Nicaragua: Menschenrechte als Mittel für Regime Change?
Rudi Kurz. UN-Menschenrechtsbericht stößt auf deutlichen Protest. Kritiker bezeichnen ihn als einseitig und voller Falschinformationen.
Die Nicaragua Solidaritäts-Koalition richtete vergangene Woche die Aufforderung an den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (United Nations Human Rights Council, UNHRC), ihren Anfang des Monats veröffentlichten Bericht der „UN-Expertengruppe für Menschenrechte zu Nicaragua“ (GHREN) zurückzuziehen. In der Erklärung heißt es, der Bericht basiere nur auf dem Material von einer Seite in einem schweren und lang anhaltenden Konflikt. Dies trotz der Vorgabe, alle mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen, die seit April 2018 in Nicaragua begangen wurden.
Weiter heißt es, der Bericht stelle viele Behauptungen auf, die nachweislich falsch seien und einer einfachen Überprüfung der Fakten nicht standhielten. Zum Nachweis wurde von den Initiatoren umfangreiches Material veröffentlicht, das viele Ereignisse im Zusammenhang mit dem Versuch eines Aufstandes gegen die Regierung Nicaraguas 2018 beleuchtet. Mit dem vom UNHRC veröffentlichten Bericht werde ein multilaterales Menschenrechtsgremium benutzt, um der Kampagne für einen Regimewechsel Legitimität zu verleihen und Sanktionen zu rechtfertigen.
Die UN-Menschenrechtskommission (United Nations Commission on Human Rights, CHR) war während der als Aufstand oder Putschversuch bezeichneten Ereignisse im Frühjahr 2018 von der Regierung Nicaraguas ins Land gerufen worden. Etwa drei Monate lang hatten damals Protestierende Straßensperren errichtet und den Rücktritt der Regierung gefordert. Es kam von beiden Seiten zu vielfältigen Menschenrechtsverletzungen und zu über 200 Toten. Schon damals gab es zwischen der Kommission und der Regierung von Präsident Daniel Ortega Differenzen über die Beurteilung der Vorfälle und Verantwortlichkeiten, sodass diese Anfang September 2018 das Land verlassen musste (amerika21 berichtete).
Eine von der Regierung eingesetzte Kommission für Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden (CVJP) kam zu dem Ergebnis, dass insgesamt im Zusammenhang mit den gewaltsamen Ereignissen 251 Personen starben, 229 Zivilisten und 22 Polizisten. Eine umfangreiche Beschreibung der komplexen Situation in Nicaragua von James Philips, in der auch Finanzierungen und Verwicklungen ausländischer Akteure detailliert beschrieben wurden, hatte amerika21 im Oktober 2018 veröffentlicht.
Die UN-Expertengruppe zu Nicaragua ‒ bestehend aus dem Rechtswissenschaftler Jan-Michael Simon (Deutschland) und der Juristin Ángela Maria Buitrago (Kolumbien) ‒ untersuchte laut ihrem Bericht 142 Einzelfälle und prüfte dazu Sekundärquellen, um die gesammelten Informationen zu untermauern und zu kontextualisieren. Laut den beiden Autoren wurden mehr als 160 vertrauliche Dokumente und Datenbanken verwendet, die von internationalen Einrichtungen und Menschenrechtsorganisationen zur Verfügung gestellt wurden.
Zu ihrer Arbeitsweise heißt es weiter, dass sie angesichts der Komplexität der Fakten, der zeitlichen Beschränkungen und des fehlenden Zugangs zum Land nicht in der Lage waren, auf alle Fakten und mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen und -verstöße einzugehen, über die berichtet wurde.
Bei 115 von der GHREN analysierten Todesfällen stellte sie fest, dass es sich in 77 Fällen um Demonstranten handelte, in 24 Fällen um Personen in der Nähe der Protestorte, in vier Fällen um Polizeibeamte, in zwei Fällen um humanitäre Hilfe leistende Personen, einen Journalisten und sechs unklare Fälle. In den Schlussfolgerungen des Berichtes heißt es, dass Präsident Ortega, Vizepräsidentin Rosario Murillo, Vertreter und Beamte verschiedener Behörden und Strukturen der Regierung und nichtstaatliche Akteure „schwere und systematische Menschenrechtsverletzungen“ begangen hätten.
Die Pressemitteilung zu dem Bericht titelt: „Nicaragua: Verbrechen gegen die Menschheit werden aus politischen Gründen an Zivilisten begangen, besagt Untersuchung“
Während die Berichte der CVJP alle einzelnen Todesfälle im entsprechenden Zeitraum auflisten und den überprüfbaren Zusammenhang mit Ort und Datum beschreiben, enthält der veröffentlichte GHREN-Bericht kaum zuordenbare Informationen. In seiner Analyse des Berichts schreibt Stephen Sefton, es werde darin außer acht gelassen, dass es schon zu Beginn der Proteste zu gewalttätigen, gut organisierten Angriffen hunderter bewaffneter oppositioneller Aktivisten kam. Der Bericht biete keine glaubwürdige Erklärung, warum zwischen dem 18. April und dem 17. Juli 2018 400 Polizeibeamte Schussverletzungen erlitten, 22 Polizisten und über 60 Anhänger der regierenden Sandinisten getötet und viele Hunderte verletzt wurden.
Weiter schreibt Senfton, dass der Bericht Anschuldigungen und Behauptungen „von Anhängern und Mitgliedern der US-finanzierten politischen Opposition und lokaler Nichtregierungsorganisationen“ ohne unabhängige und verlässliche Bestätigungen wiederhole. Zeugenaussagen von Hunderten von Opfern von Gewalt und Übergriffen der Opposition würden genauso ausblendet wie Beweise, die von den nicaraguanischen Behörden wiederholt vorgelegt wurden und die Anschuldigungen widerlegten.
Die schwerwiegendste Auslassung von GHREN ist laut Senfton das Fehlen aller Hinweise auf die Angriffe von Hunderten von Oppositionsanhängern am 19., 20. und 21. April mit dem Einsatz von Schusswaffen und Molotowcocktails in Managua, León, Masaya, Chinandega, Jinotepe, Diriamba, Granada, Estelí und weiteren Orten. Lokale Medien hätten ausführlich über diese Serie von Angriffen berichtet.
Ungeachtet der inhaltlichen Schwächen des GHREN-Berichts versuchen US-Institutionen, die darin vorgetragene Bewertung der Lage in Nicaragua für ihre Forderungen nach weiteren Strafmaßnahmen gegen Nicaragua zu nutzen.
Die Ausschüsse des US-Senats für auswärtige Beziehungen und des Repräsentantenhauses für auswärtige Angelegenheiten haben am 17. März formelle Schreiben an die Staatsoberhäupter von Guatemala, Honduras, El Salvador und Costa Rica gerichtet. Darin drängen sie darauf, dass „ihre Regierung ihre Stimme und ihr Stimmrecht“ als Anteilseigner und Gründungsmitglieder der Zentralamerikanischen Bank für wirtschaftliche Integration (BCIE) nutzen, um „sicherzustellen, dass die Kreditvergabe der Bank nicht die Konsolidierung der nicaraguanischen Diktatur fortführt“.
Die BCIE hatte sich in den letzten Jahren zur wichtigsten Kreditquelle für Nicaragua entwickelt, vor allem für Sozialprojekte und den Ausbau des Straßennetzes. Auch der aktuelle Ausbau des Hafens von Bluefields wird durch BCIE-Kredite finanziert. Darüber hinaus pflegt Nicaragua aber auch mit der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank positive Kreditbeziehungen.
Quelle: amerika21.de… vom 16. April 2023
Tags: Imperialismus, Lateinamerika, Nicaragua, Repression, USA
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