen zu, Entlastung ist nötig. Die Firmen greifen auch in der Freizeit auf die Menschen zu. Damit stellt sich die Frage: Warum keine generelle Arbeitszeitverkürzung? Mit Industrie 4.0 sollen nach unterschiedlichen Berechnungen 40 bis 70 % alle Arbeitsplätze bedroht sein. Das wäre ein zusätzlich guter Grund ebenso wie die anhaltende Arbeitslosigkeit in Europa.
30-Stunden-Woche? Warum nicht?
Allgemeine Arbeitszeitverkürzung ist in der IG Metall, die einst die 35 Stunden mit Streik durchgesetzt hat, ein Tabu geworden. Die Spitzen der Gewerkschaft und die Betriebsräte sind so in Standortdenken verhaftet und um die Position der deutschen Metallindustrie im internationalen Wettbewerb bemüht, dass sie diesen Gedanken gar nicht zulassen – und schon gar nicht den Gedanken daran, europaweit oder international für Arbeitszeitverkürzung zu kämpfen!
Sie verweisen auch gerne auf die „unterschiedlichen Bedürfnisse“. Dann werden immer die jungen IngenieurInnen erwähnt, die alle 40-Stunden-Verträge hätten und ganz gerne noch länger arbeiten würden. Die gibt es, die gab´s auch schon früher, die nehmen anteilmäßig zu, weil die Produktionsarbeitsplätze schrumpfen, aber sie sind eine Minderheit. Und obwohl die Betriebsräte wie die IG Metall schon bisher sehr kreativ waren, Möglichkeiten zu schaffen, z. B. Stunden auf Langzeitkonten zu bunkern, nehmen sie die vergleichsweise privilegierte Minderheit, die sowieso kaum in der Gewerkschaft organisiert ist, zum Maßstab ihrer Argumentation. Dies ist auch deshalb perfide, weil der Druck auch für diese Gruppe enorm zunimmt und die Notwendigkeit einer allgemein verbindlichen Arbeitszeitverkürzung ohne „flexible“ Ausnahmen auch für diese immer dringlicher wird.
Außerdem sind die realen Arbeitszeiten für die Mehrheit der tariflich Beschäftigten ohnedies länger als 35 Wochenstunden im Westen bzw. 38 Stunden im Osten. Standortsicherungsverträge und andere Sondervereinbarungen haben fast überall die Arbeitszeiten über die 35 gedrückt. Lediglich für die Stammbelegschaften in der Autoindustrie und in Teilen der großen Zulieferer gilt die 35 noch flächendeckend. Die aktuelle Befragung der IG Metall hat für die Tarifgebiete West ergeben, dass zwar rund 65 % der Beschäftigten eine tarifliche Arbeitszeit von 35 Stunden oder weniger haben. Fast 70 % wollen aber eine Arbeitszeit von höchstens 35 Stunden, davon fast 20 % weniger als 35.
Hauptvorstand ohne Realitätsbezug
Natürlich hat die Befragung der IG Metall-Spitze aber auch Zustimmung zu ihrer Forderung nach einer „verkürzten Vollzeit“ ergeben. Die grundlegenden Probleme der Beschäftigten werden damit jedoch nicht angegangen. Eine Verkürzung der tariflichen und der realen Arbeitszeiten ist nicht nur objektiv nötig, sondern würde auch die Zustimmung der Mitglieder erhalten, wenn sie damit verbunden würde, die ganzen Überschreitungsvereinbarungen zurückzunehmen und den Druck, immer mehr Arbeit mit immer weniger Leuten zu stemmen, zu bekämpfen.
Diese Diskrepanz zwischen dem Plan der IGM-Führung und der Realität in der Arbeitswelt war so groß, dass im Vorlauf zu dieser Forderung etliche Sitzungen der Großen Tarifkommissionen und eine „Arbeitszeitkonferenz“ nötig waren, um den Willen der Frankfurter Zentrale durchzusetzen. Selbst brave BetriebsratsbürokratInnen sahen keinen Sinn in einer solchen Forderung, die – sollte sie durchkommen – nichts als eine kleine Nettigkeit für wenige ist, im höchsten Fall mit Teillohnausgleich in besonderen Fällen wie belastender Arbeit oder familiärer Pflege.
So kamen Forderungen auf wie „5 Tage zusätzlich frei für alle“ – eine Forderung, die auf jeden Fall mobilisierungsfähiger wäre, oder nach dem Recht für Betriebsräte, bei der Personalbemessung mitreden zu können. So wurde zum Beispiel vorgeschlagen, dass bei vielen Überstunden oder hohen Stundenkonten Neueinstellungen verpflichtend werden müssten. Das wäre eine „Sache der Politik“, entgegneten die SpitzenbürokratInnen. Dabei führt ver.di an den Krankenhäusern gerade darum einen Tarifkampf. Der Apparat war letztlich zwar gezwungen, diese Idee mit in die Forderungen aufzunehmen, aber so vage, dass sie im ersten Vorgespräch mit dem Unternehmerverband fallengelassen werden dürfte.
Im Osten für die 35
Ebenfalls mit aufnehmen musste er die Forderung aus dem Osten, die 35-Stunden-Woche endlich wieder anzugehen. Dort werden noch immer 38 Stunden pro Woche gearbeitet. Hier spielte sich eine Schlacht in der Gewerkschaft ab, und das dürfte der größte Erfolg der Basis innerhalb der IG Metall seit dem von unten erzwungen Streik in der Tarifrunde 2003 sein.
Während in Mecklenburg-Vorpommern als Teil des Bezirks Küste sowie Sachsen-Anhalt im Verbund mit Niedersachsen und Thüringen als Teil des Bezirks Mitte der Apparat die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung unterdrücken konnte, gelang dies im Tarifgebiet Berlin-Brandenburg-Sachsen (BBS) nicht. Gegen den Willen des vom Vorstand eingesetzten Bezirksleiters fassten die dortigen Gremien die entsprechenden Beschlüsse. Wo immer sie die Gelegenheit hatten, bei der Bundesvertrauensleutekonferenz oder der Arbeitszeitkonferenz, ergriffen VertreterInnen aus BBS das Wort. Die Informationssperre des Vorstands – kein Wort in der „metall“-Zeitung, kein Wort in den Berichten der westdeutschen Bezirksleitungen an die Tarifkommissionen – konnte so durchbrochen werden.
Zwei Pfeile haben die Spitzen-BürokratInnen noch im Köcher, um den Kampf für diese Forderung zu unterlaufen:
- Ein schneller Abschluss: Die Laufzeit für die 38 Stunden in BBS endet ein halbes Jahr später als die Kündigungsfristen der Manteltarifverträge, die auch die Arbeitszeit regeln. Deren Kündigungsfristen hat die IG Metall jetzt gemeinsam mit Gesamtmetall noch harmonisiert – ausdrücklich ohne BBS. Ein schneller Abschluss ließe BBS allein im Regen stehen.
- Spaltung: Natürlich ist der Druck bei den Autoherstellern BMW, Porsche und VW höher als in anderen Betrieben im Osten. Jetzt lanciert der Vorstand eine „betriebliche Lösung“ bei der dortigen Arbeitszeit – und würde damit die Tarifeinheit zerstören, indem die kampfkräftigsten Belegschaften Verbesserungen erhalten und die anderen im Stich gelassen werden.
Warum das Ganze?
Warum ist der Apparat diesen Weg gegangen? Möglicherweise hat die Frankfurter Spitze tatsächlich den Widerstand von unten und vor allem aus dem Osten unterschätzt. Aber die langfristige Planung zeigt, dass sie durchaus auf einiges vorbereitet war.
Das ganze Vorgehen lässt darauf schließen, dass der Führung klar war, dass sie irgendwann um das Thema Arbeitszeit nicht rumkommt. Die Verträge sind seit Jahren kündbar. Will sie Ruhe an dieser Front, muss sie sie jetzt neu aushandeln und dann mit langer Laufzeit die Manteltarife zumachen, die die Arbeitszeiten regeln. Dazu hat sie sich eine Forderung ausgedacht, die den KapitalistInnen nicht wirklich weh tut – so sehr die jetzt auch heulen. Auch das gehört zum Ritual Tarifrunde.
Die Kündigung der Manteltarifverträge erlaubt es den Arbeit„geber“verbänden, ihrerseits Forderungen aufzustellen, die den MetallerInnen weh tun und gegen die es zu kämpfen lohnt -, was dann die kämpferischen MetallerInnen auch tun werden.
Dazu sind seit dem letzten Gewerkschaftstag auch Eintages-Streiks möglich. Bis dahin war es üblich, dass Belegschaften für längere Zeit die Arbeit niederlegten. Was im Einzelhandel ein sinnvolles Mittel ist, weil es die Betriebsabläufe kurzfristig stört, bis die Läden ihre Ersatzleute besorgt haben, ist in der Auto-Industrie vom Management durchaus planbar und kann dann durch anschließende Zusatzschichten wieder ausgeglichen werden. Zur Forderung, die möglichst vage bleibt, gesellt sich die Streikform, die möglichst wenig weh tut und auch leichter von oben kontrolliert werden kann. Die wird aber trotzdem mit Sicherheit befolgt werden – was bleibt kämpferischen KollegInnen denn anderes übrig?
Ganz anders als die Arbeitszeitforderung wurde die Entgeltforderung sehr schnell durchgedrückt ohne viel Zeit zur Diskussion. Es ist jetzt schon zu befürchten, dass jeglicher „Erfolg“ bei der Arbeitszeit auf das Lohnergebnis angerechnet werden dürfte, das zugleich – wie zuletzt üblich – mit Laufzeit und mehreren Stufen so gestaltet werden dürfte, dass es kaum nachzurechnen geht.
Der Feind im eigenen Haus
Ganz sicher wird der Apparat alles tun, um den Kampf für die 35 im Osten an die Wand zu fahren. Erstens, weil das Niedriglohngebiet Ost für das deutsche Kapital erhalten bleiben soll und die Bürokratie darum keinen Großkonflikt will, zweitens, weil die unbotmäßigen FunktionärInnen gezeigt bekommen sollen, wer die Macht hat. Die Rache des Apparates folgt möglicherweise auf dem Fuß.
GewerkschafterInnen aus allen Branchen und aus allen Regionen können und müssen deshalb den Kampf für die 35 im Osten unterstützen. Der beispiellose Verrat am Streik 2003 durch die Gesamtbetriebsratsfürsten aus der Autoindustrie muss allen eine Warnung sein. Während damals aber die IGM-Führung unter Peters den Streik immerhin, wenn auch halbherzig, führte, wird die heutige Führung unter Hoffmann alle Mittel nutzen, den Kampf zu verhindern und – falls das misslingt – zu sabotieren.
Eine gute Chance bietet sich also für alle kämpferischen und oppositionellen MetallerInnen, ihre Kräfte zu bündeln, möglichst vielen die Augen zu öffnen, wo und wofür die Metall-Führung steht, und gemeinsam eine Opposition in der Gewerkschaft aufzubauen. Unmittelbar wird es nicht mehr möglich sein, die Forderungen zu ändern, mit denen die IG Metall in die Tarifrunde geht, auch wenn sie vage gehalten und die nach „verkürzter Vollzeit“ weit hinter dem zurückbleibt, was nötig wäre. Auch für diese Forderungen muss jedoch gekämpft werden, genauso wie für die 6 %.
Jede Verschärfung der Tarifrunde durch die UnternehmerInnen sollte zum Anlass genommen werden, seitens der IG Metall eine Schippe draufzulegen – für eine allgemeine Verkürzung der Wochenarbeitszeit bei vollem Lohn- und Personalausgleich!
Sollte es zu den Eintages-Streiks kommen, müssen es die Vertrauensleute bzw. die Mitglieder sein, die über eine Teilnahme entscheiden – nicht die BürokratInnen der Ortsvorstände, die jetzt schon festlegen, wer streiken darf und wer nicht. Wenn diese Strukturen darüber entscheiden können, ist es auch leichter möglich, Streiks auszuweiten – sowohl was die Länge wie auch die Breite der Beteiligung betrifft.
Die Tarifrunde 2018 birgt nämlich durchaus eine mögliche politische Sprengkraft vor dem Hintergrund einer neuen Regierung und des Kampfes um die 35-Stundenwoche im Osten. Für die Bürokratie steht offenkundig im Vordergrund, zu verhindern, dass die Aktionen über ein Dampf Ablassen hinausgehen oder dass sie die Kontrolle auch nur partiell verliert wie beim Aufstellen der Arbeitszeitforderung im Osten.
Für RevolutionärInnen gilt es, allen kämpfenden KollegInnen zu helfen, die Kontrolle zu bekommen:
- Die Kontrolle über den Kampf dadurch, dass die Entscheidung über die Aktionen bei der Belegschaft, den Gewerkschaftsmitgliedern und von ihnen gewählten Streikkomitees oder ihren VertreterInnen, den Vertrauensleuten, liegt.
- Die Kontrolle über die Arbeitszeit: Die Beschäftigten müssen in ihren Abteilungen Forderungen nach mehr Personal zur Entlastung der Arbeitenden aufstellen. Die Betriebsräte müssen sich das zu eigen machen. Die Strategie der Konzernführung, überall noch mehr aus den Menschen rauszupressen, muss von der Gewerkschaft generell bekämpft werden – nicht mit Trostpflastern für die, die nicht mehr können.
- Zusammenlegung und enge Koordinierung des Kampfs um Entgelt, Arbeitszeitregelung im Westen mit dem um Verkürzung auf 35 Stunden im Osten – dazu braucht es Kontrolle über die Kampftaktik und über etwaige Verhandlungen. Kein Abschluss, kein Aussetzen von Aktionen ohne Zustimmung der Basis!
Die Forderungsdebatte in der IG Metall hat auch gezeigt, wie weit der Apparat inzwischen von der Realität der Betriebe weg ist. Die Führung will offenkundig die Tarifrunde nicht zu hitzig werden lassen. Umgekehrt liegt gerade im Kampf um die 35-Stundenwoche auch eine enorme Sprengkraft, da diese Forderung sicher nur mit längeren, flächendeckende Streiks und Solidaritätsstreiks im ganzen Bundesgebiet durchgesetzt werden kann. Ein solcher Erfolg hätte weit über den Landesteil und die Branche hinausreichende Folgen. Er wird aber auch davon abhängen, dass sich alle, die konsequent dafür kämpfen wollen, organisieren, koordinieren, die notwendige Politik in den Gewerkschaften durchsetzen – kurzum, dass sie beginnen, sich als eine klassenkämpferische Opposition zu formieren.
Quelle: Neue Internationale 224, November 2017… vom 9. November 2017
Tags: Deutschland, Gewerkschaften, Neoliberalismus
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