China vor 50 Jahren: Die sogenannte “Kulturrevolution”
Bruno Tesch. Legenden ranken sich um Geschehnisse und Inhalte der chinesischen Kulturrevolution, die vor 50 Jahren die Aufmerksamkeit der Welt erregte.
Für die bürgerliche Öffentlichkeit verbindet sich damit das Schreckensbild eines fanatisierten Mobs, der die Werte der „zivilisierten Welt” bedrohte. Der fremdenfeindliche Boxeraufstand des 19. Jahrhundert wird als Parallele ebenso bemüht wie die asiatischen Horden, die im Mittelalter nach Europa vordrangen. Zugleich aber werden die Erscheinungen der Kulturrevolution mit überlegener Miene als töricht und schädlich für die Entwicklung Chinas abschätzig beurteilt.
Für viele Linke hingegen verklärt sich heute noch bei dem Wort „Kulturrevolution” der Blick, und es werden jene demokratischen Elemente hervorgehoben, die die Möglichkeit zur Freiheit der Kritik, zum Kampf gegen bürgerliche und Bürokratieprivilegien eröffneten.
Kampagnenwesen
Die Kulturrevolution von 1966 ist nicht aus sich heraus erklärbar. In der chinesischen Geschichte seit Gründung als „Volksrepublik” 1949 hat es mehrere Ereignisse gegeben, die das Kampagnenwesen als wichtiges Mittel der Parteiführung durch die KP Chinas erscheinen lassen, auf politische und ökonomische Veränderungen zu reagieren. Das System der bürokratischen Planung wurde vom Vorbild der Sowjetunion übernommen. Dies bedeutete, der raschen industriellen Entwicklung einen Vorrang einzuräumen.
Begleitet war diese Planung Anfang der 50er Jahre von Kampagnen wie „3 und 5-Antikampagne”, die sich gegen Korruption sowie Veruntreuung von Staatseigentum richtete, oder „Reform des Denkens”, die die Bildungseinrichtungen von parteiunabhängigen Elementen säubern sollte. Damit sollte erreicht werden, dass die KP-Bürokratie geschlossen und fest an der Macht blieb.
Es stellte sich jedoch heraus, dass in Anbetracht der geringen Grundkapazitäten und des rückständigen agrarischen Sektors, der 90% der einheimischen Wirtschaft ausmachte, die Planung nicht bruchlos durchzuführen war. Darin lag die Ursache für die Aufspaltung der Partei in zwei Grundfraktionen. Die eine gruppierte sich um Mao Zedong, den nach außen unbestrittenen Führer der Partei, und die andere um Liu Shaoqi, die Nummer zwei im Apparat. Aus der Erkenntnis, dass der Plan nicht nach SU-Muster funktionieren konnte, zog Mao den Schluss, es müsse eine radikale Lösung analog der Stalinschen Politik der 3. Periode forciert werden, in der Ausrichtung allerdings modifiziert, während die zweite Fraktion eine industrielle Förderung mit kontrollierten Marktelementen vorschlug. Beide Fraktionen einte jedoch die stalinistische Ideologie vom Aufbau des Sozialismus aus eigener Kraft und in einem Land.
Deutlich wurde das Problem von Machtkämpfen hinter den Parteikulissen erstmals durch die Kampagne „Lasst 100 Blumen blühen” mit Demokratisierungsanstrich, die Mao 1957 nutzen wollte, um die oppositionelle Fraktion anzugreifen. Nach nur 5 Wochen wurde diese Kampagne wieder abgeblasen, denn die öffentliche Kritik an Staat und Partei drohte überhandzunehmen. Hier zeigte sich auch erstmals, dass die Parteiführung über alle Widersprüche hinweg von dem geheiligten Grundsatz zusammengehalten wird, auf jeden Fall die Kontrolle über die Bevölkerung zu behalten. Dies zieht sich wie ein roter Faden über die schließliche Eindämmung der Kulturrevolution, die Niederschlagung der Tian’anmen-Bewegung hindurch und droht erst heute nach der Restauration des Kapitalismus und durch das Erstarken einer neuen einheimischen Klasse, der Bourgeoisie, aufgebrochen zu werden.
Die Kampagne des folgenden Jahres nannte sich „Der große Sprung nach vorn” und wurde ebenfalls von der Mao-Fraktion ins Leben gerufen. Sie stand am Beginn des zweiten 5-Jahres-Plans 1958. Er sah in voluntaristischer Manier vor, das Entwicklungstempo der Wirtschaft zu erhöhen. Dazu sollten Volkskommunen gebildet werden, die die Industrialisierung dezentral auf das Land hinaus vorantreiben sollten. Der Betrieb von schwach technisierten Hochöfen bspw. war jedoch nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht ein glatter Fehlschlag, sondern führte zur Doppelbelastung in der bäuerlichen Bevölkerung und zu verheerenden Produktionsrückständen in der Landwirtschaft. In der Folge erlebte China die schlimmsten Hungersnöte seit dem 2. Weltkrieg, und die Kampagne musste 1961 vor Planablauf wieder eingestellt werden.
Außenpolitische Einflüsse
Die Umwandlung in einen degenerierten Arbeiterstaat wurde ähnlich wie später auf Kuba maßgeblich durch Bedrohung seitens des Imperialismus mit dem Korea-Krieg und von dessen Vasallen durch die Bildung eines Separatstaates auf Taiwan beeinflusst. Ein zweiter Brandherd vor der eigenen Haustür trat in Form des jahrzehntelangen Krieges um Vietnam, Laos und Kambodscha hinzu.
Ende der 50er Jahre kam es auch zum Zerwürfnis Chinas mit der Sowjetunion. Äußerer Anlass hierfür war die Weigerung der Sowjetregierung, China beim Bau der Atombombe und im Grenzkonflikt mit Indien zu unterstützen, weil dies den Führungsanspruch der Kreml-Bürokratie im stalinistischen Block gefährdete und ihren außenpolitischen Interessen zuwiderlief. Eine weitere Rolle spielten auch Chinas Versuche, nach innen ökonomische Konkurrenzmodelle gegenüber der SU zu entwickeln.
Trotz mangelnder Unterstützung gelang es China, eigene Atomwaffen zu bauen und 1964 erstmals versuchsweise zu zünden. Aus der Gefährdungslage durch äußere Bedrohung ergab sich auch ein Bruch mit der chinesischen Tradition der Selbstgenügsamkeit. Es entstanden zunächst im asiatischen Raum große KPen, die sich eher an Chinas Vorbild als dem der UdSSR orientierten, so z. B. in Indonesien. Dort erlebte die KP aber auch ihre bitterste Niederlage, als ihre Anhänger 1965 von den Militärs unter Führung von Suharto massenweise abgeschlachtet wurden.
Beweggründe für die „Kulturrevolutions”-Kampagne
Die Mao-Fraktion hatte den Misserfolg des „Sprungs nach vorn” politisch nicht unbeschadet überstanden. Sichtbares Zeichen war Mao Zedongs Rücktritt als Staatspräsident, Liu Shaoqi rückte an seine Stelle. Die fraktionellen Gegner hatten Auftrieb bekommen und steuerten nun einen Kurs der vorsichtigen Öffnung im Sinne einer NEP-Politik in der Sowjetunion Anfang der 20er Jahre an.
Städte und Industriebetriebe wurden vom Kommunezwang ausgenommen. Die Bauern durften etwas Privatland behalten und ihr Mehrprodukt auf Märkten frei verkaufen. Aber die Liu-Fraktion vertrat kein kohärentes Konzept. Außerdem stand ihnen der Personenkult um die Führungsfigur Mao im Wege ebenso wie die Gepflogenheit, die Vertretung von politischen Richtungen nicht zu dokumentieren und Verantwortlichkeiten nicht beim Namen zu nennen.
Die Umstände, dass die Sowjetunion eine Politik der Nichtunterstützung Chinas und stattdessen einer friedlichen Koexistenz mit dem Klassenfeind, dessen Mächte China direkt bedrohten, verfolgte, spielten der Mao-Fraktion wiederum in die Karten.
Mao, der monatelang vorher nicht in der Öffentlichkeit erschienen war, nutzte den Überraschungseffekt, als er 1966 die Kampagne zur „Proletarischen Kulturrevolution” verkündete, um sich und seine Gefolgsleute wieder in Vorhand zu bringen. Innerhalb der Partei konnte er sich einer Mehrheit nicht mehr sicher sein, daher musste er das Risiko eingehen, sich an die Massen mit dem Appell des Kampfes gegen den Kapitalismus auch in den eigenen Reihen zu wenden, um die parteiinternen Widersacher in Schach zu halten. Gehör fand er besonders unter der studentischen Jugend. Hier bildeten sich v. a. Rote Garden der Kulturrevolutions-Bewegung. Seine wichtigste kalkulierbare Stütze im Kampf war jedoch die Volksbefreiungs-Armee. Deren Chef Lin Biao witterte die Chance, in der Parteihierarchie von Platz 8 auf Rang 2 emporzuschnellen. Diese Aussicht und weniger die Ergebenheit zu Mao Zedong veranlassten ihn, die schlagkräftigsten Kulturrevolutions-Garden aus der Armee aufzustellen und zu befehligen.
Forderungen und Verlauf
Die Bewegung breitete sich rasch in weiten Teilen des Landes aus. Die schnell ausgemachte Zielscheibe war neben den enteigneten Kapitalisten, die unter Liu als Betriebsleiter eingestellt wurden und eine 5%-Dividende der Unternehmenseinkünfte einstrichen, und dem Funktionärskörper, dem Sympathien mit den Kapitalisten nachgesagt wurden, v. a. AkademikerInnen, denen Privilegien und „volksfernes” Leben und Denken vorgeworfen wurde.
Eingedenk der Erfahrung, die mit der 100 Blumen-Kampagne gemacht worden war, wurde diesmal die Institutionenherrschaft selbst nicht in Frage gestellt, sondern Kritik sollte sich allenfalls an Auswüchsen und Privilegien abarbeiten. Vorsorglich wurde denn auch der Personenkult um Mao Zedong wieder aufgefrischt und seine Werke als Fibel und Bibel für die meist jugendliche Gefolgschaft der Mao-Fraktion im Klassenkampfauftrag mit auf den Weg gegeben. Eine klare Handlungsanleitung bot seine Spruchsammlung hingegen nicht, weswegen es durchaus nicht paradox erscheint, dass verschiedene lokale Parteiführer miteinander konkurrierende Rote Garden aufstellten, die sich teilweise sogar handgreiflich bekämpften.
Was unter Klassenkampf zu verstehen war, schmolz in der Konkretion auf wenige Forderungen zusammen: „Abschaffung der Bankzinsen“, „ Verbannung von 1. Klasse-Abteilen aus den öffentlichen Verkehrsmitteln“, „Entfernung von Leuchtreklamen“, „Handarbeit für jedermann“. Nichts zu finden war hingegen an Stellungnahmen zu Grundfragen der chinesischen Gesellschaft, zum politischen Kurs, zur strukturellen Demokratisierung der Partei oder auch zu wirtschaftlichen Maßnahmen.
Darin bestand gleichermaßen Stärke und Schwäche der Bewegung. Sie wurde geeint durch unspezifische Schlagwörter, die den Unmut von Teilen der Gesellschaft ventilierten, die keine unmittelbaren Vorteile aus einer Funktion in Partei und Staat ziehen konnten. In der ersten Reihe stand hier die Jugend an Schulen und Universitäten. Getrennt wurde sie in der Ausrichtung des Kampfes auf verschiedenste Einzelheiten oder Personen. Sie brachte darum auch keine eigene unabhängige Führung hervor, die die Bewegung auf einer höheren programmatischen Ebene hätte einen und voranbringen können, sondern sie hing fast ausschließlich an den Rockschößen von Parteigrößen, die nur eins im Sinn hatten, nämlich ihre eigene Position innerhalb der bürokratischen Kaste zu stärken.
Deswegen hatte die Große Proletarische Kulturrevolution auch gegen Ende der 60er Jahre bereits ihre anfangs die Bürokratie ängstigende Dynamik verloren und war längst vor Maos Tod 1976 politisch tot, obwohl sie offiziell erst 10 Jahre nach Beginn eingestellt wurde und somit die längste aller Kampagnen in China war.
Wirkliche Gefahr drohte der Partei- und Staatsführung allerdings, als die ArbeiterInnenschaft in Industriezentren wie Shanghai begann, sich unabhängig zu organisieren. Hier trat wieder das gemeinsame Interesse der herrschenden Kaste über alle Streitigkeiten hinweg in Funktion. Mit Hilfe der Volksbefreiungsarmee und mittels Kriegsrecht wurde die Bewegung befriedet.
Als Ergebnis der Kulturrevolution bleibt festzuhalten, dass die Mao-Fraktion siegreich aus der Auseinandersetzung hervorging. 72% der Politbüromitglieder, 66% der Angehörigen des Zentralkomitees sowie 71% der Provinzparteisekretäre mussten ihren Amtssessel räumen ebenso wie zahlreiche Personen des Lehrkörpers an Schulen und Universitäten. Die Zahl der Todesopfer ist unbekannt.
Auswirkungen
Die Kulturrevolution gilt heute in China als überwundenes historisches Experiment und Episode. Ihre Bedeutung und Ausstrahlung auf internationaler Ebene darf hingegen nicht unterschätzt werden. Heute noch zehrt die chinesische Führung von der allgemeinen Hinwendung der chinesischen Politik auf weltpolitische Auseinandersetzungen aus den 60er Jahren, die nunmehr ihren gewandelten imperialistischen Ansprüchen dient.
Deutlicher noch wird die Nachwirkung der chinesischen Kulturrevolution auf die Bildung von maoistisch beeinflussten Organisationen, die sich praktisch in allen Ländern der Welt in den späten 60er und frühen 70er Jahren vollzog. Auch wenn sie an Bedeutung und Einfluss eingebüßt haben, irrlichtern immer noch glorifizierende Bezüge auf die Person Mao Zedongs und die Kulturrevolution in Köpfen und propagandistischen Elaboraten dieser stalinistischen Richtung herum.
Wie hätten sich RevolutionärInnen in der Kulturrevolution verhalten müssen? Zweifellos hätten sie den revolutionären Schwung kritisch unterstützen können, ihn aber am Punkt des Klassenkampfes auf die Frage hinlenken müssen, dass die ArbeiterInnenklasse sich unabhängig und mit eigener Führung organisieren muss und eine politische Revolution, die die Herrschaft der Bürokratie bricht und durch eine echte Diktatur des Proletariats ersetzt, in den Vordergrund stellen müssen. In dem Zusammenhang hätten sie ein politisches Programm ausarbeiten und zur Diskussion stellen müssen, das alle Bereiche der Gesellschaft umfasst, statt sich mit Fragen der „Kultur” zu verzetteln und das Geschäft eines Teils der Bürokratie zu besorgen.
Quelle: www.arbeitermacht.de… vom 17. Mai 2016
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