Frankreichs umkämpfte Arbeitsrechts-„Reform: Stand vom 10. Juni 2016
Bernard Schmid. Bewegung Zehnter Juni: Am heutigen Freitag wird die Fußball-Europameisterschaft im Raum Paris eröffnet * Der Plan der Regierung, die Proteste unter diesem Vorwand zurückzudrängen, ist gescheitert
Unter anderem werden die S-Bahn-Linien, die zum Stadion in Saint-Denis führen bestreikt * Der Arbeitskampf in der Müllversorgung im Raum Paris und den Müllverbrennungsanlagen spitzt sich zu * Der festgenommene soziale Protest-Aktivist Loïc Canitrot kam am Donnerstag früh frei, ihn wird jedoch am 05. August (ganz zufällig mitten im Hochsommer…) ein Prozess erwarten * Der CGT-Aktivist und „libertäre Kommunist“ in Lille wurde zu acht Monaten Haft auf Bewährung verurteilt * Am Wochenende (11./12. Juni): Treffen mit internationaler Beteiligung an der Hochschule in Nanterre, dann Zentraldemonstration am Dienstag, den 14. Juni * Neue Protesttermine am 23. und 28. Juni d.J.
Die Seine in Paris führt nach wie vor Hochwasser, auch wenn der Pegel zurückgegangen ist – Mitte vergangener Woche erreichte er einen Höchststand von 6,50 Metern, und Ausstellungsgegenstände wurden bereits aus den Museen in Wassernähe geräumt. Doch fährt man zur Zeit über die Seine-Brücke in der Nähe der Gare d’Austerlitz (des Austerlitz-Bahnhofs), dann ist es nicht der Wasserstand, der als hauptsächlicher Blickfang wirkt. Der Blick fällt spontan auf die Schrift in riesigen, dicken roten Buchstaben, die auf der Mauer am gegenüberliegenden Ufer prangt: Nuit debout – Au lieu de vivre à genoux (ungefähr: „Wach durch die Nacht – statt auf Knien zu leben“). Jemand, vielleicht die Stadtverwaltung?, hat das letzte Wort mit heller oder grauer Farbe unkenntlich zu machen versucht. Aus dem Sinnzusammenhang heraus erkennt man es natürlich.
Man erkennt also, die Platzbesetzerbewegung ist nicht mausetot, auch wenn der Bewegungsprominente François Ruffin zwischendurch mal Anderes postuliert hat. Ebenso wenig wie andere Teile der Protestbewegung. Am Mittwoch Abend nahmen aus Anlass des „100. März“ – am 69. Tag nach dem Beginn der Platzbesetzerbewegung am 31. März dieses Jahres – wieder zahlreichere Menschen, rund 1.000, an Debatten und Festlichkeiten auf der Pariser place de la République teil. Dabei wurde ein Grundlagentext zum Selbstverständnis angenommen, der weitgehend einen Text der Madrider Platzbesetzerbewegung vom Mai 2011 übernimmt: „Ich bin nicht wohnungslos, aber ich kämpfe dafür, dass Du ein Dach über dem Kopf hast. Ich bin kein Flüchtling, aber ich kämpfe dafür, dass Du Aufnahme findest…“
Repression, Verfahren…
Ein prominenter Angehöriger der Nuit debout-Bewegung, (und ihres Ordnerdiensts respektive ihrer „Kommission für Gelassenheit auf dem Platz“), Sozialaktivist und Künstler war zu Anfang dieser Woche festgenommen worden: Loïc Canitrot. Er hatte am Dienstag an einer Besetzungsaktion beim Arbeit„geber“verband MEDEF teilgenommen, und dort wurde ihm vom Chef der Security des Gebäudes – Philippe Salmon – heftig ins Geschlechtsteil getreten. Selbiger Salmon erstattete daraufhin jedoch Strafanzeige, mit der Behauptung, es habe sich genau umgekehrt zugetragen.
Anderthalb Tage lang wurde Loïc C. daraufhin durch die Polizei festgehalten. Die erste Nacht, jene von Dienstag auf Mittwoch, musste er in Polizeigewahrsam verbringen und die zweite in einer Zelle im Untergeschoss des Pariser Justizpalasts (auf der Cité-Insel im historischen Stadtzentrum). Am Donnerstag früh sollte er der Staatsanwaltschaft fortgeführt werden, um im Anschluss im Rahmen eines Blitzverfahrens – der comparution immédiate, welche für Flagranti-Delikte reserviert ist – einem Gerichtsverfahren ins Auge zu schauen. Im Laufe des Donnerstag Vormittag wurde er jedoch freigelassen. Am 05. August dieses Jahres soll ihm nun jedoch ein Strafprozess gemacht werden. Natürlich ganz zufällig mitten im Hochsommer und in einer Periode, in welcher Paris weitgehend ausgestorben respektive den Touristinnen und Touristen überlassen ist.
In Gestalt von Loïc C. zielt die staatliche Justiz – die Staatsanwaltschaft in Frankreich ist an Weisungen aus dem Justizministerium gebunden, während die Richter/innen im Prinzip weisungsunabhängig sind – auf einen führenden Kopf sozialer Bewegungen aus den letzten mindestens fünfzehn Jahren. Und zugleich auf einen ausgesprochen friedlichen Menschen, der gerade wegen seines friedfertigen und keinesfalls hitzköpfigen Charakters ein wichtiges Mitglied der Commission de sérénité oder des „Gelassenheitskomitees“ (des Ordnerdiensts, der keine polizeiähnlichen Aufgaben übernehmen, sondern Konflikte schlichten soll) auf dem besetzten Platz darstellt.
Am Donnerstag Vormittag ab circa 11.30 Uhr versammelten sich 400 Menschen aus Solidarität mit Loïc vor dem Pariser Justizpalast. Die Kundgebung war innerhalb von weniger als einem halben Tag organisiert worden, während noch erwartet wurde, dass ihm „drinnnen“ im o.g. Eilverfahren der Prozess gemacht werden könnte. Redner/innen aus der intermittents-Bewegung, aus der CGT, der Union syndicale Solidaires, der CGT, der Linkspartei/PG, der „Neuen Antikapitalistischen Partei“/NPA, der Partei Lutte Ouvrière („Arbeiterkampf“), der Coordination des Groupes Anarchistes… wechselten sich ab. Aufgrund ihrer Teilnehmer/innen/zahl und der Qualität der Redebeiträge muss die Kundgebung als voller Erfolg gelten. Im Anschluss zogen die Beteiligten quasi geschlossen zur nahe gelegenen place du Châtelet weiter, wo Sans papiers („illegalisierte“ Einwanderer) demonstrierten, um gegen ihre Überausbeutung durch den Kantinenbetreiber Elior – eines der größten Unternehmen auf dem Sektor – zu protestieren. Die Polizei hatte die Sans papiers zuvor daran gehindert, eine schmale Zone auf dem Platz zu verlassen und Flugblätter an die Passant/inn/en zu verteilen, was sich mit dem Eintreffen des Demopulks schlagartig änderte. Kurz darauf zogen wiederum viele der Beteiligten zu einer dritten Demonstration, die um 13.30 Uhr an der place d’Italie im Süden von Paris begann. Es handelte sich um die Einheitsdemonstration der kämpferischen Sektoren (u.a. Postbedienstete im Raum Nanterre, streikende Eisenbahner/innen vor allem von SUD-Rail…). Diese zog mit rund 1.000 Menschen los, nicht ohne Provokationen der Polizei respektive Gendarmerie – Letztere rauschte einfach mal mit 15 Mannschaftswagen mitten durch die Demonstration quer durch – und besetzte anschließend Gleise am Lyoner Bahnhof.
Dort hatte es bereits am Vorabend eine Gleisbesetzung gegeben. Am Mittwoch Abend (08. Juni) hielt die Regierungssozialdemokratie eine Saalkundgebung auf dem Bercy-Gelände im zwölften Bezirk ab, um das „Arbeitsgesetz“ als angeblichen „sozialen Fortschritt“ zu verkaufen. Dieses Argument konnten sie nur deswegen feilbieten, weil sie ihren eigenen Entwurf mit den Verschlechterungen verglichen, welche durch die konservative (Oppositions-)Mehrheit im Senat – „Oberhaus“ des Parlaments – angebracht wurden. Die Veranstalter/innen schienen jedoch von vornherein skeptisch zu sein und hatten einen Saal reserviert, welcher nur 200 Plätze fasst. Auch Angehörigen des Pariser Stadtverbands der Sozialdemokratie – welcher den Gesetzentwurf und das antidemokratische Gesetzgebungverfahren dazu kritisiert hat – wurde im Vorfeld die Teilnahme verweigert. Einzelne Kritiker/innen schafften es dennoch in den Saal und konnten sich dort zu Wort melden bzw. bemerkbar machen, wurden jedoch in ihrer Mehrheit an die frische Luft befördert. Dort demonstrierten unterdessen an die 1.000 Menschen, auch wenn die Luft so frisch nicht war, sondern eher tränengashaltig. Weil massive Polizeikräfte (200 Mannschaftswagen sollen im Einsatz gewesen sein) den Eingangsbereich weiträumig blockierten, zogen die Beteiligten einfach mal auf den Boulevard périphérique – die Pariser Ringautobahn, die um die gesamte Stadt herumführt – und blockierten dort den Verkehr, bevor sie in Richtung Bercy- und Lyoner Bahnhof weiterzogen und auch dort ein bisschen blockieren übten.
Und nicht nur in der französischen Hauptstadt geht es zur Sache, eher anderswo sogar noch mehr (jedenfalls an der Bevölkerungszahl gemessen)! Unterdessen wurde die normannische Hafenstadt Le Havre zur „Hauptstadt der sozialen Kämpfe“ gekürt (vgl. http://www.normandie-actu.fr/pourquoi-le-havre-est-devenue-la-capitale-de-la-greve-notre-interview_209009/ und http://www.normandie-actu.fr/blocages-et-greves-au-havre-patrons-et-routiers-exasperes-ecrivent-a-manuel-valls_211157/ ).
In Lille wurde der junge CGT-Aktivist und „libertäre Kommunist“ Antoine, den die Polizei am 17. Mai in der nordfranzösischen Stadt unter fadenscheinigen „Gewalt gegen Beamte“-Vorwürfen festgenommen hatte, am gestrigen Tage zu einer Haftstrafe von acht Monaten auf Bewährung verurteilt. Er hatte sich gegen einen Mann gewehrt, welcher keine Uniform trug und sich während einer Demonstration unversehens auf ihn gestürzt hatte. (Vgl. http://www.lemonde.fr/police-justice/article/2016/06/10/loi-travail-huit-mois-de-prison-avec-sursis-pour-un-manifestant-a-lille_4946201_1653578.html und http://www.lavoixdunord.fr/region/antoine-militant-cgt-de-valenciennes-condamne-a-8-mois-ia19b0n3562089 ). Er hatte sich zuvor im Hungerstreik befunden, und es hatte eine massive Kampagne für seine Freilassung gegeben.
Nun aber zu den Freuden, die uns mit dem Beginn der Europameisterschaft blühen.
Fußball-EM: Rote Karte!
So schön hatte Frankreichs Staatspräsident François Hollande sich das gedacht: Die an diesem Freitag beginnende Fußball-Europameisterschaft oder „Euro 2016“ würde seine gesamte Bilanz vergessen machen und ihm, im Zeichen eines nationalen Schulterschlusses, zu neuer Popularität verhelfen. Die hätte er auch dringend nötig, steht er doch aktuell bei nur noch 14 Prozent Zustimmungswerten – ein absoluter Negativrekord. Ja, es hätte Alles so schön sein können. Allein, die Dinge wollen nicht so, wie der Präsident wohl will. Am 19. Mai schrieb Le Monde, Hollande baue auf die EM, um wieder in der öffentlichen Gunst zu steigen – Anfang dieser Woche schreibt die französische Ausgabe der Huffington Post, Hollande könne sich von der Meisterschaft keinen Popularitätsschub erwarten.
Alles deutet darauf hin, dass die aktuellen heftigen sozialen Konflikte in Frankreich – unter anderem, aber nicht allein um das geplante „Arbeitsgesetz“ – auch auf die EM-Periode durchschlagen und mindestens ihren Beginn deutlich überschatten. Bei der Bahngesellschaft SNCF wurde der Streik auch am Donnerstag fortgesetzt, nachdem Regierung und Bahndirektion Einiges getan hatten, um ihm ein Ende zu setzen. Premierminister Manuel Valls hatte die abhängig Beschäftigten beschworen, im Namen angeblicher Solidarität mit den Opfern der jüngsten Überschwemmungen sowie aus Rücksicht auf das schöne nationale Sportereignis doch gefälligst den dummen Streik einzustellen. Dieser sei ihm „absolut unverständlich“.
Die Bahndirektion beseitigte zwar nicht die Befürchtungen ihrer Beschäftigten betreffend dem künftigen Arbeitszeitregime, legte aber am Montag einen Vorschlag für einen Tarifvertrag auf den Tisch. Er wurde zwar durch die rechtssozialdemokratische Minderheitsgewerkschaft CFDT angenommen, doch andere Gewerkschaften wie SUD Rail und FO lehnen ihn rundheraus ab, und die stärkste Einzelgewerkschaft CGT befindet sich noch im Entscheidungsprozess. An den darauffolgenden Tagen wurde jedoch überall in den Personalversammlungen an der Basis der Eisenbahner/innen beschlossen, den Arbeitskampf fortzusetzen. Die Bahndirektion spielt die Beteiligung zwar herunter und spricht von einer Streikteilnahme von angeblich zehn Prozent – weshalb es jedoch kurios erscheint, dass beispielsweise 70 Prozent der Regionalzüge ausfallen, wie die Gewerkschaft SUD Rail bemerkt..
Am heutigen Freitag ist der Streik zwar teilweise abgebröckelt, doch werden u.a. die Linien RER B und D – die beiden S-Bahn-Linien, welche in die Nähe des Stadions führen, wo das Eröffnungsspiel stattfinden – derzeit „massiv“ bestreikt. (Vgl. http://www.lexpress.fr/actualite/societe/euro-greve-massive-vendredi-sur-les-rer-b-et-d-qui-desservent-le-stade-de-france_1800796.html ).
Am Mittwoch musste bereits der Sonderzug „Euro 2016“ im Pariser Nordbahnhof kehrtmachen, und er wurde für den Publikumsverkehr geschlossen. Er sollte den UEFA-Pokal ins Stadion, das in Saint-Denis bei Paris liegt und wo das Eröffnungsspiel ausgetragen werden, transportieren und von einem Freudentaumel der Massen begleitet werden. Real begleitet wurde er von streikenden Eisenbahner/inne/n und sie unterstützenden Demonstranten. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-eco/2016/06/08/97002-20160608FILWWW00173-loi-travail-le-train-de-l-euro-bloque-gare-du-nord.php ).
Teile der sozialen Protestbewegung organisierten unterdessen eine Aktion „Rote Karte“, die darauf hinausläuft, sich an die Fans und – sofern möglich – auch an die Sportler zu wenden, um ihnen mitzuteilen, man respektiere ihren Sport, aber nicht die Regierung. Im Zusammenhang damit soll am heutigen Freitag Abend, parallel zum Eröffnungsspiel, eine Demonstration in der Nähe des Stadions stattfinden. Auf der linksradikalen Webseite Paris-Luttes.info wurde unterdessen ein Aufruf publiziert, der fordert, das Ereignis explizit zu stören. Darin heißt es, man achte den Fußball und seine Fans, doch diese Meisterschaft werde sowohl politisch als auch zu kommerziellen Zwecken instrumentalisiert. Es folgt die Liste von Großunternehmen, die als Sponsoren auftreten, und gegen die es vorzugehen gilt. (Vgl. https://paris-luttes.info/appel-a-perturber-l-euro-2016-5989 ).
Die jüngst veröffentlichte Nachricht, dass diese Unternehmen – darunter Orange, CocaCola, Adidas, McDonalds und Turkish Airlines – (wegen ihrer Unterstützung für die EM) in Frankreich Steuerbefreiungen erhielten, wird den Zorn der Protestierenden kaum besänftigen. Die UEFA, nicht eben der unkorrupteste Verband, denkt man an die jüngsten FIFA-Enthüllungen (die auch Ex-UEFA-Chef Michel Platini an führender Stelle betreffen), soll deswegen sogar gänzlich von Steuern befreit werden. Dieses Geschenk ist 2,5 Milliarden Euro wert. (Vgl. u.a. http://www.lemonde.fr/football/article/2014/11/05/euro-2016-pourquoi-offrir-un-cadeau-fiscal-a-l-uefa_4518312_1616938.html ).
Ausblick
Am Wochenende – ab Samstag circa 11 Uhr – wird an der Universität von Nanterre (nordwestlich vor den Toren von Paris gelegen) ein Perspektiv- und Debattentreffen mit internationaler Beteiligung stattfinden.
Alles entscheiden wird natürlich der Ausgang der Pariser Zentraldemonstration am kommenden Dienstag, den 14. Juni, zu welcher ebenfalls internationale Beteiligung aus Deutschland, der Schweiz, von den britischen Inseln… angemeldet ist. Am Abend ist laut sozialem Wetterbericht mit Besetzungen zu rechnen.
Unterdessen kursieren jedenfalls in der CGT bereits Aufrufe zu neuen Aktionstagen am 23. Juni sowie 28. Juni dieses Jahres, um die Sache auch nur ja nicht „absacken“ zu lassen.
Ausführlicheres zu all dem aktuellen Geschehen, aber auch zu dem sich zuspitzenden Streik in der Pariser Müllversorgung, darunter in Europas größter Müllverbrennungsanlage in Ivry-sur-Seine (er wurde soeben bis mindestens Dienstag, den 14. Juni verlängert) wird hier am Montag früh zu lesen sein…
Quelle: www.labournet.de… vom 10. Juni 2016
Tags: Arbeiterbewegung, Frankreich, Sozialdemokratie, Widerstand
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