Schweiz
International
Geschichte und Theorie
Debatte
Kampagnen
Home » Debatte, Geschichte und Theorie, Kampagnen

Jerusalemer Deklaration zu Antisemitismus und die jüdische Linke

Eingereicht on 7. Mai 2021 – 15:06

“… Die JDA ist eine Reaktion auf die vielfach umstrittene Arbeitsdefinition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (Internationale Allianz zum Gedenken an den Holocaust; IHRA). Diese Definition wurde die letzten Jahre vielfach instrumentalisiert, um jegliche Kritik an der israelischen Besatzungspolitik und Palästina-Solidarität zu delegitimieren und kriminalisieren. Deshalb lehnen auch weite Teile der jüdischen Linken, sowohl in Israel als auch in der Diaspora, die IHRA-Definition ab. Die JDA ist eine Antwort auf diese zunehmende Instrumentalisierung des Kampfes gegen Antisemitismus von rechts. Sie arbeitet explizit heraus, wann Kritik an der Lage in Israel-Palästina antisemitisch ist und wann nicht. Zum Beispiel sagt sie explizit, dass Antizionismus und Antisemitismus nicht dasselbe sind und auch der Aufruf zu Boykott, Divestment und Sanktionen (BDS) nicht per se antisemitisch ist. Das ist ein wichtiger Schritt sowohl im Kampf gegen Antisemitismus als auch zur Dekriminalisierung von Palästina-Solidarität. (…) Das Problem an der IHRA-Definition ist, dass sie viel zu vage ist und sich daher leicht instrumentalisieren lässt. Die JDA ist viel präziser und weist auch darauf hin, dass der Kontext einer Aussage zentral ist…” Aus dem Interview “Jerusalemer Deklaration zu Antisemitismus” mit Isabel Frey, am 5. Mai 2021 bei der ArbeiterInnenmacht, siehe zwei weitere Beiträge dazu:

  • Nur in Deutschland: Jüdisches Leben soll in Deutschland florieren. Dabei werden echte jüdische Werte permanent angegriffen – und zwar von denen, die Juden angeblich beschützen wollen

“… Es ist kein Tabu, Israel zu lieben, es erfordert in Deutschland keinen Mut, seine Unterstützung oder Solidarität mit diesem Land zu erklären, oder zu verkünden, wie sehr man die Sonne, das Meer und die schönen Menschen dort liebt. (…) Tritt aber ein real-life Jew mit anderer Meinung in diese Konstellation, wird er oder sie nicht etwa als willkommene Stimme begrüßt, sondern zunehmend diffamiert. Es sind die Deutschen, die erstaunlich schnell daran sind, Jüdinnen*Juden in die Nähe von Antisemitismus zu rücken, wenn sie eine verständlicherweise andere Position zu jüdischen Themen haben. (…) Nun ist es aber so, dass ich viele Jüdinnen*Juden kenne, die Israel nicht lieben und sogar die Boykottbewegung BDS unterstützen, die in deutschen Medien selten ohne das Beiwort “antisemitisch” auftaucht. (…) Die Schimäre des “importierten Antisemitismus” ist ein willkommener Vorwand, um sublimierten Rassismus auszuleben. Menschen aus Einwandererfamilien gerade aus dem arabischen und afrikanischen Raum und muslimische und muslimisch gelesene Menschen müssen in Deutschland immer erst einmal beweisen, dass sie keine Antisemit*innen sind, und gelten ansonsten als Gefährder*innen. Ihre eigene historische Erfahrung hat in deutscher Erinnerungskultur keinen Platz. (…) Es gibt Antisemitismus, der sich in Hass auf Israel als jüdischen Staat, als jüdisches Projekt, als Manifestation jüdischer Macht statt Ohnmacht entlädt, Israel zum Ersatzobjekt macht. Und es gibt Kritik an Israel, wütende und unfaire sogar, die strukturellen, seit der Nation-State Bill auch gesetzlich verankerten Rassismus gegen Palästinenser*innen im Land selbst, brutale Besatzungspolitik im Westjordanland und unverhältnismäßige Erwiderungen auf palästinensische Gewalt im Blick hat. Dagegen kann man protestieren. Wer sich an diesem Protest stößt, ihn als israelbezogenen Antisemitismus markiert, soll bitte erst einmal darlegen, ob er die protestierten Verhältnisse überhaupt als protestierenswert erachtet. (…) Mein Leben als Jude wird von dieser Kritik jedenfalls nicht bedroht, das Leben von Israelis ebenfalls nicht. (…) Was bedroht mein Leben als Jude? Incelnazis wie in Halle und Hanau, Polizeinazis wie vom NSU 2.0, Bundeswehrnazis wie im Hannibal-Netzwerk, Querdenker-Nazis mit gelben “Ungeimpft”-Sternen und Waffen. Antisemitismus tötet. Gerade deswegen ist es wichtig, genau zu sagen, was eigentlich Antisemitismus ist und was nicht. (…) Aber ich bin hier und, noch einmal boruch hashem, nicht allein. Langsam entstehen Allianzen: migrantisch-jüdisch, jüdisch-palästinensisch, interreligiös, Black-Jewish, Migrantifa. Diese Allianzen und Bündnisse sind nicht einfach nur Marketingpose oder Hashtag, sie sind überlebensnotwendig. Sie entstehen durch offenen, auch schmerzhaften Dialog, damit wir eine gemeinsame Sprache finden. Wir verteidigen uns, wir unterstützen uns, wir hören unseren Geschichten zu und schreiben zusammen eine neue. Wir wissen, wer unsere Feind*innen sind…” Essay von Fabian Wolff vom 2. Mai 2021 in der Zeit online

  • Falsche Freunde, falsche Feinde. Die „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ will die Debatte entgiften. Judenhass und Kritik an Israel sollen präziser unterschieden werden.
    Rund 200 Wis­sen­schaft­le­r*in­nen aus aller Welt haben die „Jerusalem Declaration on Antisemitism“ unterzeichnet. Die meisten sind Juden, die ihr Leben der Erforschung jüdischer Geschichte, des Antisemitismus oder des Holocaust gewidmet haben. Und die ein wachsendes Unbehagen miteinander verbindet, das auch mich veranlasst hat, zu unterschreiben. Der Kampf gegen Antisemitismus ist gekidnappt worden, von politischen Interessen, die mit der Verteidigung jüdischen Lebens und jüdischer Kultur, mit der Verteidigung jüdischer Selbstbestimmung wenig zu tun haben. Wir leben in einer Welt, in der sich ein autoritärer Nationalist wie Victor Orbán, der seine Macht nicht zuletzt einer antisemitischen Kampagne verdankt, als Freund Israels deklarieren kann. (…) In diesem Sinne hat auch „König Bibis“ Thronfolger Jair Netanjahu letztes Jahr gemeinsam mit der AfD das Ende der „globalistischen EU“ und ein „christliches Europa“ gefordert. Die Welt, in der wir heute gegen Antisemitismus kämpfen, ist komplizierter geworden. (…) Doch wenn deutsche Politiker heute von Antisemitismus reden, dann gibt es fast nur ein Thema: BDS, die palästinensische Boykottbewegung. Der Streit darüber hat verschiedene Dimensionen. Es geht darum, ob wir Europa, ob wir Deutschland als offene Gesellschaften begreifen, in denen wir ethnisch, kulturell und religiös verschieden sein mögen, aber unter Einhaltung gemeinsamer Regeln zusammenleben, oder ob wir Identitäten und Territorien homogen definieren und damit die Katstrophe des Nationalismus fortschreiben. Dazu gehört dann eben auch: die Juden auf „ihr“ Territorium zu verweisen. Zugleich geht es um einen schmerzlichen innerjüdischen Streit: Können wir nach Auschwitz in der Diaspora noch – oder endlich – selbstbewusst und selbstbestimmt leben? Oder müssen wir nach dem nationalen Wahn des 20. Jahrhundert uns alle in einem „sicheren Hafen“ verschanzen, der sich womöglich in ein selbstgewähltes Ghetto verwandelt, nur diesmal hinter selbstgebauten Mauern? Und schließlich tritt immer deutlicher ein innerisraelischer Streit vor Augen, der darüber geführt wird, ob dieses Land eine ethnisch-religiös exklusive Burg sein soll, auf die sich Juden zurückziehen können, oder ob das Land von „fremder Besatzung befreit“ werden soll, wie es BDS fordert. Oder ob daraus ein gemeinsamer Staat seiner jüdischen und nichtjüdischen Bürgerinnen und Bürger werden kann, der zu dem finden muss, was diese Menschen miteinander teilen können, aber nicht auf dem basieren kann, was sie voneinander trennt…” Gastkommentar von Hanno Loewy vom 29.3.2021 in der taz online

Siehe dazu im LabourNet:

Am 24. Juli 2015: “Ja, Israel hat de facto ein Apartheidsystem”

Quelle: labournet.de… vom 7. Mai 2021

Tags: , , , , , ,