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Frankreich: Ein Präsident hat’s eilig gegen die überwältigende Mehrheit

Eingereicht on 18. April 2023 – 11:08

Bernard Schmid. Das Gesetz zur Renten„reform“ wurde am Freitag Abend vom Verfassungsgericht bestätigt, und dabei noch verschärft – Referendumsinitiative abgeschmettert – Staatspräsident Emmanuel Macron unterzeichnete den Text noch am selben Abend (anders als Gerüchte behaupteten, nicht um drei Uhr in der Nacht) – Quasi im selben Atemzug wollte Macron nun die französischen Gewerkschaften, nach vollzogener Tat, pardon: Unterschrift, im Elyséepalast empfangen; doch diese lehnen einhellig ab – Laut ersten Umfrage sagen zwischen 60 % und 64 % der öffentlichen Meinung den Gewerkschaften: Weitermachen! – Nun planen Letztere einen gemeinsamen 1. Mai, was insofern historisch ist, als es erst zum dritten Mal in den letzten einhundert Jahren zu einem gemeinsamen Aufruf kommt (1936, 2002 und nun 2023) – Streik der Müllabfuhr in Paris wiederaufgenommen – Am heutigen Montag Abend: TV-Ansprache von Staatspräsident Macron

Es war selbstredend keine überwiegend juristische, sondern eine überwiegend politische Entscheidung: Am Freitag Abend gegen 18 Uhr lag das im Vorfeld mit Anspannung erwartete Urteil des französischen Verfassungsgericht (Conseil constitutionnel, C.C., „Verfassungsrat“) zum Renten„reform“-Gesetz vor. Ihn hatten nacheinander sowohl das Regierungslager – um sich die Verfassungskonformität bestätigen zu lassen – als auch die Oppositionsfraktionen der extremen Rechten und der Linksparteien angerufen.

Hier der Originaltext des Gesetzes: https://www.legifrance.gouv.fr/jorf/id/JORFTEXT000047445077

…und jener der Entscheidung des Verfassungsgerichts: https://www.conseil-constitutionnel.fr/decision/2023/2023849DC.htm

Dabei beschloss der neunköpfige C.C., die Verfassungskonformität des Gesetzestextes insgesamt zu bestätigen, jedoch sechs Passagen in den insgesamt 36 Artikeln zu beanstanden und dadurch zu zensieren. (Vgl. auch im Überblick: https://www.bfmtv.com/economie/economie-social/social/reforme-des-retraites-quelles-sont-les-dispositions-validees-et-celles-retoquees-par-le-conseil-constitutionnel_AP-202304140617.html) Durch das Kassieren dieser Einzelbestimmungen wird die „Reform“ jedoch noch verschärft. Denn durch diesen Beschluss wird ein Teil des „Zuckergusses“, in den Teile der „Reform“ eingekleidet worden waren, um sie ein wenig zu versüßen, wieder entfernt. Dazu zählen der „Seniorenbeschäftigungs-Index“, d.h. ein statistisches Messinstrument, das dazu dienen sollte, „Seniorendiskriminierung“ auf dem so genannten Arbeitsmarkt zu messen, um auf Dauer solche Unternehmen unter Druck zu setzen, die systematisch über 50- oder über 55jährige als „unproduktiv“ aussondern; dessen Einführung war im Laufe der Debatte als Zugeständnis an die Abgeordneten der bürgerlichen Oppositionspartei LR (Les Républicains) verkauft worden, um deren Zustimmung zu erzielen. Es ist nun kassiert.

Auch aus dem Text entfernt wurde infolge der verfassungsrechtlichen Entscheidung u.a. der „Senioren-Arbeitsvertrag“. Bei ihm handelte es sich um eine zweischneidige Erscheinung: Dieser Sondertypus von Arbeitsvertrag sollte es Lohnabhängigen ab 60 Jahren dazu verhelfen, leichter aus der Arbeitslosigkeit in eine Beschäftigung zu wechseln, wobei die Arbeitgeber allerdings dadurch motiviert werden sollten, dass ihnen (einmal mehr) ein Nachlass der in die Sozialversicherungskassen einzuzahlenden Sozialabgaben gewährt worden wäre. Auch dieses, sicherlich sehr ambivalent zu bewertende Steuerungsinstrument wurde nun kassiert: Es gehöre nicht in ein Haushaltsgesetz. Erinnern wir daran, dass das Gesetz zur Renten„reform“, infolge eines Kunstgriffs der Regierung, als Nachtrags-Haushalt für den im Dezember 22 verabschiedeten Jahreshaushalt (2023) der gesetzlichen Sozialversicherungssysteme deklariert worden war, was automatisch dazu führte, die parlamentarische Debatte auf einen Maximal-Zeitraum von fünfzig Tagen (in beiden Kammern) einzuschränken, wie es für Sozialversicherungs-Haushaltsgesetze gilt. (Vgl. Artikel 47-1, Absatz 3: https://www.conseil-constitutionnel.fr/le-bloc-de-constitutionnalite/texte-integral-de-la-constitution-du-4-octobre-1958-en-vigueur)

An diesem Kunstgriff wiederum fand das Verfassungsgericht verfahrensrechtlich nichts auszusetzen, auch wenn es in seiner Entscheidung selbst unterstrich, dieses Verfahren ebenso wie die Kombination mehrerer Verfassungsartikel zur Einschränkung der Beratungsrechte des Parlaments (Artikel 47-1 im Zusammenspiel mit dem mittlerweile berühmten Artikel 49 Absatz 3 zur Aussetzung der Debatte & Abstimmung bei Vertrauensfrage) seien „ungewöhnlich“. Tja. Dann isses wohl Alles eine Gewöhnungsfrage.

Noch eine kleine Zusatzfrage für unsere Quizgewinner/innen: Wie wird das französische Verfassungsgericht überhaupt besetzt? Gute Frage? Nun: Je ein Drittel seiner Mitglieder wird durch den Parlamentspräsidenten oder (wie derzeit) die Parlamentspräsidentin der Nationalversammlung – oder des parlamentarischen „Unterhauses“ -, durch den oder die Präsidenten/in des Senats („Oberhaus“) sowie durch den Staatspräsidenten, oder eines Tages dann vielleicht die Staatspräsidentin, ernannt. Und dies für eine Dauer von neun Jahren. (Vgl. https://www.conseil-constitutionnel.fr/les-membres/statut-des-membres) Also kommt quasi automatisch ausschließlich die Exekutive respektive die Regierungsmehrheit zum Zuge, denn den Parlamentspräsidenten oder die Parlamentspräsidentin stellt das jeweilige Regierungslager und definitiv nicht die Opposition. Zum Vergleich: In Deutschland werden die Verfassungsrichter/innen, in diesem Falle für zwölf Jahre, je zur Hälfte durch Bundestag und Bundesrat gewählt, je mit Zwei-Drittel-Mehrheit. (Vgl. https://www.bundestag.de/richterwahl) Auch dieses Verfahren ist nicht wirklich optimal, was die Garantie für gesellschaftliche Pluralität betrifft, doch kommt dabei die jeweilige parlamentarische Opposition jedenfalls eher zum Zuge – ein Drittel genügt zur Blockade-Minderheit – als im französischen Falle bei Anwendung der Verfassung der Fünften Republik. Denn dort wird etwa der Präsident oder die Präsidentin mit einfacher Mehrheit gewählt, in den ersten beiden Wahlgängen mit absoluter oder (bei Nichtzustandekommen) mit relativer Mehrheit; es genügt also eine relativ schmale parlamentarische Basis dafür. (Vgl. https://www2.assemblee-nationale.fr/decouvrir-l-assemblee/folder/organisation-et-fonctionnement-de-l-assemblee/le-president-de-l-assemblee-nationale)

(Auch gehören ferner alle früheren französischen Staatspräsidenten dem Organ automatisch an. Allerdings verzichteten die noch lebenden Ex-Präsidenten, Nicolas Sarkozy und François Hollande, beide auf die Ausübung dieses Amts. Hingegen nahmen die beiden Ex-Staatspräsidenten Jacques Chirac und Valéry Giscard d’Estaing diese Funktion wahr, doch diese beiden verstarben im September 2019 respektive im Dezember 2020.)

Kurz, den überwiegend politischen Charakter dieser Institution brauchen wir nicht näher zu unterstreichen. Auch wenn der C.C. es in einem Falle – im Jahr 2018 – schaffte, positiv zu überraschen, indem es aus der Devise der Französischen Republik („Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“) einen „programmatischen Rechtsgrundsatz der Brüderlichkeit“ ableitete ( https://www.conseil-constitutionnel.fr/decision/2018/2018717_718QPC.htm) und dies auch auf die Bekämpfung so genannter illegaler Immigration bezog, wovon man dann hinterher aber auch nicht so wahnsinnig viel hatte.

Referendum abgeschmettert; doch mit reichlich origineller Begründung

In einem parallel zum oben zitierten gefassten weiteren Beschluss entschied das französische Verfassungsgericht, den Antrag auf ein Referendum durch Volksinitiative abzuschmettern. Dieser war, parallel zur Verfassungsklage gegen das Gesetz zur Renten„reform“ und zum selben Thema, durch die parlamentarische Linksopposition gestellt worden.

Seit ihrer Änderung (zwecks Modernisierung) unter Nicolas Sarkozy im Juli 2008 erlaubt die französische Verfassung es, ein Referendum zu erzwingen, auch gegen den Willen der Exekutive, wenn zunächst mindestens ein Fünftel der Parlamentsmitglieder dies beantragt und daraufhin – zum Zweiten – mindestens zehn Prozent der Wahlberechtigten im Land sich innerhalb einer neunmonatigen Dauer in Listen eintragen. ( https://www.conseil-constitutionnel.fr/referendum-d-initiative-partagee/referendum-d-initiative-partagee-rip-mode-d-emploi) Das sind über 4,5 Millionen Menschen, die Hürde liegt also hoch; bislang wurde sie noch nicht genommen. Auch sonst wurde der Verfassungstext von 2008 laut vielen Kommentator/inn/en so verfasst, dass es eben nicht funktioniert, jedenfalls in aller Regel nicht. Im Übrigen sieht der Text vor, dass eine Abstimmung dann erzwungen werden kann, wenn die (derzeit rund 4,8 Millionen) Stimmberechtigten sich in Listen eintrugen und nach Abschluss der Unterschriftensammlung dann das Parlament nicht innerhalb von sechs Monaten über den Gegenstand beraten hat; was aber, wenn das Parlament dies tat, doch sich nach Ablauf des Verfahrens zur Ablehnung des Verlangens entschied…?

Konkret wurde es einmal versucht, und zwar 2019/2020 zur Abwendung der Privatisierung der Pariser Flughäfen. Damals kamen zu dem Thema (das sicherlich weniger stark in den Alltag der Menschen insgesamt eingreift, als eine Rentenregelung) insgesamt 1,116 Millionen Unterschriften im fraglichen Zeitraum zusammen. Damit scheiterte das Referendum damals; die seinerzeit geplante Privatisierung der Pariser Flughäfen kam daraufhin dann übrigens, aus anderen Gründen und im Zusammenhang mit der Lage an den Börsen, dennoch nicht. Das Verfassungsgericht zog damals, quasi in einer lichten Stunde, selbst eine kritische Bilanz des Verfahrens und merkte an, die Hürde liege sehr hoch; im Übrigen sei die – durch die Regierung eingerichtete – offizielle Webseite zur Eintragung in die Stimmlisten umständlich aufzurufen und zu bedienen, Zufälle gibt’s aber auch. Vgl.:

Das Verfassungsgericht muss jedoch ferner die Frage, die zum Abstimmungsgegenstand gemacht werden soll, zulassen. Als Fragestellung schlug die parlamentarische Linksopposition in diesem Falle vor: Ja oder Nein zu dem Satz, dass ein Renten-Mindestalter oberhalb von 62 verboten werden müsse.

Nach angeblicher juristischer Prüfung entschied das Verfassungsgericht jedoch dahingehend, dass ein solches Referendum nicht zulässig sei. Nun, kann man ja machen, kann man ja machen, wenn man Verfassungsgericht heißt…; doch fällt die Begründung dafür im konkret vorliegenden Falle einigermaßen witzig aus. Der C.C. beruft sich darin nämlich darauf, laut den bestehenden Regeln (n. Artikel 11 der Verfassung auf dem Stand von 2008) müsse ein solches Referendum eine „Reform betreffend das ökonomische, soziale oder umweltpolitische Leben der Nation“ zum Gegenstand haben. Also zu einem dieser Themen irgendeine Änderung bringen. Doch sehe die Referendumsvorlage in diesem Falle ja gar keine solche Änderung vor, denn seine Urheber/innen strebten ein Renten-Mindesteintrittsalter von maximal 62 an. Dies sei jedoch „zum Zeitpunkt der Anrufung des Verfassungsgericht“ ja bereits Gesetzeslage, bringe also ja gar keine Änderung mit sich. Lustigerweise allerdings genehmigte dasselbe Verfassungsgericht in derselben Minute einen anderen Gesetzestext, in welchem just einer der Kernsätze lautet: „Ändere << Alter von 62 >> im Artikel L.161-17-2 des Code de la sécurité sociale (Sozialversicherungs-Gesetzbuchs) ab auf << Alter von 64 >>.“ (Vgl. dazu Artikel 10, Absatz 2, a des nunmehr im Amtsblatt verkündeten Gesetzes: https://www.legifrance.gouv.fr/jorf/id/JORFTEXT000047445077)

Alkohol macht Birne hohl? Nein, nicht doch. Wie respektlos aber auch. Der Hintergrund ist wesentlich ernster: Das Verfassungsgericht handelte, siehe oben, offenkundig nach einer politischen Maxime. Und diese drückt eine Strategie der herrschenden Eliten aus – welche nicht auf Konsenssuche oder jedenfalls Einbindungsbemühungen, und sei es auch nur zur Befriedung von Konfliktpotenzialen, sondern auf Konfrontation gebürstet zu sein scheint.

Hätte es die Abstimmungsinitiative genehmigt, dann hätte es lediglich den Startschuss dafür gesetzt, dass französische Gewerkschaften, Linke und manche unzufriedene Bürgerliche nun monatelang eifrig Unterschriften gesammelt hätten – und damit wären sie vielleicht beschäftigt gewesen. Wer Infostände aufbaut, kommt nicht zum Randalieren. Doch das Verfassungsgericht hat es nun anders bestimmt, vielleicht anders, als es eine gut durchdachte Staatsräson gewollt hätte; was allerdings das Restrisiko beinhaltete, dass Macrons Gesetzentwurf am Ende doch noch durchfällt. Denn wäre es am Schluss mit ziemlich viel Mühen doch noch zur Abstimmung gekommen, dann hätte man mit mehr oder minder haushoher Ablehnung der derzeitigen Renten„reform“ rechnen dürfen. Aber bis dahin hätte ja noch Einiges passieren können oder müssen.

Denn zum Einen lag, wie erwähnt, die Hürde relativ hoch. Zum Zweiten: Hätte die herrschende Klasse strategische Intelligenz bewiesen, hätte sie auch darauf setzen können, dass im Ablauf der neun Monate, in diesen schnelllebigen und durch die Zapp-Zapp-Funktionsweise vieler Medien geprägten Zeiten, das Thema in vielen Köpfen mehr oder minder schnell in Vergessenheit gerät. Die Leitmedien hätten dazu ihr Ding beitragen können, denn auf Ablenkung verstehen diese sich prächtig. Und wäre in zwei Monaten noch ein ordentlicher Krieg irgendwo hinzugekommen… (Nein, nicht der in der Ukraine, den betrachtet das Medienpublikum ja inzwischen auch schon wieder gelangweilt.) Kurz und gut, man hätte auch ganz gut darauf setzen können, dass man die in ein solches Referendum zu setzenden Energien schön verpuffen lässt. Zugegeben, mit einem Restrisiko am Ende. Doch ein Restrisiko beinhaltet eine konfrontative Strategie wie die derzeitige ja auch.

Zum Glück berät der Verfasser dieser Zeilen jedoch nicht die französische Bourgeoisie.

Übrigens: Der rechtsextreme Rassemblement National (RN), obwohl sonst sehr für Referenden offen, sehr gerne solche zur Einwanderung und zur Todesstrafe…., hatte seinerseits zuletzt angekündigt, da nicht mitspielen zu wollen, um eine solche Abstimmung vorzubereiten. ( https://www.youtube.com/watch?v=pTZL6CwKBgs). Handele es sich doch um eine Ablenkung“. In Wirklichkeit ging es in seiner Sicht hauptsächlich um eine Ablenkung davon, dass er selbst angeblich die einzig wahre Opposition sei; eine Opposition, die zwar im Parlament und in TV-Talkshows manchmal laute Töne anschlug, jedoch weitgehend inhaltslos blieb. Denn der RN sprach zwar mit einiger Wortklingelei davon, die Rentenreform sei „eine Kriegserklärung an das französische Volk“, in dessen Namen man angeblich spreche, hatte jedoch im Konkreten zu Arbeitsbedingungen, Berufskrankheiten und Kaputtwerden im Arbeitsprozess schlichtweg inhaltlich nicht zu sagen. Entsprechend karg waren seine Beiträge im Parlament. Laut wurde er nur dann, wenn er einen symbolpolitischen Akt fordern durfte, etwa das Anberaumen einer Volksabstimmung von der Regierung verlangte – dafür Unterschriften sammeln mochte die Partei nun jedoch nicht. Wohl auch nicht, um sich dann nicht mit Linken und Gewerkschafter/inne/n mischen zu müssen, da müsste man ja die Nase rümpfen.

Zum Schluss: Nun liegt dem französischen Verfassungsgericht allerdings auch noch ein zweiter Entwurf der parlamentarischen Linksopposition für ein (anderes) Referendum vor, welcher ebenfalls bei ihm hinterlegt wurde. Dieser ist anders formulierte als der erste, am Freitag Abend vom C.C. abgelehnte. Dabei geht es dieses Mal nicht um das Rentenalter, sondern um Finanzierungsfragen: Die Vorlage hätte die Abstimmungsfrage zum Gegenstand, ob man (oder nicht) zur Finanzierung der Rentensysteme eine höhere Besteuerung der Bestverdienenden respektive Unternehmensgewinne heranziehen könne. Darüber wird das Verfassungsgericht nun am 03. Mai dieses Jahres befinden. Doch ist – hält man dieses Mittel für geeignet – Optimismus nicht unbedingt angebracht, wird doch derzeit von Kommentator/inn/en die Rechtsauffassung vertreten, fiskalpolitische Fragen (also steuerliche Regelungen, steuerpolitische Instrumente) könnten ohnehin nicht zum Gegenstand eines solches Referendums gemacht werden.

Wir setzen da ja eher auf justizpolitische Instrumente. ( https://www.alamy.de/stockfoto-guillotine-isoliert-auf-weissem-vintage-gravierten-abbildung-trousset-enzyklopadie-1886-1891-84430298.html)

Die Uhrzeit ist nicht das Problem…

Noch am Abend der Bekanntgabe der Entscheidung des Verfassungsgerichts beeilte sich Staatspräsident Emmanuel Macron, das Gesetz rapide zu unterzeichnen (promulguer) und es dadurch in Kraft zu setzen. Seine Unterschrift folgte mutmaßlich gegen 19.30 Uhr oder 20 Uhr am Freitag Abend. Hartnäckig hält sich übrigens seit diesem Wochenende ein Gerücht, wonach Staatspräsident Macron in der Nacht zum Samstag (, den 15. April 23) zwischen 03 und 04 Uhr früh unterzeichnete. Dies wurde in ersten Reaktionen als besonderer Ausdruck seiner Arroganz und seiner Selbstherrlichkeit bei Entscheidungen kritisiert, da die nächtliche Stunde darauf hinzudeuten schien, dass Macron in Abwesenheit selbst seiner engsten Berater in einsamster Runde entschieden habe – Emmanuel Macron ist tatsächlich für seinen ausgesprochen geringen Schlafbedarf von zwei bis drei Stunden pro Nacht, und seine nächtlichen SMS-Versendungen an Mitarbeiter/innen bekannt, wobei seine medizinische Schlafbilanz nur ihn selbst angeht. Doch trifft dies insofern rein faktenmäßig insofern nicht zu, als Emmanuel Macron tatsächlich nicht zu dieser Nachtstunde unterzeichnete: 03.28 Uhr früh ist in Wirklichkeit die Stunde der elektronischen Veröffentlichung des Journal Officiel de la République française, JO oder JORF (Amtsblatts, Gesetzesanzeigers), in welchem das Gesetz an jenem 15. April 2023 erschien, wodurch es rechtskräftig wurde. Doch das JO respektive JORF, das früher auf Papier publiziert wurde, seit 2016 jedoch nur noch in elektronischer Form, wird immer zwischen 02 und 07 Uhr früh verschickt. Der Versand ist dabei programmiert, mit Inhalt aufgefüllt wird es am Vorabend oder am Tag zuvor. (Vgl. https://www.liberation.fr/checknews/retraites-emmanuel-a-t-il-promulgue-la-loi-dans-la-nuit-de-samedi-comme-lont-dit-les-opposants-a-la-reforme-20230416_HGUYNBQ2JBCYVL6T6HAWMFAMZM/)

Insofern liegt die „Provokation“, welche einige Beobachter/innen bzw. politischen und gewerkschaftlichen Akteure & Akteurinnen im Laufe des Samstags unterstrichen, nicht in der Uhrzeit begründet. Sofern Macron einsam auf einem Olymp sitzt, dann jedenfalls nicht wegen der „Verkündung um 03 Uhr früh“. Ansonsten trifft auf jeden Fall zu, dass er es verdammt eilig hatte und auf wirklich niemanden hörte, jedenfalls nicht außerhalb des harten Kerns seiner Unterstützer/innen.

Die Debatte hätte vorgesehen, dass er das Gesetz innerhalb von fünfzehn Tagen unterzeichnet. Die im Aktionsbündnis intersyndicale zusammengeschlossenen französischen Gewerkschaften hatten Emmanuel Macron noch im Laufe des Freitag aufgefordert, auch bei einer Absegnung der „Reform“ durch das Verfassungsgericht von einer sofortigen Verkündung abzusehen. Zumal Macron ja am Freitag Nachmittag seinerseits die Gewerkschaften – die zu empfangen, er bis dahin seit dem Vorjahr stets abgelehnt hatte – dazu einlud, nun an diesem Dienstag, den 18. April 23 bei ihm im Elyséepalast zu erscheinen. Offenkundig sollten diese dort allerdings nach vollbrachter Durchsetzung der „Reform“ vorsprechen, um nun über deren Folgen und die Bewältigung zu reden und sich möglichst darin einbinden zu lassen.

Zugleich kündigte Emmanuel Macron für den heutigen Montag Abend eine TV-Ansprache an die Bevölkerung an. – Labournet wird auch darüber berichten!

In einer ersten Reaktion sprachen die französischen Gewerkschaften ihrerseits (noch vor Bekanntwerden der vollzogenen Inkraftsetzung des „Reform“gesetzes in der Nacht) davon, frühestens nach dem diesjährigen 1. Mai für einen Termin bei Macron zur Verfügung zu stehen. ( https://www.tf1info.fr/politique/reforme-des-retraites-invites-a-l-elysee-ce-18-avril-les-syndicats-cgt-cfdt-fo-refusent-toute-rencontre-avant-le-1er-mai-2254099.html) Durch die schnelle Verkündung des Gesetzes dürfte dies allerdings nun in weitere Ferne rücken. Die nagelneue CGT-Generalsekretärin Sophie Binet erklärte, werde kein Stopper bei der Durchsetzung der „Reform“ – die nun zum 1. September 23 Anwendung finden soll – eingebaut, dann könnte das schwierig werden mit dem Gespräch, dem angeblichen Dialog.

Allerdings sprach CFDT-Generalsekretär Laurent Berger seinerseits davon, man solle einen délai de décence, also eine „Anstandsfrist“ wahren, bevor man wieder miteinander ins Gespräch komme. Nach der altbewährten Maxime der Cfdt oder jedenfalls ihrer Spitze: „In Gefahr und höchster Not bringt der Mittelweg, das Brot.“

In ersten Reaktionen, die durch [bürgerliche] demoskopische Institute gemessen wurden, äußerten sich 69 % der befragten Französinnen und Franzosen ablehnend zur erfolgten Verkündung des Gesetzes im Amtsblatt. Je nach Umfrage bekunden 60 % bzw. zuletzt 64 % ( https://www.bfmtv.com/societe/manifestations/retraites-64-des-francais-souhaitent-poursuivre-le-mouvement-contre-la-reforme-selon-un-sondage-bfmtv_VN-202304170247.html) der Befragten, die Gewerkschaften dazu aufzufordern bzw. darin zu unterstützen, ihren Protest fortzusetzen. Ob Verfassungsgerichtsurteil oder nicht. Auch die CFDT, übrigens, ja doch: https://www.liberation.fr/economie/social/laurent-berger-maintient-lunite-pour-casser-la-baraque-le-1er-mai-20230416_WKM2BYJBM5DEFPO4HN5JBG2QRY

Auf Seiten der Gewerkschaften rufen nun relevanten französischen Verbände und Zusammenschlüsse dazu auf, am 1. Mai gemeinsam den fortdauernden Protest auf die Straße zu tragen und die Demonstrationszüge massiv ausfallen zu lassen. Dies hat insofern eine neue Qualität, als es dies in den letzten einhundert Jahren erst zum dritten Mal gibt. Bekanntlich existieren in Frankreich Richtungsgewerkschaften mit unterschiedlicher Ausrichtung, sei es ideologischer oder strategischer Art; zur 1895 als erster Dachverband gegründeten CGT (ihr Name bedeutet so viel wie „Allgemeiner Verband der Arbeit“) kam in den 1900 und 1900er Jahre die teilweise rechts geprägte „gelbe Gewerkschaftsbewegung“ hinzu – diese verschwand daraufhin wieder, niemand beruft sich heute positiv auf diese -, und ab 1919 als dauerhafter Faktor die christliche Gewerkschaftsbewegung (in Gestalt der CFTC, von ihr spaltete sich 1964 die CFDT ab).

Vor allem spaltete sich die CGT in den frühen 1920er Jahren, nachdem sich die Mehrheitsfraktion der französischen Sozialdemokratie (SFIO) auf einem Parteitag in Tours in die Französische kommunistische Partei (SFIC, später PCF) umgewandelt, eine Rest-SFIO sich jedoch von ihr abgespalten hatte, in eine sozialdemokratisch und eine (partei)kommunistisch beeinflusste Teilorganisation: die CGT und CGT-U.

Erst 1936, mit dem ursprünglich aus einer antifaschistischen Abwehrbewegung gegen die erstarkende extreme Rechte stammenden Front populaire-Bündnis (im Deutschen sehr vergröbernd übersetzt mit „Volksfront“ (vgl. dazu: https://archiv.labournet.de/diskussion/geschichte/bs_frontpopulaire.html), fanden die unterschiedlich orientierten Gewerkschaften zum damaligen 1. Mai zusammen. Im Übrigen fusionierte die CGT und die CGT-U im Zusammenhang mit dem, als Regierungsbündnis ziemlich kurzlebigen, Front populaire („Front der sozialen Unterklassen“).

Zum zweiten Mal kam es im Jahr 2002 zu einem gemeinsamen 1. Mai aller relevanten französischen Gewerkschaften, damals im Zusammenhang mit dem – seinerzeit unerwarteten – Einzug des Alt- und Neofaschisten Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl der französischen Präsidentschaftswahl. Dies rief damals massive spontane Reaktionen hervor; heute weckt die Präsenz seiner Tochter Marine Le Pen in der Stichwahl bei Vielen eher ein müdes Gähnen… Doch damals stand der Autor dieser Zeilen sechs Stunden lang mit einem Riesenstapel Flugblätter zwischen Menschenmengen, die aufgrund ihrer schlichten Dimension weder vor noch zurück konnten… (Vgl.: https://jungle.world/artikel/2002/19/waehlen-mit-waescheklammern)

Dieses Jahr nun also zum dritten Mal in einem Jahrhundert 😉

Und sonst so?

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und https://www.bfmtv.com/societe/paris-reprise-de-la-greve-des-eboueurs-a-partir-de-jeudi_VN-202304120449.html

und zur Rückkehr der Abfallberge: https://www.bfmtv.com/societe/greves/greve-des-eboueurs-le-retour-des-tas-de-poubelles-non-recoltees-a-paris_VN-202304160056.html

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Quelle: labournet.de… vom 18. April 2023

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