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Warum wird Putin bislang nur die Deportation von Kindern vorgeworfen?

Eingereicht on 20. März 2023 – 12:11

Florian Rötzer. Einen Tag vor dem Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs hat UN-Untersuchungskommission ihren teilweise hinterfragbaren Bericht über die Kriegsverbrechen in der Ukraine vorgelegt.

Die vom UN-Menschenrechtsrat beauftragte Untersuchungskommission für die Ukraine unter Leitung von Erik Møse (Norwegen) hat am Donnerstag ihren zweiten Bericht über Kriegsverbrechen vorgelegt. Danach haben Russen die weitaus meisten Vergehen begangen, viele davon seien Kriegsverbrechen. Auch Ukrainer hätten mögliche Kriegsverbrechen begangen, aber nur wenige (limited number).

Es geht vor allem um Angriffe mit Explosivwaffen in bevölkerten Gebieten, aber auch um Tötungen von Zivilisten, illegale Inhaftierungen, Folter, Vergewaltigung und andere sexuelle Gewalt, zudem illegale Verschleppungen und die Deportation von Kindern.

Das scheint das Vorspiel für den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) gewesen zu sein, am Tag danach einen Haftbefehl für den russischen Präsidenten Wladimir Putin und Maria Lwowa-Belowa, Kinderrechtskommissarin der Präsidialverwaltung, erlassen zu haben. Und die Bekanntgabe erfolgte am selben Tag, als von Moskau der Besuch von Xi Jinping bestätigt wurde. Ganz offensichtlich ist die von US-Präsident Biden begrüßte Ausstellung des Haftbefehls ein Zeichen dafür, dass man im Westen mit Putin nicht verhandeln will und man darauf setzt, dass er in Moskau in Ungnade fällt, wenn man dort auf eine Wiederannäherung an den Westen setzen sollte. Der deutsche Justizminister Buschmann hat schon angedroht, Putin zu verhaften, sollte er nach Deutschland kommen. Interessant wird, was geschehen wird, wenn Putin am G20-Gipfel in Indien, das nicht Mitglied des Strafgerichtshofs ist, teilnehmen sollte. Für den Internationalen Strafgerichtshof könnte der Haftbefehl zu einer Rohrgranate werden, sollte er ohne Wirkung bleiben und Verhandlungen dann doch mit Putin stattfinden.

Der Chefankläger des ICC, der Brite Karim Khan, erklärte: „Auf der Grundlage der von meinem Büro im Rahmen seiner unabhängigen Ermittlungen gesammelten und analysierten Beweise hat die Vorverfahrenskammer bestätigt, dass es hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass Präsident Putin und Frau Lvova-Belova strafrechtlich für die unrechtmäßige Deportation und Verbringung ukrainischer Kinder aus den besetzten Gebieten der Ukraine in die Russische Föderation verantwortlich sind.“ Khan spricht von „mindestens hunderten Kindern“, die aus Waisenhäusern oder Kinderheimen deportiert worden seien. Russland sagt, sie seien aus dem Kriegsgebiet gerettet worden.

Putin habe es im Mai 2022 durch Dekrete erleichtert, dass Kinder die russische Staatsbürgerschaft erhalten, um Adoptionen zu beschleunigen. Das zeige die Absicht, die Kinder dauerhaft aus der Ukraine herauszuholen. Die Haftbefehle bleiben angeblich zum Schutz der Kinder und zur Sicherung der Ermittlungen geheim. Dass trotzdem die Ausstellung der Haftbefehle öffentlich bekannt gemacht wurde, wird damit begründet, dass dies dazu dienen könnte, weitere Verbrechen zu verhindern.

Der Internationale Strafgerichtshof und die USA

Interessant ist, dass der ICC die Verschleppung von Kindern aus den vielen anderen Vorwürfen von Kriegsverbrechen herausnimmt. Das könnte womöglich damit zu tun haben, dass Angriffe mit Explosivwaffen auf bevölkerte Gebiete, Tötung von Zivilisten, illegale Inhaftierungen, Folter, sexuelle Gewalt und illegale Verschleppungen von Erwachsenen auch den USA und der Koalition der Willigen vor allem in Afghanistan und im Irak gut begründet vorgeworfen werden kann. Ermittlungen gegen Bush, Cheney und Rumsfeld wurden nie eingeleitet.

Noch dazu hat Washington den ICC mit Sanktionen gegen die damalige Chefanklägerin des Gerichts, Fatou Bensouda, und ICC-Abteilungsleiter Phakiso Mochocho sowie Visaeinschränkungen für Mitarbeiter erpresst, die Ermittlungen gegen amerikanische Soldaten und CIA-Mitarbeiter einzustellen. In Dutzenden von Fällen wurden ihnen vorgeworfen, Festgenommene gefoltert, grausam behandelt, entwürdigt und vergewaltigt zu haben. Bei den CIA-Agenten erstreckte sich die Anklage nicht nur auf Afghanistan, sondern auch auf Polen, Rumänien und Litauen, wo der US-Geheimdienst Menschen in Geheimgefängnissen (black sites) verschleppt und inhaftiert hatte.

Im April 2019 lehnte, wohl auf Druck der US-Regierung, die zweite Kammer die Aufnahme von Ermittlungen mit der Begründung ab, dass eine Anklage, obgleich der Bericht von Bensouda eine solche rechtfertigen würde, keinen Sinn mache. Der ICC müsse seine Ressourcen einteilen und sich auf Fälle konzentrieren mit größeren Erfolgsaussichten. Bensouda legte erfolgreich Widerspruch ein. Der damalige US-Außenminister Mike Pompeo hatte 2018 den ICC als „kaputte und korrupte Institution“ bezeichnet, Sicherheitsberater John Bolton kündigte an, man werde „mit allen Mitteln vorgehen“, sollten die Ermittlungen weiter geführt werden.

Ein halbes Jahr nachdem der Brite Karim Khan als neuer Chefankläger Bensouda abgelöst hatte, zog er einen Schlussstrich und sagte, die Klagen gegen die Amerikaner und afghanischen Sicherheitskräfte müssten aufgrund Ressourcenmangels „depriorisiert“ werden, man müsse sich dafür auf die Verbrechen in der Jurisdiktion des Gerichts konzentrieren. Warum das in Afghanistan nach der Machtergreifung der Taliban leichter sein soll, bleibt ebenso ein Rätsel wie dann auch die Aufwendung großer Ressourcen für Ermittlungen gegen Russland, das ebenso wie die USA Nicht-Mitglied ist und den Strafgerichtshof ablehnt. Damit hat Khan auch jedes Vertrauen verspielt, dass der Internationale Strafgerichtshof unabhängig und unbeeinflusst vorgeht (Der Internationale Strafgerichtshof stellt Untersuchung über amerikanische Kriegsverbrechen in Afghanistan ein).

Völkermord ist vorerst vom Tisch

Interessant an dem UN-Bericht ist, dass der vielfach von der Ukraine und dem Westen erhobene Vorwurf des Völkermords nicht unterstützt wird. Man habe dafür keine Belege gefunden, sagte der Leiter der unabhängigen internationalen UN-Untersuchungskommission für Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine, Eric Mose: „Wir haben keinen Völkermord in der Ukraine festgestellt.“ Allerdings sagte er auch, dass es einige Hinweise gebe, die über einen möglichen Völkermord Fragen aufwerfen könnten.

Nach Angaben der Berichtsautoren ist die Kommission achtmal in die Ukraine gereist und hat 56 Städte und Siedlungen besucht. Es wurden 610 Interviews mit 595 Personen persönlich auf Distanz geführt, zerstörte Orte, Gräber, Gefängnis- und Folterzellen sowie Überreste von Waffen besichtigt und Dokumente Fotos, Satellitenbilder und Videos einbezogen.

Kritische Aspekte des UN-Berichts

Zieht man beispielsweise die Ergebnisse für den Einsatz von Explosivwaffen heran, die nicht auf militärische Ziele ausgerichtet waren oder mit denen nicht zwischen militärischen Zielen und in der Nähe liegenden zivilen Objekten unterschieden werden konnte. Damit sind ungesteuerte Bomben gemeint, die von Flugzeugen abgeworfen werden, ungenaue Antischiffraketen (Kh-22 oder Kh-32), Streubomben oder Mehrfachraketenwerfer, die ein großes Gebiet mit ungenauen Raketen beschießen. Explosivwaffen seien für 90 Prozent der untersuchten zivilen Opfer verantwortlich.

Nach den Angaben wurden Orte unter ukrainischer und unter russischer Kontrolle untersucht, allerdings nicht, an welchen Mitarbeiter der Kommission waren. Es heißt, dass die von russischen Truppen geführten oder wahrscheinlich geführten Angriffe, die untersucht wurden, großenteils ungerichtet waren, also nicht zwischen militärischen und zivilen Objekten unterschieden hätten. Als Beispiele werden das Theater in Mariupol, der Bahnhof in Kramatorsk und das Einkaufszentrum in Krementschuk genannt. Eingeräumt wird, dass Donezk und Mariupol nicht besucht werden konnten, weswegen es keine ausreichende Datenbasis gebe, ob die Bombardierung und Belagerung der Stadt ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt.

Nicht erwähnt wird allerdings, ob zahlreiche Angaben als falsch zurückgewiesen werden können, dass ukrainische Truppen sich in zivilen Gebäuden verschanzt, solche beschossen und bei der Verteidigung auch mit schweren Waffen zivile Objekte getroffen haben. Erwähnt wird auch nicht, dass vor allem Donezk, aber auch Lugansk immer wieder von ukrainischer Seite beschossen wurden und werden, wobei es ebenfalls Tote und Verwundete gab und gibt. Schließlich dokumentiert OHCHR selbst, dass es auch tote und verletzte Zivilisten „auf dem Gebiet der selbsternannten ‚Republiken‘“ gibt. Dabei fällt auf, dass abgesehen von den „Republiken“ keine Opferzahlen für die russisch besetzten Gebiete gegeben werden.

Die Zivilisten der einen und die der anderen

Der Hinweis auf zivile Opfer in den „Republiken“ würde die Vorwürfe gegen russische Angriffe auf zivile Objekte nicht entkräften, aber doch auch eher zeigen, dass man gewillt ist, tatsächlich alle Kriegsverbrechen auf völkerrechtlich ukrainischem Gebiet zu untersuchen. Da man das Theater in Mariupol als Beispiel verwendet, obgleich man die Stadt nicht besuchen konnte, dürfte es auch nicht hinreichend sein zu sagen, dass es nicht möglich gewesen sei, mit russischen Behörden eine „sinnvolle Kommunikation“ zu führen, während man sich  ukrainischen Behörden gegenüber dankbar für den Zugang und schriftliche Antworten auf Anfragen zeigt.

Die vom ukrainischen Geheimdienst organisierten und teils tödlichen Anschläge auf „Kollaborateure“ etwa in Cherson ließ man außen vor. Erwähnt wird in dem Bericht nach den Vorwürfen gegen Russland wegen der Inhaftierung, Misshandlung, Folter und Exekution von Ukrainern in den besetzten Gebieten, dass es auch auf Seiten der Ukraine Probleme im Umgang mit vermeintlichen Kollaborateuren gibt, im Übrigen ein Problem, das nicht mehr zu übersehen sein dürfte, sollte die Ukraine weitere Gebiete „befreien“. Der Bericht spricht von Tausenden von Ermittlungen gegen Kollaborateure, hat aber hier nicht wirklich selbst die Vorwürfe untersucht oder untersuchen wollen: „Es gibt Behauptungen, dass in der Haft ukrainischen Behörden Folter und Misshandlung begangen, Verfahrensrechte verletzt und Personen unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten haben. Zeugen berichteten von Schlägen, Scheinhinrichtungen und Drohungen, dem Häftling oder seiner Familie zu schaden. In einigen Fällen gab es Berichten zufolge keine Haftbefehle, und einige Häftlinge wurden teilweise mehrere Tage lang ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten. Sie berichteten von Schlaf- und Nahrungsentzug.“

Man sei besorgt über diese Anschuldigen, habe sie aber nicht überprüfen können. Ein Grund wird nicht genannt. Empfohlen werden weitere Untersuchungen. Solche Formulieren lassen Misstrauen entstehen, dass sehr einseitig ermittelt wurde. Zumal es Berichte gibt, dass „Kollaborateure“ auch ohne offizielle Inhaftierungen gefoltert und getötet worden sein sollen, wie beispielsweise Daily Mirror im Oktober berichtete und Anton Geraschtschenko, Berater des Innenministeriums, zitierte: „Es ist eine Jagd auf Kollaborateure ausgerufen worden und ihr Leben ist nicht durch das Gesetz geschützt. Unsere Geheimdienste eliminieren sie und erschießen sie wie Schweine.“ Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus Cherson veröffentlichte am 6. November jemand von der 35. Marinebrigade der ukrainischen Streitkräfte auf Telegram: „Wir werden Kollaborateure auf der Stelle verurteilen. Wir werden nicht versuchen, sie herauszufinden.“ Später ist die Rede von einer „nächtlichen Jagd“ und dass die Verfolgung von Kollaborateuren privat erfolge, nicht vom Kommando aus.

Der UN-Bericht gibt der Ukraine die Empfehlung: „Harmonisieren Sie die Rechtsvorschriften in Bezug auf Kriegsverbrechen, wo sie nicht mit internationalen Maßstäben übereinstimmen,  und ergänzen Sie das Strafgesetz, um die Definition des Begriffs ‚kollaborative Tätigkeit‘ zu klären, um Rechtsunsicherheit und Schäden für den sozialen Zusammenhalt zu vermeiden.“ Russland wird übrigens empfohlen, den Einsatz von privaten Militär- und Sicherheitsdiensten zu begrenzen, weil diese mit den regulären Truppen in Konkurrenz liegen und weniger zur Verantwortung herangezogen werden können. Dies nicht gegenüber den zahlreichen ukrainischen Freiwilligenverbänden zu erwähnen, zeugt auch von einer eingeschränkten Objektivität.

Quelle: overton-magazin.de… vom 20. März 2023

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