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Tsipras und die Linken

Eingereicht on 27. August 2015 – 16:01

Boris Kagarlitzki. Die linke Syriza-Regierung konnte dem Neoliberalismus nichts entgegensetzen, dann wurde sie zur Vollstreckerin seiner Agenda.

Der russische Politologe und Marxist Boris Kagarlitsky war bereits in der Sowjetunion ein politischer Dissident. Er ist gegenwärtig Direktor des Instituts für Globalisierung und Soziale Bewegungen (ISGO) in Moskau und Chefredaktor der Zeitschrift Levaya Politika. Der hier veröffentlichte Text erschien in Rabkor.ru. Übersetzt von Alex Belaew.

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Die Katastrophe in Griechenland dauert an. Die Regierung von Alexis Tsipras hat sich entschieden, mit Hilfe der Stimmen rechter Parteien im Parlament vor den Kreditgebern zu kapitulieren, nachdem sie das Ergebnis des von ihr selbst organisierten Referendums ignoriert hatte, und beginnt mit einer Hetzjagd auf ihre Widersacher innerhalb der Linken.

Im Grunde sind die früheren Parteigänger des Premiers zu dessen Zielscheibe geworden ― also jene, die ihm noch vor einigen Monaten zur Macht verholfen hatten. Obwohl sich das Zentralkomitee (ZK) der Syriza und sogar ihr Exekutivbüro gegen die Einigung aussprachen, wurden die führenden Organe der Partei nicht einberufen und der Ruf nach einem Sonderparteitag, der von der Mehrheit des ZK unterstützt wurde, ignoriert.

Am Ende hat sich Tsipras doch damit einverstanden erklärt, eine Parteikonferenz einzuberufen, aber erst für den September ― sobald alle Fragen mit den Kreditgebern bereits geklärt und das nächste Paket brachialer ökonomischer Maßnahmen umgesetzt wurden.

Die Basisgruppen der Partei, deren Haltung zur Regierung noch negativer ist als die der ZK-Mitglieder, sind faktisch paralysiert. Im Grunde ist die Partei zerbrochen.

Tsipras regiert in ihrem Namen, aber ohne jegliche Bindung an sie, und ohne sich daran zu stören, dass er seine Linie mittels eines bürokratischen Apparates durchdrückt. Seine parlamentarische Mehrheit wird nun im Wesentlichen durch die Stimmen der Abgeordneten der rechten Parteien abgesichert, die von den Griechen in den letzten Wahlen und im Referendum eine Absage erteilt bekommen hatten.

Der Linke Tsipras als Exeget der neoliberalen Politik

Ohne politische Unterstützung von links und vollständig abhängig von den politischen Rechten, die ihn verachten, hält sich Alexis Tsipras auf seinem Posten nur deswegen, weil die herrschenden Eliten ausgerechnet einen „linken“ Premier benötigen, der die Politik der gesellschaftlichen Verwüstung umsetzt. Das ökonomische Debakel soll durch Demoralisierung und politischen Bankrott der linken Kräfte ergänzt werden, die sich traditionell gegen solch ein Debakel aussprechen.

Je größer Tsipras‘ Abhängigkeit von den Rechten ist, desto größer wird seine Maßlosigkeit in Bezug auf seine früheren Mitstreiter. Davon betroffen ist sogar der frühere Finanzminister Yanis Varousfakis, der den Premier bis zum letzten Moment unterstützte. Ihm droht faktisch dafür ein juristischer Prozess, dass er mit seinen Mitarbeitern finanzielle Notmaßnahmen im Falle eines Verhandlungsabbruchs erörtert hatte. Es ist bezeichnend, dass es so weit gar nicht kam. Nicht einmal den berüchtigten „Plan B“ gab es. Es gab bloß Gespräche darüber, dass es nicht schlecht wäre, einen Plan B im Ärmel zu haben. Aber sogar das gilt nun als Verbrechen.

Übrigens sind Tsipras und sein Umfeld bereit, noch weiter zu gehen. Ohne sich auf die juristische Verfolgung des früheren Finanzministers zu beschränken, sind sie vielmehr bereit, auch ausländische Berater anzugehen, die sie selbst eingeladen hatten ― einschließlich des weltweit bekannten Ökonomen James Galbraith. Das Bemerkenswerteste ist, dass Galbraith nicht einmal Geld von der griechischen Regierung erhalten hat und auf eigene Kosten nach Athen gekommen ist, um der linken Regierung zu helfen.

Das Traurigste an der jetzigen Situation ist, dass die Opponenten von Tsipras, die jetzt seinen Attacken ausgesetzt sind, mehrheitlich überhaupt keine Radikalen und teils nicht einmal Vertreter des linken Flügels der Partei sind. Zum größten Teil sind das einfach Leute, die sich zumindest einen Rest an Würde und gesundem Menschenverstand bewahrt haben.

Derselbe Varoufakis hatte bis zum letzten Moment auf der Notwendigkeit eines Kompromisses mit der „Troika“ bestanden und dazu aufgerufen, jegliche Konzessionen einzugehen, um bloß in der Eurozone verbleiben zu können. Dem ehemaligen Minister zufolge habe es keine Alternativen zur Kapitulation gegeben und ihm sei nur die Möglichkeit geblieben, zumindest einige symbolische Konzessionen zu erreichen, um das Gesicht zu wahren.

Insofern, so meint Varoufakis, sei jetzt kein Übergang zum Sozialismus in Griechenland möglich und es sei notwendig, im Rahmen des Neoliberalismus zu verbleiben. Er fordert zur Mäßigung auf, was er für eine Manifestation des gesunden Menschenverstandes hält. Aber die Sache ist nicht einmal die, dass es ein verlogenes Dilemma wäre, so als wäre nicht einmal im Prinzip eine Strategie des Übergangs denkbar, kein Mittelding zwischen einem sofortigen und vollständigen Übergang zum Sozialismus einerseits und der Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Ordnung in unveränderter Form andererseits. Das Hauptproblem liegt darin, welche praktischen Wahlmöglichkeiten euch bleiben. Aber in der Epoche der Systemkrise gibt es nichts, das lächerlicher und unpraktischer ist als die Mäßigung. Sie ist schlicht keine pragmatische Entscheidung.

Das griechische Experiment einer linken Regierung ist gescheitert

Übrigens wurde in Griechenland im Grunde ein äußerst wichtiges und bedeutendes politisches Experiment durchgeführt. Eine Partei, welche die Hoffnungen, Vorstellungen und Ansätze verkörperte, die unter den heutigen europäischen Linken vorherrschen, kam an die Macht und erhielt die Möglichkeit, nicht einfach nur über schöne Alternativen zu den Plagen des Neoliberalismus zu sinnieren, sondern sich auch daran zu machen, einige dieser Ideen in der Tat umzusetzen. Leider scheiterte das Experiment nicht bloß, sondern es erbrachte völlig unabweisliche und offensichtliche Resultate.

Als Partei, welche die gesellschaftliche Unzufriedenheit mobilisiert, erwies sich Syriza als ein ganz vortreffliches und zukunftsträchtiges Instrument. Aber im Zusammenführen von Aktivisten und Gesellschaft im Kampf für einen Regimewechsel erwies sich Syriza als absolut hilflos, sobald sie selbst an die Macht kam.

Die neue Regierung hatte weder eine Strategie noch ein realistisches Programm. Sie hat es allenfalls vermocht, radikale Phrasen und gemäßigtes Bitten zu zusammenzuführen… Es hat sich gezeigt, dass alle Hoffnungen der radikalen Linken auf die Nutzung eben jener europäischer Institutionen reduziert wurden, welche ihre eigene Propaganda vor den Wahlen noch angeschwärzt hatte. Es ist klar geworden, dass diese Leute nicht nur nicht kämpfen können, während sie in der Regierung sind (und deren Mittel sie sich bedienen), sondern dass sie den Sinn dieses Kampfes überhaupt nicht begreifen. Es erwies sich, dass die Klassenrhetorik längst die Klassenpolitik ersetzt hat.

Regieren verpflichtet

Um den Widerstand der feindlichen Institutionen zu überwinden, bedarf es strikter Prioritäten, eindeutiger Entscheidungen, einer harten, zu befolgenden Agenda, die auf konkreten Interessen in der Gesellschaft basiert und einer Mobilisierung von Kräften außerhalb des [politischen] Systems. Nichts davon konnte die Syriza-Regierung durchführen, weil all das nicht nur jenseits ihrer politischen Konzeption lag, sondern auch außerhalb ihrer Weltanschauung.

Seither wurde offensichtlich, wovor Viele, inklusive des Autors dieser Zeilen, schon lange gewarnt hatten: Weder eine „Bewegungsstruktur“ noch eine gut vernetzte Organisation oder irgendwelche Vorzüge des Informationszeitalters immunisieren gegen die Usurpation der Autorität durch die Führung in einer Organisation, gegen Intrigen und Manipulation.

Noch schlimmer ist es, wenn derartige Strukturen auf informellen Prozeduren basieren oder umgekehrt unbegrenzte Demokratie gefordert wird, die in politischen Situationen nicht verwirklicht werden kann, in denen Entscheidungen rasch gefällt werden müssen. So etwas ist im Grunde nicht demokratischer, sondern noch undemokratischer als die alten verbürokratisierten und strikt formalisierten Hierarchien der Arbeiterorganisationen und linken Organisationen. Unter den Bedingungen der verschärften Krise zeigte sich, dass drei bis vier Menschen einfach alles in der Partei diktieren können.

Sowohl der Verrat von Tsipras als auch die Hilflosigkeit von Varoufakis in ihrer Rolle des praktischen Politikers sind nicht zufällig. Sie waren logische Folgen ihres politischen Ansatzes; eines Ansatzes, der auf ideologischen und kulturellen Prinzipien basiert, die unter den Linken triumphierten, nachdem die Traditionen der „alten Linken“ ― sowohl der sozialdemokratischen wie der kommunistischen ― weit zurückliegende Vergangenheit geworden waren.

Statt der Einheit von Organisation und Programm eine schöngeistige Ideologie der „Vielzahl von Alternativen“

An die Stelle der Einheit von Organisation und Programm, die den Kern der alten linken Politik bildete, kam die Ideologie der „Vielzahl an Alternativen“. Aber diese Ideologie kann nur in den Köpfen schöngeistiger Intellektueller und naiver Studenten operieren, denen sogar der Sinn für politische Verantwortung abgeht.

Wenn ihr eine echte Umwandlung wollt, dann muss nicht nur eine Alternative ausgewählt werden, zu deren Verwirklichung man alle Kräfte einsetzen muss, sondern es ist auch unvermeidlich, entschieden alle übrigen Varianten und „Alternativen“ zu verwerfen und, wenn nötig, mit ihnen zu kämpfen. Das Gesetz des politischen Kampfes wie auch das Gesetz des Krieges ― ist die Konzentration aller Kräfte.

Auf widersprüchliche Weise kehrten die Ideologen und Anführer von Syriza, die von der Ideologie der „Vielzahl an Alternativen“ ausgegangen waren, zur faktischen Anerkennung der Formel von Mrs. Thatcher zurück: There is no alternative.

Genau das stellte Varoufakis im Grunde fest, als er verkündete, dass er in der gegenwärtigen Situation keine Alternative zur Unterwerfung unter die Logik des Systems sehe. Diese ideelle Kapitulation kam sogar noch vor der politischen Kapitulation zustande. Und letztlich wurde sie durch die Illusionen der „radikalen Linken“ vorherbestimmt, wonach man ein wenig kämpfen und die Macht übernehmen könne, ohne die Verantwortung auf sich zu laden.

Wenn solch eine tragische Situation nur für Griechenland charakteristisch wäre, dann wäre das traurig, aber nicht katastrophal. Allerdings versucht ein signifikanter Teil der Linken in anderen Ländern, Syriza trotz allem zu rechtfertigen und den armen Tsipras zu bemitleiden, der zum Opfer einer Erpressung geworden sei, oder ihm einen geheimen „Plan B“ vorzuschlagen, der vom griechischen Premier überhaupt nicht in Betracht gezogen wird.

Auf den ersten Blick liegt der Grund für so eine merkwürdige Reaktion darin, dass sich die eigentümlichen politischen Positionen und Ansätze vieler jener, die heute fassungslos sind, kaum von den Ansätzen Syrizas unterschieden haben. Sich im vollen Umfang zum Bankrott dieser Politik zu bekennen, heißt entweder, sich zum eigenen Bankrott zu bekennen oder einen prinzipiell anderen Ansatz zu wählen, der einen unvermittelten, schroffen Bruch mit den üblichen Formeln darstellt, deren Wiederholung es einem ermöglicht, bequem im Rahmen des neoliberalen Systems zu funktionieren und sich gleichzeitig als unversöhnlichen Kämpfer gegen jenen darzustellen.

Dazwischen liegt der point of no return ― und nicht nur in Griechenland, sondern auch auf gesamteuropäischem Maßstab. Der Zusammenbruch Syrizas und die Spaltung der Linken anhand der Haltung zur russisch-ukrainischen Krise markiert keinen geringeren Umbruch in der Geschichte der linken Bewegung als es der Zusammenbruch der Zweiten Internationale 1914 war.

Es ist unmöglich, gegen den Neoliberalismus und für die Europäische Union zu sein

Die wichtigste Frage im gegebenen Fall ist die Frage des Verhältnisses zur Europäischen Union. Genau an dieser Stelle kann man noch eine methodologische Wurzel des Zusammenbruchs der „Eurolinken“ ausfindig machen. Die EU ist nichts anderes als eine institutionalisierte Verkörperung des Neoliberalismus. Es ist unmöglich, gegen den Neoliberalismus und für die Europäische Union zu sein, sogar wenn sie „reformiert“ wird, denn der systemische Sinn dieser Organisation besteht gerade in der Verhinderung jeglicher progressiver Reformen. Das wäre dasselbe wie ein Eintreten für die Reformierung der Heiligen Allianz im Interesse der Demokratie im Jahre 1848.

Letztlich ist die tiefe methodologische Wurzel der ideellen Krise die Übernahme der libertären (neoliberalen) Logik durch einen signifikanten Teil der westlichen Linken (und ihrer russischen Imitatoren) vor dem Hintergrund ihrer öffentlichen Verleugnung. „There is no such thing as society“, sagte Mrs. Thatcher. Es gibt keine Gesellschaft.

Es ist genau wie Michael Bulgakow es ausdrückte: „Wo du auch hinlangst, nichts gibt [es]!“. Weder eine Alternative noch eine Gesellschaft… Es versteht sich, dass die Linken sich empört und gestritten haben. Aber wie im Falle des Aphorismus Thatchers über die Nichtexistenz von Alternativen entsprang die gesellschaftliche Methodologie eines signifikanten Teils der Linken der 1990er und besonders der 2000er Jahre aus derselben Logik, nur erkannte man das nicht öffentlich an.

Die Gesellschaft als Ganzes und noch mehr die Vorstellung von Perspektiven ihrer ganzheitlichen Entwicklung, mit seltenen Ausnahmen, figurieren nicht einmal mehr in der Rhetorik, ganz zu schweigen von den Programmen und der Propaganda der linken Organisationen. Die Vorstellung der Gesellschaft als eines Gesamtkomplexes von „Multitudes“, wie er in den Büchern von Tony Negri und Michael Hardt verlautbart wird, hat sich faktisch unter jenen verbreitet, die gegen sie ironisiert hatten. Die Verteidigung der Minoritäten, deren Auflistung ständig angewachsen ist, nahm einen zentralen Platz in ihrer Agenda ein und verdrängte letztlich die Konzeption der ganzheitlichen Gesellschaftsentwicklung, die der Eckstein der Ideologie der „alten“ Linken ― sowohl in ihrer kommunistischen wie in ihrer sozialdemokratischen Variante ― war.

Daneben lassen sich die Interessen der Gesellschaft nicht auf die Summe der Interessen ihrer Mitglieder reduzieren und noch weniger auf die der Minoritäten. Diese Idee ist von prinzipieller, zentraler Bedeutung für alle radikalen Bewegungen im Sinne „klassischer“ Politik ― von den Jakobinern bis zu den Bolschewiken. Nun wird sie vollständig ignoriert. Das Verständnis des Fortschritts als des Gemeinwohlinteresses ist vergessen und wird tatsächlich „klammheimlich“ abgelehnt. Bei Marx war gerade der gesellschaftliche Fortschritt die Hauptaufgabe der Bewegung und ließ sich nicht einmal auf das Interesse der „fortgeschrittensten Klasse“ reduzieren.

Im Gegenteil ist diese oder jene Klasse gerade deswegen „fortschrittlich“, weil in der jeweiligen geschichtlichen Etappe ihre Interessen auf ihrer höchsten Stufe mit dem Interesse der Gesellschaftsentwicklung zusammenfallen.

Man kann über die Aufgaben dieser Entwicklung streiten. Allerdings liegt das Malheur nicht darin, dass die gegenwärtigen Linken unvollständige oder inkorrekte Antworten geben, sondern darin, dass sie diese Fragen nicht einmal aufstellen.

Wir hatten einen Orientierungspunkt für den gesellschaftlichen Fortschritt, der in der Epoche der Aufklärung noch gegeben war. An seiner Wurzel lag die Idee der gesellschaftlichen Integration und des Zusammenschlusses der Menschen (in diesem Sinne ist die Gleichheit gerade ein Mittel und nicht das Ziel). Das Bestreben, die Gesellschaft aufs Äußerste in bestimmte Gruppen einzuteilen, die als Minoritäten untereinander konkurrieren sollen; die gemeinsame Strategie der komplexen, gesellschaftlichen Umwandlung in mehrheitlich nicht mit einander verbundene Aufgaben und in eine „zahllose Vielzahl an Alternativen“ einzuteilen, bedeutet eine Abwendung von der praktischen Möglichkeit eines Auswegs aus dem Kapitalismus und sogar aus dem Neoliberalismus, was im Übrigen auch Varoufakis konstatiert hat.

Der Neoliberalismus spaltet und fragmentiert die bürgerliche Gesellschaft sogar über die geläufigen kapitalistischen Klassen hinaus, stellt die Partikular-, Privat- und Gruppeninteressen sogar über die allgemeinen Entwicklungsfragen, die sich aus der Natur der bürgerlichen Gesellschaft ergeben und verneint Solidarität sogar in der Gestalt, in der die Klassiker des Liberalismus von Smith bis Schumpeter sie akzeptiert hatten. Diese Ideologie und Praxis ist heute die extreme Verkörperung der antisozialen Reaktion, die nunmehr jegliche Gesellschaft ― und sogar die kapitalistische ― zerstört.

Man kann die Strategie des bewussten Kampfes für den Fortschritt entweder mit Untätigkeit und ohnmächtiger Desorientierung oder mit dem Übergang auf die Seite der Reaktion ersetzen. Die Syriza-Regierung durchlief nacheinander beide Etappen. Zuerst konnte sie dem Neoliberalismus nichts entgegensetzen. Sodann wurde sie zur Vollstreckerin seiner Agenda.

Die ungeplante Zerstörung der Gesellschaft, die aus der Realisierung der neoliberalen Agenda erwuchs, macht die Existenz einer europäischen Demokratie in der Form unmöglich, in der sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg dank des Sieges über den Faschismus entwickelt hat. Der lange Marsch durch die Institutionen, zu dem sich die Ideologen der neuen Linken Ende der 1960er Jahre bekannten, führte zu nichts, insofern sich im Verlauf der Dinge die Institutionen selbst radikal verändert haben, dysfunktional, simulativ, machtlos oder zu ihrem eigenen Gegenteil verkehrt wurden. Zudem hat der Neoliberalismus gerade die Institutionen des Sozialstaates demontiert, mit denen die Linken ihren „langen Marsch“ gepflastert haben.

Die Krise des Neoliberalismus droht in einen allgemein-europäischen Bürgerkrieg zu münden

Zum Glück ist das bisher ein beginnender Krieg ― ein kalter Krieg, wenn auch der Donner der Explosionen im Donbass veranschaulicht, dass er zumindest lokal gänzlich zum heißen Krieg werden kann. In der Praxis ist die „taktische“ Entscheidung, unter Bürgerkriegsbedingungen Bundesgenossen zu wählen leider die strategische Wahl des eigenen Schicksals.

Nach dem Zusammenbruch von Syriza und der Spaltung der Ukraine wird sich die künftige linke Bewegung auf die Höhe der Bereitschaft zum Widerstand gegen die neoliberale Offensive wider die Gesellschaft aufschwingen, die im Inneren der einzelnen Länder wie auch auf globaler Ebene im Sinne der kriegerischen und politischen Expansion der NATO, der Europäischen Union und der USA vor sich gehen. Der Wiederaufbau der linken Bewegung wird eine zugleich ideelle und organisatorische Aufgabe sein, wobei die eine von der anderen nicht zu trennen ist.

Als ein Zeichen für den beginnenden Prozess der Rekonfiguration der linken Bewegung kann man die Konferenz von Delphi[1] betrachten, die in genau den Tagen stattfand, an denen die in Panik geratene Regierung in Athen zwischen unterschiedlichen Szenarien der Kapitulation wählte. Die Organisatoren der Initiative von Delphi konnten nicht nur einen Begriff von der Verbindung der Krise in Russland mit der Krise in Griechenland ziehen, sondern auch die Frage der Notwendigkeit des Kampfes um die Rettung Europas vor der Europäischen Union aufstellen.

Hier möge man sich an die Zimmerwalder Konferenz[2] erinnern, die nicht nur eine Antwort der linken Sozialisten auf den imperialistischen Krieg war, sondern auch ein Versuch, neue politische Orientierungspunkte nach dem Zusammenbruch der Zweiten Internationale zu formulieren. Die Sozialisten, die nach Zimmerwald gingen, hatten keinerlei Massenorganisationen hinter sich, noch hatten sie einen politischen Apparat oder Ressourcen, aber im Verlauf von zwei, drei Jahren veränderte sich die Situation radikal zu ihren Gunsten. Ist eine Wiederholung solch eines Ereignisses in unserer Zeit möglich?

Das Ereignis von Zimmerwald war nicht aus sich selbst heraus bedeutend, nicht als erfolgreiche Konferenz, sondern deswegen, weil danach das russische Jahr 1917 folgte, das die Möglichkeit einer praktischen Umsetzung von Ideen und Prinzipien eröffnete, welche die Teilnehmer jener Diskussion zu finden suchten.

Was mit uns in zwei, drei oder gar in fünf, sechs Jahren sein wird, das können wir nicht wissen. Aber eines ist offensichtlich: Die Epoche der „friedlichen“ Entwicklung hat ein Ende genommen.

Unter den neuen Bedingungen sind neue Menschen, neue Organisationen und eine neue Politik erforderlich. Es ist an der Zeit, die modischen Bücher von Foucault, Negri und Zizek abzulegen, um in der Praxis zu überprüfen, wie gut wir uns die Lehren von Lenin, Keynes und Macchiavelli angeeignet haben.

Quelle: www.heise.de vom 18. August 2015

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