Kapitalismus und Militarismus
Marv Waterstone. Das kapitalistische System bedroht heute alles Leben auf dem Planeten. Doch Noam Chomsky und Marv Waterstone sehen diese Krise als große Chance, die kapitalistischen Strukturen herauszufordern. Dafür müssen wir zuerst verstehen, wie unser Leben, unsere Wahrnehmung und unser »gesunder Menschenverstand« tatsächlich von den Bedürfnissen und Interessen der herrschenden Klassen bestimmt werden. Chomsky und Waterstone decken in ihrem neuen Buch diese oft unsichtbaren Verbindungen der strukturellen Macht auf, so auch die Verbindung von Militarismus und Kapitalismus. Ein Auszug.
Eine der ersten großen Überakkumulationskrisen des Kapitals (also Krisen, in denen es überschüssiges Kapital gibt, das keine Möglichkeit findet, sich zu verwerten, und in denen es keine Investitionsmöglichkeiten gibt, die für das Kapital attraktiv genug sind) führte 1846 bis 1850 zu einem Zusammenbruch der Wirtschaft in Europa. Also erlebte der Kapitalismus solchen Krisen schon sehr früh. Für Kapitalisten, die auf der Suche nach Investitionsmöglichkeiten waren, gab es zwei Wege, aus diesen Krisen zeitweise herauszukommen, zwei Optionen, die ihnen wieder die Akkumulation von Mehrwert und Profit ermöglichten. Die eine bestand in Inlandsinvestitionen in große Infrastrukturprojekte in Bereichen wie Verkehr und Transport, Wasser und Abwasser oder Wohnungsbau. Das war die Zeit, als Georges-Eugène Haussmann ganz Paris umgestaltete. Es gab all diese Projekte im Inland, in die Kapital investiert und bei denen mit diesem Kapital dann Gewinn gemacht werden konnte. Dabei arbeiteten die Kapitalisten natürlich meistens mit dem Staat zusammen.
Innere Solidarität und Souveränität, keine außenpolitischen Verpflichtungen
Die zweite Investitionsmöglichkeit bestand in der geografischen Expansion der Kapitalinvestitionen, die sich nun zum großen Teil auf den atlantischen Handel konzentrierten und bei denen die USA eine sehr bedeutende Rolle für die Absorbierung überschüssigen Kapitals spielten. Das Kapital ergreift in Krisen wann immer möglich die Flucht.
Aber die schwindenden Möglichkeiten, überschüssiges Kapital im Inland in Infrastrukturprojekte zu stecken, und die Unterbrechung des atlantischen Handels durch den US-Bürgerkrieg beschränkten das Potential dieser Krisenlösungsmechanismen. Dies wiederum löste bei den Kapitalisten Europas (und der USA) eine enorme Welle internationaler Finanzspekulation und Handelsexpansion aus.
Weil diese Art von Tätigkeiten einen verlässlichen und sicheren Rahmen benötigt, verlangten die Kapitalisten von ihren Nationalstaaten die Entwicklung einer geopolitischen Rechtfertigung für ihre (notfalls militärische) Unterstützung bei der Erschließung neuer Gebiete und für den Schutz ihrer Investitionen. Das heißt, das Kapital folgt einer Logik, die von seinem Bedürfnis nach der Maximierung von Profit und Rentabilität diktiert ist, sich aber nicht immer mit der Logik des Staates trifft. In dieser Situation musste das Kapital die Staaten zur Entwicklung einer geopolitischen Logik bewegen, die seiner eigenen expansionistischen Logik entsprach. Aber daraus ergab sich ein Widerspruch, der erst einmal gelöst werden musste. Die Nationalstaaten, die sich seit Mitte des 17. Jahrhunderts in Europa entwickelt hatten, basierten in erster Linie auf dem Gedanken der inneren Solidarität und Souveränität und nicht auf außenpolitischen Verpflichtungen. Genau das macht einen Staat ja zum Großteil aus: Er umfasst eine relative homogene Bevölkerung, die von einem davon verschiedenen, andersartigen Äußeren abgetrennt ist.
Mobilisierung von Nationalismus, Patriotismus, Chauvinismus und Rassismus
Diese beiden Logiken passten nicht gut zueinander. Während das Kapital sich auf der Jagd nach Investitionsmöglichkeiten rund um den Erdball bewegen will und muss und dazu den Schutz der Staaten benötigt, hatten die Staaten damals keine wirkliche Rechtfertigung für derartige Auslandsunternehmungen. Wie konnte dann (wie David Harvey und andere Analytiker es formuliert haben) durch den Mechanismus des Nationalstaats eine adäquate Antwort auf das Problem der Überakkumulation und die Notwendigkeit einer globalen Lösung in Gestalt neuer und anderer Gebiete für Investitionen und Profitmaximierung – das meint Harvey mit Lösung – gegeben werden?
Das ist ein Problem. Wie konnte die nationale Solidarität, die bis dahin weitgehend auf innerer Kohäsion basierte, Auslandsabenteuer rechtfertigen? Machen wir es ganz kurz. Die Antwort ist heute aktueller denn je und bestand in der Mobilisierung von Nationalismus, Patriotismus, Chauvinismus und Rassismus zur Rechtfertigung dieser Abenteuer und zur Legitimierung dessen, was Theoretiker dann als Akkumulation durch Enteignung bezeichnet haben. Das ist eine der Formen der Rechtfertigung dieser Auslandsunternehmen. Das Argument dabei besagte, es sei nur vernünftig, die Barbaren und minderwertigen Völker zu erobern und auszubeuten, da sie unfähig seien, ihre Ressourcen auf die bestmögliche Art zu nutzen. Das ist die Paraphrase einer Position, die von dem Philosophen John Locke vertreten wurde. All das führte zu einer brutalen Periode konkurrierender, auf Rassismus gegründeter nationaler Imperialismen, Kolonisierungen und Eroberungen der Briten, Franzosen, Holländer, Deutschen, Belgier, Japaner und Italiener. Diese Abenteuer wurden ferner durch neue sozialdarwinistische Ideen wie jener von der Bürde des weißen Mannes gerechtfertigt. So wurden diese beiden Logiken, die des Kapitals und die des Staates, miteinander vereint.
Willkürliche Aufteilung des Nahen Ostens
Aber die Widersprüche zwischen den verschiedenen Nationalismen und Imperialismen konnten nicht gelöst werden und das führte, genau wie Lenin es analysiert hatte, zu einem halben Jahrhundert an Zusammenstößen zwischen den Nationalstaaten. Schließlich resultierte all das, wie zum Beispiel bei der Konkurrenz um Afrika, in einer Aufteilung der Welt in verschiedene Kontroll- und Einflusssphären. Ende der 1890er Jahre war noch nicht einmal die Hälfte Afrikas kolonisiert, 1914 waren es 90 Prozent. So sehen wir, wie das Kapital im Lauf von nur einigen Jahrzehnten auf der Jagd nach Investitionsmöglichkeiten, Ressourcen und Profiten den gesamten Globus aufgeteilt hat.
Nach dem Ersten Weltkrieg endete diese Konkurrenz mit einer Umverteilung, die im Versailler Vertrag festgeschrieben wurde und unter anderem die willkürliche Aufteilung des Nahen Ostens in neue Staaten vorsah, die größtenteils unter britischer oder französischer Herrschaft standen. Einige dieser Maßnahmen beschäftigen uns auch heute noch, denn viele der Länder, die den heutigen Nahen Osten bilden, waren künstliche Schöpfungen, die nach dem Versailler Vertrag aus der Taufe gehoben wurden, der die Region unter den herrschenden Mächten aufteilte und dabei oft langjährig gewachsene historische Verhältnisse einfach ignorierte.
So gewalttätig und rassistisch Imperialismus und Eroberung auch waren, konnten sie das Problem des überschüssigen Kapitals dennoch nie wirklich lösen. Das führte schließlich zur Wirtschaftskrise der 1930er, die weltweite Auswirkungen hatte und letztlich auch eine Ursache der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges war. Dieselben Widersprüche kommen immer wieder zurück und sind bis heute nicht gelöst.
Ich möchte jetzt ein wenig über die USA sprechen, wo die Dinge etwas anders liegen, aber die Ergebnisse in vielerlei Hinsicht doch sehr ähnlich sind. Erstens waren die USA von Anfang an ein bürgerliches Land. Es bestand also nicht die Notwendigkeit zum Sturz älterer Formen aristokratischer oder feudaler Macht. Der Staat repräsentierte die Interessen der Industrie und der Oberklasse und wendete sich deshalb von Anfang an gegen jede Bedrohung der Rechte des Privateigentums oder des Prinzips der Profitmaximierung.
»Verbreitung amerikanischer Werte«
Zweitens hatten die USA bereits eine multiethnische Bevölkerung aus Immigranten. Appelle an einen homogenen Nationalismus mussten daher in Abgrenzung von allen Nicht-Kaukasiern konstruiert werden. Natürlich ist die Kategorie des »Weißseins« selbst ein ständig im Fluss begriffenes Konzept. »Nicht-kaukasisch« war also ein flexibler Begriff und die Einheit, die er stiftete, äußerte sich letztlich notwendigerweise in einer Frontstellung gegen nicht dazugehörige Andere. Der Historiker Richard Hofstadter hat dieses kontinuierliche Merkmal der US-Politik als den »paranoiden Stil« bezeichnet, die ständige Furcht vor den Anderen da draußen. Und wie wir sehen werden, kehrt auch das immer wieder und ist charakteristisch für die US-Geopolitik.
Und schließlich hatten die USA enorme Möglichkeiten interner geografischer Expansion, sobald die lästige indigene Bevölkerung erst einmal beseitigt war. Auch das war vollkommen anders als im Fall Europas mit seinen riesigen Kolonien außerhalb Europas. Dennoch gab es auch in den USA Zeiten geografischer Expansion, vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts und während des sogenannten Spanisch-Amerikanischen Krieges, mit dem die USA eine Reihe überseeischer Territorien in Besitz nahmen. Auch heute zeigen sich einige der Folgen noch nur zu klar.
Die USA rechtfertigten ihre Eroberungen und Besetzungen mit der »Verbreitung amerikanischer Werte«, die natürlich als edel und universal betrachtet und am Ende durch das Label »Globalisierung« ersetzt wurden. Anders als den europäischen Nationen, die einfach Territorien eroberten, ging es den USA angeblich immer um die Verbreitung der Demokratie.
Quelle: overton-magazin.de… vom 7. September 2022
Tags: Bücher, Dritter Weltkrieg, Erster Weltkrieg, Europa, Imperialismus, Ökologie, Politische Ökonomie, Repression, USA, Widerstand, Zweiter Weltkrieg
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