Schweiz
International
Geschichte und Theorie
Debatte
Kampagnen
Home » Debatte, International

Geflüchtete: Grenzdurchbrüche, Tote und Gewalt in Belarus und Polen

Eingereicht on 15. November 2021 – 12:00

Roland Bathon. Wegen der eskalierenden Situation an der Grenze zwischen Belarus und Polen bleiben mehr Geflüchtete in Minsk. Weit entfernt wird vor einem „versehentlichen Kriegsausbruch“ gewarnt.

An der Grenze zwischen Belarus und Polen eskaliert die Lage weiter. Mehrfach kam es zu Grenzdurchbrüchen von bis zu 100 Migranten. Deutsche und russische Medien berichten nun auch von einer Gewaltbereitschaft mancher verzweifelter Flüchtlinge als Reaktion auf Pushbacks und körperliche Attacken der polnischen Grenztruppen. Diese nutzen offenbar jedes Mittel, um Grenzüberschreitungen zu verhindern.

Laut der Moskauer Tageszeitung Kommersant werden Steine geworfen, die ARD-Tagesschau berichtet von Tränengas in den Händen der Migranten, das von belorussischen Sicherheitskräften geliefert worden sei – als Quelle hierfür werden polnische Grenztruppen angegeben. Verifizierbar sind viele solcher Meldungen nicht, da die Grenztruppen ja an den Gewaltvorfällen beteiligt sind.

Von der Grenze melden verschiedene Medien drei Todesopfer. Ein toter Syrer sei in einem Wald der Grenzregion von der Polizei gefunden worden, ein 14-jähriger kurdischer Junge sei am Wochenende erfroren. Durch einen Unfall mit einer Schusswaffe starb ein vor Ort eingesetzter polnischer Grenzsoldat. Die zunehmende Eskalation an der Grenze spricht sich auch unter den Migranten auf dem Weg dorthin herum.

Flüchtlinge in Minsk statt im „Dschungel“

Das führt dazu, dass eine steigende Anzahl von ihnen längere Zeit in Minsk Station macht, anstatt in die Grenzregion weiterzureisen, berichtet das russische Medienportal RBK und die Moscow Times mit zahlreichen Fotos und Aufnahmen aus der weißrussischen Hauptstadt.

Sie zögern demnach ihre Weiterreise an die Grenze, im Jargon der Geflüchteten inzwischen „der Dschungel“ genannt, hinaus und versammeln sich zunehmend im Umkreis des großen Einkaufszentrums Gallery Minsk, wo viele von ihnen auch das WLAN und weitere Infrastruktur nutzen. Übernachten würden die bessergestellten von ihnen in einfachen Minsker Hotels, ärmere Flüchtlinge zahlen für Plätze auf dem Fußboden in dortigen Wohnungen.

Hier sei für einige Weißrussen ein richtiges Geschäftsmodell entstanden. Mehrere Vermieter gaben gegenüber den russischen Reporter zu, sich über die neuen „Kunden“ zu freuen – seit den Oppositionsprotesten 2020 standen Touristenunterkünfte in Minsk meistens leer.

Tagsüber sind die Geflüchteten Teil des Stadtbildes geworden: In der Innenstadt in Fast-Food-Ketten oder Cafés sind sie anzutreffen – für die Einheimischen ein vorher nicht gewohntes Bild. Handyläden hätten schon arabischsprachige Werbeschilder aufgehängt, berichten die erstaunten Journalisten. Das beste Geschäft machten jedoch Taxi- und Minicar-Fahrer auf dem vierstündigen Weg zur Grenze.

Angesprochen von den russischen Reportern erklärten mehrere Flüchtlinge, vor allem aus dem Irak, nicht zurück in ihr Herkunftsland zu wollen. Der Hass gegen ethnische Minderheiten und die Korruption dort seien unerträglich. Der durch die Ölförderung eigentlich vorhandene Reichtum komme nicht bei den Menschen an.

Die Moskauer Journalisten trafen sowohl Flüchtende und Migranten, die trotz gescheiterter Grenzdurchbrüche fest vorhaben, weitere zu versuchen, als auch Angehörige, die bereits im Westen leben und neu Angekommene unterstützen,

Erste russische Kritik an Lukaschenko

Auswirkungen hat die Grenzkrise zunehmend auch auf Russland als einzige politische Stütze von Minsk. Der Kurs des russischen Rubel an den Börsen gab gegen Ende der Woche nach. Laut einem Bericht der Online-Zeitung gazeta.ru ist aus Expertensicht mit einer längerfristigen Schwäche des Rubel zu rechnen. Als Ursache wird neben einem Rückgang der Ölpreise die Situation in Belarus genannt. Die dadurch wachsende Instabilität in der Region treibe osteuropäische Anleger zu Fremdwährungen, wird der Börsenexperte Dmitry Babin zitiert.

Dementsprechend versuchte auch Russlands Präsident Wladimir Putin mäßigend in den Konflikt einzugreifen und kritisierte erstmals öffentlich eine der vielen scharfen Aussagen seines belorussischen Amtskollegen Alexander Lukaschenko. Dieser hatte in den Raum gestellt, er könne im Fall neuer EU-Sanktionen die durch Belarus laufende Gasleitung Jamal sperren.

Putin erklärte nun, ein solcher Schritt könne die Beziehungen von Minsk und Moskau ernsthaft belasten. Diese Äußerung ist deshalb bedeutsam, da der Kreml es ansonsten vermeidet, gegenüber den offiziell befreundeten Weißrussen öffentliche Kritik zu äußern.

Verhärtung der Front zwischen dem Westen und Russland

Auch auf der großen weltpolitischen Bühne sorgt die Migrationskrise an der Grenze für einen Schlagabtausch. Großbritannien unterstützt mittlerweile den polnischen Grenzschutz offen mit einer eigenen Abteilung Soldaten. Die britische Außenministerin Elisabeth Truss machte Moskau für die Entstehung der Krise vor Ort verantwortlich. Der Chef des britischen Verteidigungsstabes, Nick Carter, sagte laut einem CNN-Bericht dem Times Radio, das Risiko eines „versehentlichen Kriegsausbruchs“ zwischen Russland und dem Westen sei größer als je zuvor während des Kalten Krieges.

Die Sprecherin des Russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, reagierte gewohnt deutlich und betonte dagegen eine Verantwortung der britischen Seite dafür, dass die Flüchtlinge aus dem Irak ausreisten. Sie erinnerte in diesem Zusammenhang an die von den Briten unterstütze US-Invasion des Irak, die das Land erst destabilisiert habe.

Dennoch ist den Russen bewusst, dass der eigene Verbündete Lukaschenko hier Öl ins Feuer gießt. Der Politologe Dmitry Bolkunez stellte im Interview mit gazeta.ru fest, Lukaschenko provoziere einen ernsten militärischen Grenzkonflikt. Hierdurch könnten von Russland getroffene Vereinbarungen zerstört und Russland sogar in einen Krieg hineingezogen werden. Er gebrauche den Begriff „Krieg“ absichtlich, da auch Lukaschenko das Wort fast täglich verwende, was sehr gefährlich sei.

Der Begriff „Krieg“ fällt noch von anderer Seite. Auch der Kaliningrader Experte Juri Swerew vom Zentrum für geopolitische Studien der Ostseeregion fürchtet, dass sein Land in den Konflikt zwischen Belarus und seinen westlichen Nachbarn hineingezogen wird. Für seine Heimatstadt Kaliningrad wäre das besonders fatal, liegt sie doch in einer russischen Exklave zwischen Polen und Litauen, dem ehemaligen nördlichen Ostpreußen. Angst hat er etwa vor unbeabsichtigten Todesopfern in Folge von Schusswechseln an der Grenze, die zu einem Selbstläufer werden könnten.

Lukaschenkos aussichtsloses Ziel

Lukaschenko will nach Meinung von Bolkunez vom Westen wieder als Staatsoberhaupt anerkannt werden. Das sei angesichts seines Rufs im Westen jedoch aussichtslos. Dort wolle man nicht mit ihm reden und richte das Wort deshalb ständig an Putin in Moskau. Diesem sind aber die Gefahren einer russischen Beteiligung an diesem Konflikt bewusst. In einem Interview mit dem TV-Sender Rossija 24 betonte er ausdrücklich, sein Land habe mit der Situation rund um die Migranten nichts zu tun.

Wer versuche, Russland irgendeine Verantwortung zuzuschieben, tue das ohne Grundlage. Die zentrale Bedeutung dieser Botschaft zeigt sich darin, dass er sie in einem anderen TV-Interview im russischen Ersten Programm nochmals komplett wiederholte.

Alle Beteiligten tun in der Tat gut daran, die ständige Eskalation nicht weiter voranzutreiben. Nur so werden ernste politische Folgen, die weit über die Region vor Ort und das Schicksal der dortigen Flüchtlinge hinausgehen, unterbleiben. Zu einer ersten, vorsichtigen Kontaktaufnahme ist es gemäß dem weißrussischen Außenministerium inzwischen gekommen. EU-Außenkommissar Borrell sprach telefonisch mit Belarus-Außenminister Wladimir Makei. Makei sagte Maßnahmen zu, um den Zustrom der Flüchtlinge über die Belarus-Route zu reduzieren. Beide Gesprächspartner wollen den Dialog fortsetzen.

#Titelbild: Der „Dschungel“ wird die Grenzregion inzwischen von Geflüchteten genannt. Einige harren vorerst in Minsk aus. Foto: ANF

Quelle: Telepolis… vom 15. November 2021

Tags: , , , , , , , , , ,