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Einmal auf der richtigen Seite der Geschichte stehen

Eingereicht on 11. November 2022 – 10:43

Hans-Dieter Rieveler. Der Ukraine-Krieg hat nicht nur Nationalismus und Russenhass wieder salonfähig gemacht. Manchen dient er auch als Vehikel, um sich von der Last der NS-Vergangenheit zu befreien.

Was wäre passiert, wenn die amerikanischen Ureinwohner die weißen Eindringlinge besiegt und aus ihrem Land vertrieben hätten? Hätten uns dann die Indianer von den Nazis befreit? Dieses ketzerische Gedankenspiel postete im Februar dieses Jahres der Schauspieler Robert Beyer auf Facebook. Daraufhin sah sich die Berliner Schaubühne, deren Ensemble er seit 1999 angehört, zu einer Pressemitteilung veranlasst. Beyer habe in seinem Post „den Massenmord an der indigenen Bevölkerung in Nordamerika verharmlost“, hieß es darin. Doch habe sich der Schauspieler „nach einem unverzüglich anberaumten Gespräch … auf seinem privaten Facebook-Account öffentlich entschuldigt“. Zudem habe er sich „dazu entschlossen, an einem Einzelcoaching zum Thema Rassismus und Diversität teilzunehmen“. Nun konnten die Indianer – die man natürlich nicht mehr so nennen darf – also aufatmen.

Das V2-Syndrom und das Narrativ vom „Vernichtungskrieg“

Mitte Oktober löste Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt eine Welle der Empörung aus, als er vom „V2-Syndrom der Deutschen“ sprach. Was für die Nazis die V2-Raketen gewesen seien, das seien nun für manche die von der Ukraine geforderten Leopard-2-Kampfpanzer: eine „Wunderwaffe“, die den Krieg entscheiden werde.

Damit rief Schmidt die Chef-Bellizisten von Union und FDP auf den Plan. Die Rüstungslobbyistin Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) erklärte, der Leopard 2 lasse sich mit den V2-Raketen nicht vergleichen. Und Roderich Kiesewetter (CDU) präzisierte, die V2 sei als „Terrorwaffe“ gegen zivile Ziele eingesetzt worden. Die Leopard-Panzer hingegen könnten „gegen die völkerrechtswidrige russische Aggression auf vorwiegend zivile Ziele in der Ukraine rechtmäßig und legitim eingesetzt werden“. Womit Kiesewetter en passant zwei der beliebtesten Topoi der Kriegspropaganda aufgriff: Die Bösen setzen unerlaubte Waffen ein und terrorisieren damit die Zivilbevölkerung. Die Guten nutzen nur legitime Waffen, um damit feindliche Soldaten abzuschlachten, wie es sich gehört. Nun könnte man fragen, ob denn die alliierten Bombenangriffe auf deutsche Städte demnach ebenso verwerflich waren wie die V2-Angriffe auf britische Städte. Doch besser man lässt es und macht sich klar, dass es Gut und Böse in Reinform nur im Märchen gibt – und in der Kriegspropaganda.

Doch wie steht es nun um das deutsche V2-Syndrom? Sind die Befürworter von Panzerlieferungen an die Ukraine, wie einst die Nazis, von dem Glauben an die Wunderwaffe beseelt? Der Einwand, dass Kampfpanzer einer anderen Waffengattung angehörten als Raketen, ist hierfür ohne Belang. Auch dass „alle Experten“ sagten, Kampfpanzer wären für die ukrainische Armee sehr nützlich, wie Kiesewetter weiter behauptet, ist irrelevant. Vollkommen sinnfrei ist sein Vorwurf, Schmidt verwechsle Ursache und Wirkung und verharmlose „den furchtbaren Krieg Russlands gegen die ukrainische Zivilbevölkerung“. Tatsächlich hatte der Kanzleramtschef dazu überhaupt keine Aussage getroffen, ebenso wenig wie der Schauspieler Beyer in seinem Facebook-Post irgendetwas verharmlost hätte. Beider Vergehen bestand lediglich darin, unbequeme Fragen aufzuwerfen und dabei das Kartenhaus der deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ zu touchieren. Kiesewetter und Konsorten verharmlosen dagegen immer wieder den Vernichtungskrieg der Wehrmacht im Osten, wenn sie den russischen Krieg gegen die Ukraine als solchen bezeichnen.

Nationalismus ist okay, solange er ukrainisch ist

Es ist dies dieselbe Art der Vergangenheitsbewältigung, wie sie auch verkappte Antisemiten betreiben, wenn sie, im Zuge ihrer zwanghaften „Israelkritik“, den Gazastreifen beiläufig als „Lager“ bezeichnen. Doch während Antisemiten stets mit Gegenwind rechnen müssen, sind Russenhass und Nationalismus mittlerweile wieder im Mainstream angekommen. Wenn Putin eine Reinkarnation Hitlers ist, ergibt sich alles Übrige scheinbar von selbst. Man muss sich dazu nur so tief wie möglich in „die“ Ukrainer hineinversetzen. „Sag’s durch den Ukrainer“ lautet das Geheimrezept, um endlich all das aussprechen zu können, was einem schon lange auf der Zunge brannte, denn im Gegensatz zum deutschen Nationalismus kommt der ukrainische ja irgendwie so unschuldig daher – wenn man, wie die deutsche Meinungselite, Tomaten auf den Augen hat.

Teil dieser Elite ist auch Thomas Schmid, den sein Marsch durch die Institutionen von der Gruppe „Revolutionärer Kampf“ erst zu den Grünen und schließlich zur Tageszeitung „Die Welt“ geführt hat. Dort kämpft er nun nicht mehr für die Weltrevolution, sondern gegen „skrupellose Friedensliebe“ und „unmenschlichen Pazifismus“, personifiziert durch Franz Alt und Harald Welzer, die es gewagt hatten, die Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an Serhij Schadan zu kritisieren.

Schmid kann sich das nur damit erklären, dass sie zu jenen Deutschen gehörten, „die in der großen Verteidigungsbereitschaft der Ukrainerinnen und Ukrainer im Grunde eine Anmaßung sehen“. Denn Schadans „starke, grelle Worte“ – „Horde“, „Barbaren“, „Schweine“, „Abschaum“ … – seien zwar irgendwie verstörend, doch alternativlos, da der Hass ja von Russland gesät worden sei, mit dem Massaker von Butscha, der Bombardierung ziviler Ziele, der Verschleppung von Zivilisten und dem „wahllosen Morden“.

„Gerade Deutsche, deren Großeltern und Urgroßeltern in Osteuropa ähnlich enthemmt gebrandschatzt und getötet haben, sollten eigentlich erkennen können, dass Russland in der Ukraine alle Konventionen aufgekündigt hat und einen frontalen Angriff auf die Menschenrechte führt“, meint Schmid. Zwar sei es verständlich, dass die Deutschen den ukrainischen Hass auf Russland nicht zur Gänze teilen wollten, doch den Ukrainern bliebe gar keine andere Wahl, als in den Russen das „totale Böse“ – in den Worten von Schadan – zu sehen. Folglich sei ihnen auch „die Lust auf Puschkin, Dostojewski und die ganze tief gründelnde russische Kultur vergangen“ – „die echten bodenständigen Deutschen ohnehin schon immer ein Graus war“, darf man wohl gedanklich ergänzen.

Ganz ähnlich wie Schmid sieht es Jens Uthoff von der taz. Keinesfalls sei Schadan, der gerne mal Benefizkonzerte für rechtsextreme Bataillone gibt oder beim Banderstadt-Festival zu Ehren des ukrainischen Faschisten Stepan Bandera auftritt, ein Rechter; „Wer ihn dazu macht, dient der russischen Propaganda.“ Schadan selbst bezeichne sich als Patriot, doch werde dieser Begriff in der Ukraine ein wenig anders definiert als in Westeuropa. Man werde „den Eindruck nicht los, dass in Deutschland immer auch die Perspektive des Aggressors eingenommen wird“.

Auch gefühlte Ukrainer dürfen ihrem Russenhass freien Lauf lassen

„Linksliberale“ wie konservative Journalisten finden also den ukrainischen Nationalismus aka „Patriotismus“ total nice. Die Deutschen könnten sich da ruhig mal eine Scheibe abschneiden, meinen sie. Nicht unbedingt, indem sie sich wieder einen eigenen Patriotismus zulegten, aber den guten alten Russenhass könnten sie doch reaktivieren und mehr Schwarz-Weiß-Denken wagen. Dabei dürfe man ruhig mal ein wenig über die Stränge schlagen, da die Faschisten ja diesmal die Russen seien. Ein verlockendes Angebot, dass große Teile der Bevölkerung längst aufgegriffen haben.

Vor allem im sogenannten „linksliberalen“ Milieu ist die Ersatzidentifikation mit der Ukraine weit verbreitet. Gerade Menschen, die mit ihrem eigenen Land wenig anfangen können, sind offenbar besonders anfällig dafür. Die Ukraine-Fahnen auf den Dächern von Theatern, Museen und Bibliotheken wie auch auf Twitter-Profilen dienen nicht nur dem Virtue signaling (Protzen mit moralischer Überlegenheit). Die Leserforen „linksliberaler“ Medien wie der Zeit oder der taz vermitteln den Eindruck, dass es vielen vor allem darum geht, als gefühlte Ukrainer endlich einmal auf der Seite der moralischen – und ganz sicher auch militärischen – Sieger zu stehen.

Wenn die Ukrainer die Guten sind und die Russen das „totale Böse“ verkörpern, dann lassen sich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Zum einen darf man, wie damals die Großeltern, beim Kampf gegen das Böse mitfiebern und gebannt auf den Endsieg warten, nur dass man diesmal wirklich zu den Guten gehört. Zum anderen kann man nun auch die NS-Vergangenheit etwas entspannter betrachten, denn wenn die Wehrmacht sich in Osteuropa nicht viel schlimmer aufgeführt hat als heutzutage die Russen, dann wird wohl alles halb so schlimm gewesen sein. Das heißt aber auch: Es geht um viel. Das dürfte zum Teil den so fanatischen wie hysterischen Ton erklären, den woke Kriegsbegeisterte immer wieder anschlagen, wenn ihr sorgsam gepflegtes Gut-Böse-Schema durch die Realität bedroht erscheint.

Ein prägnantes Beispiel dafür schildert Moritz Gathmann in einem Gastbeitrag für das Online-Magazin Übermedien: „Der ‚Bild‘-Journalist Julian Röpcke, demonstrativ proukrainisch, erntet auf Twitter regelmäßige Shitstorms – Vorwurf: russische Desinformation! – seiner Fanbase, wenn er neben allem anderen auch über militärische Misserfolge oder über Gräueltaten der ukrainischen Armee berichtet.“ Die von Uthoff und vielen anderen immer wieder vermittelte Botschaft, bestimmte Dinge – zum Beispiel, dass Schadan ein Rechter sei – könnten nicht stimmen, wenn sie der „russischen Propaganda“ nützen könnten, trägt sicher auch dazu bei.

Endlich einmal auf der richtigen Seite stehen

Die Parallelisierung des Ukraine-Kriegs mit dem Zweiten Weltkrieg scheint in sehr vielen Online-Kommentaren durch: Je mehr Waffen, vor allem „schwere“, Deutschland liefert, umso besser. Es muss nicht unbedingt eine Wunderwaffe sein, Hauptsache, es sind deutsche Waffen, die den Krieg zugunsten der Ukraine entscheiden.

Noch wichtiger ist es vielen offenbar, dass der Krieg nicht mit einem Kompromissfrieden, sondern mit der Kapitulation Russlands endet. Das Standardargument hierfür lautet: Die Alliierten haben ja auch nicht mit Hitler verhandelt. Gerne wird es verwendet, um jeden, der für Verhandlungen eintritt, als „Secondhand-Kriegsverbrecher“ (Wolf Biermann) zu diskreditieren. Schließlich führt Russland ja einen „Vernichtungskrieg“, genau wie seinerzeit die Wehrmacht. Butscha dient als Beweis dafür.

Häufig liest man auch, auf die russische Kapitulation müsse eine „Entnazifizierung“ folgen, verbunden mit Reparationszahlungen und einer Neuauflage der Nürnberger Prozesse, nur diesmal in Den Haag. Dass dies alles wohl leider nicht zu haben sein wird, ohne den Dritten Weltkrieg zu entfesseln, kümmert solche Zeitgenossen nicht weiter, geht es ihnen doch um Größeres: die gefühlte Befreiung von der Last der Vergangenheit. Und da reicht es eben nicht, nur Putin alias Hitler anzuklagen. Zu einer ordentlichen Vergangenheitsbewältigung gehört es nun mal auch, unter den zahlreichen Mittätern und Mitläufern aufzuräumen, nur diesmal ohne „Persilscheine“.

#Bild: Antrieb der „Wunderwaffe“ V2 im KZ Dora-Mittelbau. Bild: Vincent van Zeijst/CC BY-SA-3.0

Quelle: overton-magazin.de… vom 10. November 2022

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