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LabourNet-Interview mit Roman L. zu der Situation in Belarus und Russland

Eingereicht on 27. Februar 2023 – 16:02

Studierende und Gewerkschaften waren die treibende Kraft bei den Protesten 2020 in Belarus – was taten sie, als der Ukraine-Krieg ausbrach?

Roman L. [sein echter Name ist der Redaktion bekannt] musste ebenso wie der russische Gewerkschafter Ivan R. nach dem Beginn des Angriffskrieges von Russland auf die Ukraine aus seiner Heimat fliehen. Er lebte, arbeitete und studierte in Belarus, wo er bei den Protesten 2020 Studierendenstreiks organisierte. Er wurde drei Mal verhaftet und ist weiterhin daran beteiligt, für die Rechte und für Lebensmittellieferungen von und für inhaftierte Lehramtsstudent:innen einzutreten. Im Interview berichtet er von seiner Flucht, seiner politischen Geschichte, dem Aufbau der unabhängigen Studierendengewerkschaft und dem Stand der (unabhängigen) Gewerkschaften in Belarus sowie über seinen Aktivismus nun im Exil. Siehe das Interview von Anne Engelhardt vom Februar 2023 und Hintergründe:

LN: Wann und warum hast Du Belarus verlassen?

Roman: Das war im März 2022. Im Grunde genommen kam mir der Gedanke, das Land zu verlassen, bereits ein Jahr davor, als Beamte der Hauptabteilung für die Bekämpfung von organisiertem Verbrechen und Korruption, die jetzt eine vollwertige Strafbehörde für politische Fälle ist, in mein Wohnheim kamen. Ich wurde zu 15 Tagen Gefängnis verurteilt, weil ich angeblich Widerstand gegen die Polizei geleistet hatte. Aber eigentlich war der Grund ein anderer – sie interessierten sich für mein Filmmaterial über die Polizeiausrüstung während der Proteste [siehe unten]. Und sie fanden auch Beiträge von ‚extremistischen‘ Kanälen, für die sie ebenfalls Verwaltungsstrafen androhten. Aber nach 15 Tagen wurde ich freigelassen, und sie versprachen mir große Probleme. Über meine Kolleg:innen machten sie mir klar, dass ich aus dem Wohnheim geworfen werden würde etc. Mir war klar, dass das sehr große Schwierigkeiten mit sich bringen könnte. Aber ich war an die Verteilung gebunden. In Weißrussland, wie auch in der Sowjetunion, muss eine Person, die eine kostenlose Ausbildung erhalten hat, nach ihrem Abschluss zwei Jahre lang in einer staatlichen oder staatsnahen Einrichtung arbeiten, die du dir aussuchen kannst, aber das bedeutet, dass du nicht ins Ausland gehen musst. Also bin ich geblieben. Mir wurde ein Job in einem Unternehmen angeboten, das dem weißrussischen Regime irgendwie nahestand. Natürlich war das unangenehm, aber ich habe in diesem Unternehmen keine politischen Aktionen durchgeführt. Das heißt, sie haben sich einfach bereit erklärt, mir bei der Suche nach einem Job zu helfen, weil es sonst unmöglich war, einen Job im öffentlichen Dienst zu bekommen.

Wichtig ist, dass sie während meiner Inhaftierung ein kleines Video mit mir gemacht haben, das später im staatlichen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Im Prinzip brachten sie mich dazu, Dinge zu sagen, die bereits wahr waren – dass ich an den Protesten teilgenommen und Polizeieinrichtungen gefilmt hatte und dass das im staatlichen Fernsehen gezeigt wurde, war natürlich sehr unangenehm, aber ich habe nicht gelogen und nichts gesagt, was mich oder andere Menschen in irgendeiner Weise belasten könnte. Während der Verhöre sagte mir der Oberst, dass er mich auf den Hof bringen und erschießen wollte.

Nachdem ich einen Job bei dieser Firma bekommen hatte, war ich im Verkauf tätig und erledigte eine Reihe von kleinen Besorgungen für die Firma. Gleichzeitig engagierte ich mich in der Student:innenbewegung und in der Gewerkschaft. Meine dritte Verhaftung war im August 2021, als ich zur Polizeiwache eingeladen wurde, um die Ausrüstung abzuholen, die im März 2021 bei mir beschlagnahmt worden war. Ich ging ohne mein Telefon dorthin. Und danach wurde ich festgenommen. Ich verbrachte wieder 15 Tage dort. Die Bedingungen waren schon viel schlimmer. Ich steckte mich mit dem Coronavirus an. Gesundheitlich war es dort sehr schwer. Und die Bedingungen waren sehr hart. Ich habe zum Beispiel eine Art Insekt in meiner Suppe gefunden. Eine Zelle von 15 Quadratmetern wurde unter 12 bis 15 Menschen aufgeteilt. Es gab kein Fernsehen, kein Internet und kein zusätzliches Essen. Das waren Bedingungen wie in einem Konzentrationslager. Das Einzige war, dass wir nicht verprügelt wurden. Aber im Großen und Ganzen war es ziemlich ähnlich. Sie weckten uns dreimal in der Nacht auf, damit wir unsere Namen und Nachnamen nennen konnten. Ein weiteres Element des Drucks. Interessant ist jedoch, dass nicht-politische Personen diesem Druck nicht ausgesetzt waren.

Nach der Freilassung aus der dritten Inhaftierung kamen die weißrussischen Sicherheitsdienste zu mir und setzten mich grob unter Druck, mit ihnen zu kooperieren. Aber sie gaben mir eine gewisse Bedenkzeit. Anfangs setzten sie mich unter Druck, aber das war nur ein Mittel, um zu sehen, wann ich schneller einlenken würde. Sie fingen an, mich mit Schmutz zu erpressen, mit der Tatsache, dass ich an Kundgebungen teilgenommen hatte, dass ich dafür ins Gefängnis gehen würde. Im Prinzip habe ich es eine Zeit lang verheimlicht, ich meine, ich habe meine Krankheit vertuscht oder mir irgendwelche Ausreden ausgedacht. Aber irgendwann sagten sie mir, dass es keinen Aufschub duldet und dass eine Entscheidung getroffen werden muss, sie stellten mich vor eine Entscheidung – entweder Gefängnis oder ich rede mit ihnen. Und genau dann begann der Krieg, im Februar 2022. Und ich verstand, dass es sehr schwierig sein würde, zu gehen. Aber ich versuchte es. Es war sehr schwierig. Es war kaum möglich, Tickets zu kaufen. Ich hatte keinen Weg, eine Unterkunft zu finden. Also meldete ich mich bei der Arbeit krank. In der Zwischenzeit nahm ich einen Zug, fuhr nach Moskau, nahm ein Flugzeug nach Eriwan und kam nach Eriwan. Nach Eriwan kam ich mit dem Zug nach Tiflis. Danach landete ich in Batumi, wo ich bei einem Weißrussen unterkam, den ich in einem Chatroom auf Telegram gefunden hatte. Er half mir, eine Wohnung zu finden. Ich verbrachte zwei Monate in Batumi.

LN: Wie hat Dein studentischer Aktivismus begonnen?

Roman: Nach den Protesten im August 2020 begannen die Studierendenproteste. Sie begannen im September 2020 und es gab verschiedene Formen von Protesten. Zunächst gab es Student:innenproteste auf den Höfen der Universitäten, Einrichtungen und Fakultäten. An manchen Orten waren sie zahlreich, an manchen Orten nicht so zahlreich. Manchmal waren es isolierte Proteste. In einigen Fällen gab es sogenannte Streikkomitees, die zu Streiks aufriefen. Der größte Student:innenstreik war im Oktober 2020. Daran habe ich auch teilgenommen. Er dauerte eine Woche, aber Studierende in einigen Universitäten und einigen Fakultäten wurden dafür ausgeschlossen, andere nicht. Ich wurde nicht ausgeschlossen, weil ich im Masterstudiengang war und die Haltung gegenüber den Masterstudierenden etwas loyaler war als gegenüber anderen Studierenden.

Die Student:innen waren vor allem wegen der manipulierten Wahlen 2020. Generell die Art von Problemen, die auch Nicht-Studierende hätten beunruhigen können. Aber die Taktik der Universitätsverwaltung war anders. Sie sagte: „Welche Probleme gibt es an der Universität? Protestiert ihr an der Universität? Lasst uns über die Probleme an der Universität sprechen“. Und danach, es war Anfang September 2020, gab es Initiativen, um Fehler im Hochschulsystem in Belarus zu finden. Und davon gab es genug. In erster Linie ist es das ineffektive Verteilungssystem. Um die Verteilung zu vermeiden, muss man zum Beispiel 12.000 Euro bezahlen. Das ist eine Summe, die selbst für einen europäischen Bürger unerschwinglich ist, ganz zu schweigen von einem Weißrussen – für einen Lehrer zum Beispiel liegt das Durchschnittsgehalt bei 300-350 €, selbst in Minsk, in einigen Fällen bei 400, in einigen Fällen bei 500, aber das ist sehr selten.

Ein hohes Maß an Ideologisierung der Bildung, z.B. die Teilnahme an regierungsfreundlichen Veranstaltungen. Aktivist:innen, die sich für die Regierung einsetzen, haben zum Beispiel viel mehr Rechte als Aktive, die sich nicht für die Regierung einsetzen. Das heißt, dass diejenigen, die an regierungsfreundlichen Veranstaltungen teilnehmen, Geld erhalten können und so weiter. Das heißt, die Ungleichheit im studentischen Umfeld ist ziemlich groß. Und es gibt auch Manipulationen bei Studierenden, die staatlich finanziert studieren. Das heißt, es wird viel moralisiert: „Ihr wisst nicht zu schätzen, was ihr habt“. Mir wurde zum Beispiel von Mitgliedern dieser Polizeieinheit (Hauptabteilung für die Bekämpfung von organisiertem Verbrechen und Korruption) gesagt, dass ich in zu luxuriösen Verhältnissen lebe und man mir das wegnehmen sollte, weil ich es nicht zu schätzen weiß.

Das heißt, sie haben die Vorstellung, dass der Staat etwas gibt und du es zu schätzen wissen musst. Und das wird ihnen auch an der Universität beigebracht. Mit anderen Worten, jeder Student soll ein Stipendium von 40 € zu schätzen wissen, eine Ausbildung, die absolut nicht wettbewerbsfähig ist, nur weil sie kostenlos ist, während man in Europa dafür bezahlen muss. Das ist das Narrativ der Universitätspropaganda, wenn man es so nennen kann. Und genau das ist die Tatsache, dass Bildung nicht wettbewerbsfähig ist. Das heißt, ein Mensch muss arbeiten, um wettbewerbsfähiges Wissen zu erwerben. Aber um zu arbeiten, muss er zum Nachteil seines Studiums arbeiten. Es ist ein Teufelskreis, d.h. eine Person muss arbeiten, um Berufserfahrung zu sammeln. Und das kann mit der Ausbildung kollidieren. Und das ist wahrscheinlich nicht nur ein Problem in Weißrussland, sondern auch in anderen Ländern. Also muss man einfach ein Jahr oder sechs Monate lang (nach dem Abschluss) umschulen. Ich habe zum Beispiel meinen Abschluss an der Fakultät für Geschichte gemacht und hatte eine Praxis in der Schule, die ganz anders war als das, was uns an der Universität beigebracht wurde. Das heißt, man kann es natürlich umgehen, aber im Allgemeinen gibt es so etwas. Auch im Bildungswesen gibt es ein ziemlich niedriges Lohnniveau und ziemlich niedrige Arbeitsbedingungen. Das heißt, dass Lehrkräfte, zum Beispiel, vor zwei Jahren, außerordentliche Professor:innen, Leute mit einem Doktortitel, soweit ich mich erinnere, 300 € verdienen konnten, bestenfalls 400. Das Gehalt ist jetzt höher, aber nicht viel. Außerdem ist die Motivation sehr gering und es gibt viele ältere Dozent:innen, die oft Geschichten erzählen können, die nichts mit echten Informationen, mit echten Themen zu tun haben. Wir hatten zum Beispiel die altgriechische Geschichte, die von einer Person unterrichtet wurde, die über ihre Familie, ihre Kindheit und darüber, wie sie zu Ärzten ging, erzählte statt über das Thema. Gleichzeitig hatten wir eine Prüfung dazu. Wenn man sich also nicht für die griechische Antike interessiert, wird man in diesem Fach nichts Nützliches lernen. Hinzu kommt, dass Nicht-Fachleute und die Strafverfolgungsbehörden sehr stark eingebunden sind. Es ist bekannt, dass jede Fakultät einen freiberuflichen Sicherheitsbeauftragten hat, der auf die eine oder andere Weise Informationen über Studierende und Lehrer:innen sammelt. Das ist mir bekannt. Das Problem ist auch, dass die Studierenden kein Recht haben, das Bildungssystem zu beeinflussen. Das heißt, die Student:innen können sich keine Lehrer:innen aussuchen, sie können ihre Meinung zu Fächern, Kursen und so weiter nicht äußern. Und es ist sehr einfach, Druck auf Studierende auszuüben, indem man sie ausschließt, ihnen das Stipendium entzieht und so weiter. In Weißrussland gibt es auch ein System der Zwangsvermittlung, was ein sehr großes Problem ist, denn in meinem Fall hatte ich die Wahl, ich konnte mir meinen Job aussuchen, aber viele Hochschulen bieten diese Möglichkeit nicht. Das heißt, sie können einen in fast jede staatliche Einrichtung in jeder Region des Landes schicken. Das heißt, eine Person aus einer Region kann in eine andere Region geschickt werden, um dort zu arbeiten. Und es stellt sich heraus, dass eine Person nach zwei Jahren Arbeit gezwungen werden kann, auf die eine oder andere Weise zu bleiben. Und außerdem kann eine Person eine Familie haben. Eine Person kann es leid werden, mit dem System zu kämpfen und ein Rädchen im System zu werden. Und um aus der Verteilung herauszukommen, musst du 12.000 € zahlen.

LN: Welche Rolle spielen die Gewerkschaften in Belarus?

In Weißrussland gibt es zwei Arten von Gewerkschaften. Die erste hat ihren Ursprung in der Sowjetunion, als die Gewerkschaften hauptsächlich Gutscheine für Sanatorien, materielle Unterstützung und so weiter verteilten. Das heißt, es handelt sich um Gewerkschaften, die absolut abhängig vom belarussischen Regime sind. Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind sie vor allem mit materieller Hilfe und Urlaub in Sanatorien verbunden. Die wenigsten denken wirklich darüber nach, dass sie die Rechte irgendwie schützen können. Und das Wichtigste ist, dass diese Gewerkschaften fast direkt aus dem Staatshaushalt gesponsert werden. Natürlich haben sie Mitgliedsbeiträge, die oft obligatorisch sind. Das heißt, es wird etwas Geld vom Gehalt abgezogen. Und Gewerkschaften sind im Prinzip eine Form der sozialen Kontrolle. Ich erinnere mich, dass ich vor langer Zeit zufällig gelesen habe, dass Lukaschenko sagte, dass er die Zivilgesellschaft in Weißrussland so sieht, dass es Organisationen gibt, die verschiedene Bereiche der weißrussischen Gesellschaft vertreten. Und er sagte: In Weißrussland gibt es die Gewerkschaft, die die Arbeiterinnen und Arbeiter vertritt; es gibt die Jugendgewerkschaft, den Nachfolger des Komsomol; es gibt die Frauengewerkschaft und die Veteranengewerkschaft. Mit anderen Worten, es gibt eine fast 100-prozentige Abdeckung aller Gesellschaftsschichten. Es ist also ähnlich wie im Sowjetregime, sehr ähnlich. Und genau so sieht Lukaschenko die Struktur der Gesellschaft. Im Jahr 2022 wurde noch deutlicher, dass die Gewerkschaften in Lukaschenkos Augen eine Form der Zivilgesellschaft sind und vollständig vom Regime kontrolliert werden. Und in der Regel dienen sie den Interessen des Regimes, zum Beispiel die Initiative mit dem Antrag auf Aufhebung der EU-Sanktionen. Ich glaube, es waren eine Million Unterschriften dabei. Wahrscheinlich waren das erzwungene Unterschriften, aber es gab eine solche Kampagne. Das heißt, ich weiß ehrlich gesagt nichts von irgendwelchen Verstößen, davon, dass die Gewerkschaften irgendwie auf Verstöße gegen die Arbeitsrechte reagieren. Natürlich gibt es dort Anwälte, die höchstwahrscheinlich eine Art Menschenrechtsfunktion ausüben. Aber darüber ist nicht viel bekannt. Im Grunde dienen sie auf die eine oder andere Weise den Interessen des Regimes.

Und die Leute, die die Gewerkschaft leiten, sind eigentlich Beamte. Das heißt, es sind Leute, die zur Personalreserve von Belarus gehören. Ich, zum Beispiel, bin zufällig Mitglied in dieser Gewerkschaft. In der Organisation der Studierendengewerkschaft, die ich mitgegründet habe, war es eine unserer Kampagnen, die Leute dazu zu ermutigen, die offizielle Gewerkschaft zu verlassen und unserer Gewerkschaft beizutreten. Die Anfänge der unabhängigen Gewerkschaften liegen in den 1990er Jahren. Sie waren vor allem eine Reaktion auf eklatante Rechtsverletzungen, auf nicht genehmigte Entlassungen, auf mehrmonatige Lohnrückstände, auf Verstöße und auf alle Arten von Druck. Und in der Regel hatten die Gewerkschaften bis 2020 vor allem eine gesetzliche Funktion. Das heißt, sie schützten die Rechte der Arbeitenden vor unberechtigten Entlassungen, vor unberechtigten Lohnkürzungen und so weiter und so fort. Natürlich versuchten die Behörden, die Gewerkschaften zu bekämpfen. Es gibt vier unabhängige Gewerkschaften in Weißrussland, und eine von ihnen, die Freie Gewerkschaft von Weißrussland, ist die Organisation, die die Rechte von Haushaltsangestellten, Lehrkräften, Ärzt:innen, Studierenden und so weiter schützt. Und in der Regel sind diese Gewerkschaften auf die eine oder andere Weise mit westlichen Gewerkschaften verbunden. Unsere Gewerkschaft arbeitet zum Beispiel mehr oder weniger stark mit den deutschen Gewerkschaften und auf andere Weise mit internationalen Organisationen zusammen.

Den Kampf gegen unabhängige Gewerkschaften hat es in Weißrussland schon immer gegeben. Die Methoden waren nur milder. Das ist der Grund für die außergewöhnliche Vitalität der Gewerkschaften. Denn die Bewegungen, die zu Streiks aufriefen, die Proteste organisierten, wurden relativ schnell verhaftet. Die Gewerkschaften konnten noch lange Zeit funktionieren, weil sie versuchten, die Sprache des Regimes zu sprechen. Mit anderen Worten: Wenn das Regime echte Beweise verlangt, sammeln diese Gewerkschaften Beweise, wenn der Staat auf dem Rechtsgebiet reden will, schreiben sie Klagen auf dem Rechtsgebiet und so weiter. Mit anderen Worten: Die Gewerkschaften versuchen, sich so gut wie möglich zu schützen. Und das ist einer der Gründe für ihren Erfolg. Denn die Menschen haben Angst auf die Straße zu gehen und zu protestieren. Und Gewerkschaften sind eine sicherere Form seine Rechte geltend zu machen. Und Gewerkschaften haben unter anderem auch eine Menschenrechtsfunktion. Das heißt, im Jahr 2020 begannen Menschen ohne juristische Erfahrung, den Gewerkschaften beizutreten, Menschen, die sich für die Menschenrechte engagieren wollten, aber keine radikalen Aktionen wollten und sich gleichzeitig irgendwie so sicher wie möglich halten wollten. Das heißt, soweit ich weiß, gab es bisher zum Beispiel keinen direkten Druck speziell wegen der Gewerkschaften auf der Studierendenebene, sondern wegen anderer Student:innenorganisationen, wegen Student:innenprotesten. Aber die Aktivitäten der Gewerkschaften haben noch keine Fragen aufgeworfen. Ich weiß nicht, womit das zu tun hat. Vielleicht, weil das Niveau nicht so hoch ist. Vielleicht, weil es eine ziemlich sichere Form der Kommunikation mit diesem Regime ist. Und so konnten unabhängige Gewerkschaften im Prinzip ziemlich lange funktionieren, nach dem Krieg war das natürlich gar nicht mehr möglich. Aber vor dem Krieg, als die Unterdrückung ebenfalls ziemlich brutal war, konnten sich die Gewerkschaften ziemlich gut halten. Es war also ein ziemlich sicherer Hafen für Proteste, wenn ich das so sagen darf, zumindest in meinen Augen. Und die Gewerkschaften taten im Grunde das, was sie auch in Europa tun, außer vielleicht, dass sie Proteste organisierten. Und sie erfüllten unter anderem eine Menschenrechtsfunktion. Das heißt, wenn ein Fabrikarbeiter und Aktivist im Gefängnis saß, konnte die Gewerkschaft ihn mit Briefen, Paketen und so weiter unterstützen. Nun ist auch das illegal. Aber die Gewerkschaften kümmerten sich um Beschwerden und legale Wege zur Durchsetzung von Rechten, aber auch um die Hilfe für diejenigen, die sie brauchten.

Am Anfang haben wir Kampagnen durchgeführt, um unsere Gewerkschaft bekannt zu machen. Das war ziemlich schwierig. Aber gleichzeitig hatten wir die größte Reichweite von allen Studentenorganisationen. Unsere Gewerkschaft hat über 300 Anmeldungen (knapp 400) von 30.000 Universitätsstudent:innen. Und unser Telegrammkanal hatte zeitweise etwa 1.000 Abonnent:innen, weil wir eine ziemlich große PR-Kampagne durchgeführt haben. Es war schwierig, weil die Behörden versuchten, dies zu verhindern. Wir organisierten zum Beispiel unsere Propagandatreffen in der Bibliothek der Universität, wir waren Teil der Freien Gewerkschaft Weißrusslands. Das heißt, im Prinzip war es erlaubt, denn die regierungsfreundlichen Organisationen konnten ihre eigenen Kampagnenveranstaltungen abhalten. Wir führten eine Kampagne durch und wurden von der Sicherheitskraft der Universität und einem Mitarbeiter einer Abteilung der Universität angesprochen, die sagten, dass wir das illegal tun würden, weil die Räumlichkeiten der Bibliothek nicht für diesen Zweck vorgesehen seien. Also suchten wir nach verschiedenen Möglichkeiten, dies zu umgehen. Wir veranstalteten verschiedene Unterschriftensammlungen bei Protesten an den Universitäten, wir brachten Aufkleber an und machten auf verschiedene Weise auf uns aufmerksam. Es war sehr schwierig, denn oft war es sogar illegal.

Die hohe Anzahl von Anträgen für unsere Gewerkschaft von mehr als 1 % der Studierenden war ein gutes Ergebnis. Und im autoritären System ist das ziemlich schwierig. Wir interviewten Studierende und Lehrer:innen und schrieben verschiedene Artikel, zum Beispiel über die Geschichte der weißrussischen Proteste oder über die Geschichte der Gewerkschaften. Wir waren also eine Art soziale Organisation mit einem Telegramkanal, in dem wir über verschiedene Dinge schrieben, über die Gewerkschaft, über die Proteste, über die Universität, über das kulturelle Leben und so weiter und so fort. Und das tat ich auch. Ich habe auch den Telegramkanal betreut. Aber meine Hauptaufgabe war es, die Sammlung von Bewerbungen aus den Fakultäten zu koordinieren. Das heißt, wir hatten Leute, die für das Sammeln der Bewerbungen zuständig waren, und ich koordinierte diese Leute und sammelte die Bewerbungen ein.

Manchmal musste man im Prinzip viel mit den Leuten reden, ihnen etwas erzählen und sie überzeugen und so weiter. Das war nicht ganz einfach, aber es war sehr interessant. Das Interessante ist, dass ich damals in einem Museum gearbeitet habe, und mein Museum war eine Zeit lang sogar die Zentrale, und die Leute kamen dorthin, um Anträge zu schreiben, um der Gewerkschaft beizutreten und auch, um aus der staatlichen Gewerkschaft auszutreten. Wir hatten auch eine Interessengruppe, an der ich indirekt beteiligt war, aber es gab auch Leute, die direkter beteiligt waren. Sie half Lehramtsstudent:innen, die inhaftiert waren, zu allen möglichen Strafen verurteilt wurden und unter Druck standen. Wir halfen ihnen auf verschiedene Weise, auch rechtlich. Wir hatten ein juristisches Team, das sich mit der Anfechtung von Entscheidungen und Urteilen befasste. Mit anderen Worten: Wir versuchten, alle Probleme mit rechtlichen Mitteln zu lösen. Wir versuchten unter anderem, internationale Organisationen auf uns aufmerksam zu machen, insbesondere die unabhängigen russischen Gewerkschaften. Wir haben versucht, gemeinsam mit deutschen und schwedischen Gewerkschaften etwas zu unternehmen. Wir waren unter anderem an der Förderung verschiedener Student:innengewerkschaften beteiligt und waren die treibende Kraft bei der Gründung einer gemeinsamen Föderation. Aber leider wurden aufgrund der Ereignisse im März 2021, als das erste Treffen dieser Studentenorganisation stattfand, die meisten Leute, ich war zu der Zeit bereits im Gefängnis, verhaftet und so daran gehindert, es abzuhalten. Im Moment sind die meisten von uns alle im Ausland in verschiedenen Ländern. Und wir sind hauptsächlich mit Informationsarbeit beschäftigt. Aber natürlich ist es sehr schwierig, weil die meisten von uns im Ausland sind und es tatsächlich sehr schwierig ist, den Kontakt zur Universität und zu den Studierenden der Universität aufrechtzuerhalten. Aber wir versuchen, uns irgendwie organisatorisch und informativ mit dem auseinanderzusetzen, was vor Ort passiert. Und wir versuchen, unsere Studierenden, die unter verschiedenen Formen von Druck stehen, auch im Gefängnis, informativ und rechtlich zu unterstützen.

Wir danken für das Gespräch!

: „Weißrussische Gewerkschafter, die bedroht werden und nicht arbeiten können, sind nach Deutschland geflohen, um dem Gefängnis zu entkommen“

Zu den Protesten 2020 und den Folgen siehe die Materialsammlungen im LabourNet Germany:

Siehe auch die aktuellen Dossiers im LabourNet Germany zur Lage in Belaruss:

Quelle: labournet.de… vom 27. Februar 2023

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