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Perú an der Jahreswende 2018/19

Eingereicht on 16. Januar 2019 – 12:34

Helmut Dahmer. Nachrichten aus Perú (wie überhaupt aus Lateinamerika) sind in der deutschen Presse und im deutschen Fernsehen selten, zumeist beschränkt auf Naturkatastrophen, Unfälle und Epidemien. Entsprechend verhält es sich in Perú mit der Berichterstattung über Deutschland und Europa.

Über unserer Gegenwart liegt der Schatten der Geschichte. In Perú handelt es sich um die Folgen der Eroberung und Zerstörung der planwirtschaftlich organisierten, bronzezeitlichen Hochkultur des Inka-Reichs[1], die weder das Rad, noch das Geld, weder die Schrift, noch das Pulver kannte, durch ein paar Hundert technisch überlegener, katholisch geprägter spanischer Desperados und Goldsucher im frühen 16. Jahrhundert. Diese „Conquista“ begründete die 500 Jahre währende Herrschaft einer „weißen“ Minderheit über die indianische, zumeist Ketschua sprechende Mehrheit. Wiederholte Revolten aktiver Minderheiten dieser Mehrheit wurden jeweils mit brutaler Militärgewalt niedergeschlagen. Dieser Indio-Aufstände wird heutzutage in Perú ebenso gedacht wie des Unabhängigkeitskriegs gegen Spanien im frühen 19. Jahrhundert und des „Salpeterkriegs“ gegen Chile (1879). Versuche, die relative Rückständigkeit des Landes, das vor allem vom Export seiner Bodenschätze und Agrarprodukte lebt, zu überwinden, sich aus der Abhängigkeit von den fortgeschrittenen Gläubigerstaaten zu lösen und das Regime der einheimischen Kompradoren-Bourgeoisie zu überwinden, sind, wie in den meisten Ländern der „Dritten Welt“, bisher gescheitert. In den vergangenen Jahrzehnten wurden in Perú in rascher Folge alle erdenklichen Herrschaftsformen ausprobiert. Die linksnationalistische Junta des Generals Velasco versuchte sich in den Jahren 1968-1975 an einer (gescheiterten) Bodenreform. Die terroristisch-„maoistische“ Guerilla-Bewegung Sendero Luminoso drohte in den achtziger und neunziger Jahren, vom andinischen Hochland aus die Städte zu erobern. Die damaligen Präsidenten Alan Garcia und Alberto Fujimori (der 1992 kurzerhand das Parlament auflöste und eine achtjährige Diktatur installierte) ließen den Sendero-Aufstand mit furchtbarer Gegengewalt (Todesschwadronen, Massaker, Folter) niederschlagen. Die nach dem Sturz Fujimoris (auf Druck der peruanischen „Memorial“-Gruppe ANFASEP) eingesetzte „Wahrheitskommission“ ermittelte 69.000 Opfer, für die vor allem auch Militär und Polizei verantwortlich waren. Infolge einer Amnestie blieben die Täter straffrei.

Die Präsidialdemokratie, mit deren Hilfe das Land von der Wüstenstadt Lima (einer Gründung Pizarros) aus kontrolliert wird[2], ist seit dem Sturz der Diktatur vor knapp 20 Jahren immer wieder heftigen Erschütterungen ausgesetzt gewesen. Unter wechselnden Präsidenten hat sich die Wirtschaft in dieser Zeit, neoliberaler Doktrin folgend, im ganzen günstig entwickelt, was an der Entwicklung der Hauptstadt, in der die Hochhäuser wie Spargel sprießen, ablesbar ist. Wie in allen Gesellschaften mit zunehmender Polarisierung zwischen verelendeten Paria-Schichten, einer von Proletarisierung bedrohten Mehrheit von abhängig Beschäftigten und einer kleinen Minderheit von (international vernetzten) Finanzkapitalisten ist die Bestechung des politischen Personals (in Legislative, Exekutive und Judikative) für die Aufrechterhaltung des Status quo von entscheidender Bedeutung. Je ärmer das Land, je niedriger also das Pro-Kopf-Einkommen und je größer die soziale Ungleichheit sind, desto erkennbarer werden die Machtverhältnisse. Die traditionellen Parteien und die Funktionseliten der (miteinander verflochtenen) drei Gewalten werden (gut) dafür bezahlt, dass sie die bestehenden Verhältnisse verwalten und deren Veränderung verhindern. In den vergangenen Jahren hat der brasilianische Tycoon Odebrecht, der sich auf den Bau von enormen Infrastruktur-Projekten spezialisiert hat, eine ganze Reihe von süd- und mittelamerikanischen Regierungen mit Hilfe ebenso enormer Schmiergelder dafür gewonnen, jeweils seiner Firma den Zuschlag zu geben. Das eröffnete Präsidenten und Parlamentariern enorme Bereicherungschancen. Und nachdem Odebrecht (2014) verhaftet worden war[3] – eines der wirklichen Wunder im wundergläubig-katholischen Lateinamerika –, wurde nach und nach die Korruption des politischen Führungspersonals in einer ganzen Reihe von lateinamerikanischen Staaten publik. Daraufhin fielen – wie in einem Dominospiel – eine ganze Reihe der von Odebrecht gekauften Präsidenten und Parteifürsten. Einige flüchteten sich ins Exil, andere wanderten ins Gefängnis. In den letzten Jahren ereilte dies Schicksal dann auch die politische „Elite“ Perús. Derzeit sitzt der frühere Diktator Fujimori eine lange Haftstrafe ab; die Ex-Präsidenten Alan Garcia, Humala und P. P. Kuczynski, gegen die Ermittlungsverfahren laufen, dürfen das Land nicht verlassen, und der frühere Präsident Toledo ist in die USA ausgewichen.

Ist ein bestimmter Grad von „Transparenz“ erreicht und sind die „Grundrechte“ nicht (qua „Ausnahmezustand“) außer Kraft gesetzt, ist also die Bevölkerung nicht von Angst gelähmt, dann findet sich bald eine aktive Minderheit, die spontan gegen die bestehende Unordnung und gegen das Personal, das sie verwaltet und von ihr profitiert, rebelliert. Genau das ist – ein zweites „Wunder“ – seit Herbst 2018 in Perú in Gang gekommen. Gegen Jahresende erregten zwei mutige junge Staatsanwälte, die gegen Korruption und Machtmissbrauch nicht nur in den Reihen der Parlamentarier und Parteiführer, sondern auch im Justizapparat selbst vorgehen sollten und das auch wirklich taten, öffentliches Aufsehen. Wie zwei moderne Robin Hoods werden die beiden, Pérez und Vela, seitdem von dem in politische Gärung geratenen Teil der Bevölkerung auf Händen getragen. Und als der Generalstaatsanwalt Chávarry am Silvesterabend 2018 plötzlich beide von dem Geldwäsche- und Korruptions-Fall Odebrecht abziehen wollte, gingen in den Städten des Landes spontan Zehntausende von Protestlern auf die Straße. Nach kurzer Frist musste Chávarry seine Entscheidung wieder zurücknehmen. Doch nun gibt es neue Ermittlungen gegen ihn selbst wegen seines Versuchs, die Übermittlung der die Machtelite belastenden Odebrecht-Akten zu verhindern. Die Demonstranten gingen schon wenige Stunden nach dem Versuch Chávarrys, die Aufdeckung des riesigen Korruptionsskandals zu blockieren, mit folgenden Losungen auf die Straße: „Chávarry, mafioso, hau ab!“ „Alan-Keiko [Fujimori]-Chávarry – nieder mit der Scheißpartie!“; „Domingo [Pérez], amigo, das Volk ist mit Dir!“ In den ersten Januartagen weiteten sich die Proteste aus. In Ayacucho wurde eine Chávarry-Puppe öffentlich verbrannt, andernorts eine ganze Puppengruppe von diskreditierten Limesischen und lokalen Politikern der traditionellen Parteien. Liedermacher traten im Fernsehen mit ad hoc fabrizierten Songs („Raus, raus mit Dir, Chávarry“) auf.

Schluss mit der Korruption!, lautet die Hauptlosung der Massenproteste. Und diese Losung hat es in sich. Denn es genügt ja nicht, ein paar korrupte Politiker abzusetzen und zu bestrafen. Will man die Korruption beseitigen, muss man die unkontrollierte Herrschaft des Finanzkapitals, ihre Voraussetzung, brechen. Der Fall Odebrecht hat neuerlich die Wahrheit über die politischen Regime der Gegenwart – über alle politischen Regime der Gegenwart, die parlamentarischen, also die mildesten, eingeschlossen – an den Tag gebracht: Als vermeintliche Jedermanns-Repräsentanz aller Klassen und Hautfarben verwalten und verteidigen sie die bestehende, fatale Ungleichheit der Lebenschancen. Und die politischen Funktionseliten, die zwischen Staat, Wirtschaft und Armee zirkulieren, werden für eben diesen Job königlich bezahlt. Mit gekauften Parlamenten und Schwarzgeldwahlen wird ein Weltzustand verteidigt, in dem ein Fünftel der Erdbevölkerung in abgeschlossenen irdischen Paradiesen („gated communities“) lebt, ein anderes Fünftel aber in irdischen Höllen vegetiert.

Nachdem sich die großen Revolutionen des vorigen Jahrhunderts, die russische, die chinesische und ihre Nachfolger, in Schreckens- oder in autoritäre Regime verwandelt haben und ihre Machteliten zu kapitalistischem Wirtschaften zurückgekehrt sind, ist der Protest gegen die bestehende Welt-Unordnung wieder (wie in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts) zu einer Angelegenheit kleiner Minderheiten geworden, die wirklich das allgemeine Interesse vertreten und hoffen, dass sie eines baldigen Tages bei Mehrheiten Gehör finden.

Die aktuellen Ereignisse in Perú sind ein aufschlussreiches Beispiel dafür. Sind Parlamente käuflich und ist die Exekutive (wie üblich) außer Kontrolle, so kann unter günstigen Umständen ein Teil der „Dritten Gewalt“ sich der Gleichschaltung widersetzen. Die Namen von Raphael Lemkin oder von Fritz Bauer stehen für diese Möglichkeit. In Perú sind die beiden Juristen Pérez und Vela zu „whistleblowern“ der vom Sog universaler Korruption erfassten drei Gewalten geworden. Und Zehntausende nicht-apathischer, nicht eingeschüchterter Mitbürger*innen haben auf Anhieb verstanden, worum es dabei geht. Auf Straßen und Plätzen haben sie bezeugt, dass sie auf der Seite der beiden Nonkonformisten stehen.

Seit der Französischen Revolution haben revolutionäre Massen wiederholt in die Geschichte eingegriffen. Ihr Gegenstück, die konterrevolutionären oder „massenfeindlichen Massen“[4], haben seit dem frühen 20. Jahrhundert das Interesse von Sozialwissenschaftlern auf sich gezogen. Deren Diagnose lautet, dass im Zuge der Verwandlung einer Gesellschaft von kleinen und mittleren Selbständigen in eine Gesellschaft von abhängig Beschäftigten die Individuation – also die Möglichkeit, sich aus der Massen-Einbindung zu lösen  – für große Mehrheiten zu einer Überforderung geworden ist, sodass sie nur allzu gern die Chance nutzen, sich der (relativen) Autonomie von Mitgliedern der modernen, kapitalistischen Gesellschaft zu begeben und sich in manipulierbare Kollektive einzugliedern.

Die Intervention des politisch aktiven Teils der peruanischen Stadtbevölkerung zeigt, dass auch heute, auch in einem Land der „Dritten Welt“, autonome „Massen“-Bewegungen möglich sind. Die Protestierenden folgen keinem Aufruf und hören auf keine Partei, sie formulieren ihre eigenen Slogans, und jeder Teilnehmer bringt sein eigenes Plakat mit. Wir haben es mit einer „individuierten Menge“[4] zu tun, die nicht manipulierbar ist und für deren Aufkommen eine Theorie erst noch gefunden werden muss.

Der Geist der internationalen, anti-autoritären Jugendrevolte von 1968 fliegt um die Welt. Derzeit hat er in Lima und Ayacucho seine Zelte aufgeschlagen.

Lima, am 7.1.2019

Quelle: intersoz.org… vom 16. Januar 2019


[1] Vgl. dazu u. a. Cunow, Heinrich (1935): Geschichte und Kultur des Inkareiches. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte Altamerikas. (Neuauflage 2011.)

[2] In Lima leben 9 Millionen der 31 Millionen Peruaner.

[3] Er hat inzwischen zugegeben, Bestechungsgelder in Höhe von 788 Millionen US-Dollar an lateinamerikanische Regierungen gezahlt zu haben.

[4] Theodor W. Adorno prägte diesen Begriff im Anschluss an Sigmund Freud.

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