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Israels langer Krieg gegen Palästina

Submitted by on 24. August 2025 – 15:10

Avi Shlaim. In diesem Krieg ist Israel über Landraub und ethnische Säuberungen hinausgegangen und hat das Verbrechen aller Verbrechen begangen: Völkermord.

Historiker Avi Shlaim nimmt nun Israels Politik gegenüber dem Gazastreifen in seinem aktuellen Buch »Genozid in Gaza. Israels langer Krieg gegen Palästina« kompromisslos unter die Lupe. Ein Auszug.

Dieser kurze Rückblick auf Israels Verhalten im Jahr nach dem Hamas-Anschlag vom 7. Oktober offenbart ein konsistentes Muster der Zurückhaltung bei der Diplomatie und des Rückgriffs auf rohe militärische Gewalt im Umgang mit seinen palästinensischen, arabischen und iranischen Gegnern. Es zeichnet sich das Bild eines Landes ab, das vom Schwert lebt, eines Landes, das süchtig nach militärischer Gewalt ist, eines streitlustigen, schießwütigen, ethnonationalistischen, rassistisch-suprematistischen Staates, der das Völkerrecht völlig ignoriert. Was sind die Ursachen für diese Vorliebe für militärische Gewalt und Zwang, selbst wenn alternative diplomatische Wege zur Verfügung stehen? Eine Antwort lautet, dass Israel, wie ein Mann mit einem Hammer in der Hand, jedes Problem als Nagel betrachtet.

Nakba: Ein kontinuierlicher Prozess

Eine tiefere Erklärung ist, dass Israel ein Siedlerkolonialisierungsprojekt ist und die Logik des Siedlerkolonialismus die Vertreibung der Einheimischen und die Übernahme ihres Landes ist. Dieses Ziel kann nicht durch Diplomatie und Verhandlungen erreicht werden. Sie kann nur einseitig und mit militärischer Gewalt erreicht werden. Gewalt, so diese Analyse, liegt Israel als Kolonialmacht im Blut. Israel behauptet, Gewalt sei nicht von ihm initiiert, sondern ihm aufgezwungen worden, alle seine Kriege seien defensiver, nicht offensiver Natur gewesen, keine freiwilligen, sondern unfreiwillige Kriege. Golda Meir verkörperte diese selbstgerechte Haltung mit ihrer Aussage: „Alle Kriege gegen uns haben nichts mit uns zu tun.“ Diese Sichtweise ignoriert jedoch völlig die Rolle, die Israel, insbesondere durch seine Besetzung arabischer und palästinensischer Gebiete, bei der Entstehung arabisch-israelischer Kriege gespielt hat. In allen Kriegen Israels seit Juni 1967 ging es darum, das zionistische Kolonialprojekt über die Grüne Linie hinaus zu verteidigen und auszuweiten.

Israels einseitiger Rückzug aus Gaza im Jahr 2005 markierte nicht die Aufgabe des zionistischen Kolonialprojekts, sondern dessen aggressivere Verfolgung im Westjordanland. Die ethnische Säuberung Palästinas setzte sich nach dem Abzug aus Gaza fort. 1948 flohen drei Viertelmillionen Palästinenser entweder aus ihrer Heimat oder wurden vertrieben. Das war die Nakba, die Katastrophe. Die Nakba ist kein einmaliges Ereignis, sondern ein kontinuierlicher Prozess. Nach dem Abzug aus Gaza setzte sich die ethnische Säuberung im Westjordanland fort. In Gaza blieb Israel völkerrechtlich die Besatzungsmacht, da es den Zugang zu dem Gebiet zu Land, zu Wasser und aus der Luft weiterhin kontrollierte. Israel bot der Bevölkerung Gazas keine politische Perspektive, sondern nur Blockaden und den periodischen Einsatz brutaler Militärgewalt. Alle paar Jahre startete Israel eine Militäroffensive in einem nie endenden Kreislauf der Gewalt, den israelische Generäle kühl als „Rasenmähen“ bezeichneten.

Der Hamas-Angriff vom 7. Oktober, so brutal und mörderisch er auch war, ereignete sich nicht im luftleeren Raum. Er geschah vor diesem düsteren Hintergrund. Im wahrsten Sinne des Wortes war er eine Reaktion auf ein halbes Jahrhundert brutaler Besatzung und grausamer Unterdrückung. Aber auch die Heftigkeit, das Ausmaß und der Erfolg des Angriffs, um den Gazastreifen und die israelischen Siedlungen im Süden mit Bodentruppen, waren beispiellos. Israels Reaktion auf den Überraschungsangriff war ebenfalls beispiellos in der Heftigkeit. Meiner Schätzung nach war dies die achte israelische Militäroffensive gegen Gaza seit dem Abzug 2005. Ich erwartete daher einige, zwangsläufig brutalere Aktionen, aber immer noch im Sinne des „Rasenmähens“. Ich erwartete keinen umfassenden Krieg zur Vernichtung der Hamas und zur Zerstörung großer Teile Gazas. Ebenso wenig erwartete ich eine ethnische Säuberung Gazas, doch diese stellte sich als eines der Ziele der Regierung heraus, das bisher nur durch den entschiedenen ägyptischen Widerstand vereitelt wurde. Noch weniger erwartete ich, dass diese Militäroffensive in einem Völkermord gipfeln würde.

Der Entmenschlichung jeglicher Menschen widerstehen

Im Laufe der Jahre habe ich ausführlich und kritisch über Israel und seinen Umgang mit den Palästinensern geschrieben. Eine Reihe von Essays, die 2021 in Irish Pages veröffentlicht wurden, erschien unter der Überschrift „Israel und die Aggressivität der Macht“. An anderer Stelle schrieb ich über Israels Machtmissbrauch. Ich habe eine lange Litanei von Klagen gegen den Staat Israel zusammengetragen, Völkermord war jedoch keine davon. In meiner Autobiografie „Drei Welten, Erinnerungen eines arabischen Juden“ aus dem Jahr 2023 schrieb ich:

Der Holocaust wurde von Israels Freunden häufig herangezogen, um Israels Sicherheitsbesessenheit zu erklären und seinen harten Umgang mit den Palästinensern zu rechtfertigen. Israels extremere Kritiker hingegen haben Israels Umgang mit den Palästinensern gelegentlich als nicht besser angeprangert als den Umgang Nazideutschlands mit den Juden. Solche Vergleiche sind weit hergeholt: Trotz all seiner Sünden hat Israel keinen Völkermord begangen. Es ist jedoch auch nicht gerechtfertigt, den Holocaust als moralisches Erpressungsmittel zu nutzen, um berechtigte Kritik an Israels Behandlung der Palästinenser zum Schweigen zu bringen. Die Entmenschlichung des „Anderen“ wird zwangsläufig schreckliche Folgen haben, wer auch immer dieser „Andere“ sein mag. Israels systematische Entmenschlichung des palästinensischen Volkes hatte zweifellos verheerende Folgen; sie bereitete den Boden für dessen Unterdrückung und Brutalisierung.

Der Holocaust ist der Archetyp eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Für mich als Jude und Israeli lehrt uns der Holocaust daher, der Entmenschlichung jeglicher Menschen zu widerstehen, einschließlich der palästinensischen „Opfer der Opfer“ (wie Edward Said sie nannte), denn die Entmenschlichung eines Volkes kann, wie in den 1940er Jahren in Europa, leicht zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit führen. (S. 46 – 47).

Fast täglich Kriegsverbrechen

In Gaza hat Israel als Reaktion auf den Angriff vom 7. Oktober die rote Linie überschritten, die alltägliche Kriegsverbrechen vom Völkermord trennt. Nationen, die Völkermord begehen, geben dies selten zu, geschweige denn, dass sie es öffentlich kundtun. Sie verbergen ihre völkermörderischen Handlungen hinter einem dicken Schleier der Geheimhaltung. Israels politische und militärische Führung hingegen hat keinen Versuch unternommen, ihre völkermörderischen Absichten zu verbergen, wie dieses Buch ausführlich dokumentiert. Manche ihrer Äußerungen sind wahrhaft gruselig. Die Völkermord-Rhetorik bestand nicht nur aus leeren Worten; sie wurde durch einen brutalen, sadistischen Angriff auf die Bevölkerung von Gaza in die Tat umgesetzt: durch die Abschlachtung unschuldiger Zivilisten im industriellen Maßstab, die systematische Zerstörung ziviler Infrastruktur, den Einsatz von Hunger als Kriegswaffe, die Bombardierung von Krankenhäusern und Gesundheitszentren und die Unterwerfung der Bevölkerung von Gaza unter Lebensbedingungen, die ihren Tod herbeiführen sollten. Zum ersten Mal in der Geschichte können wir nun täglich einen Völkermord live auf unseren Fernsehbildschirmen verfolgen.

Die Logik dieser abscheulich grausamen Behandlung „der Anderen“ ist eng mit Israels Wesen als kolonialem Siedlerstaat verbunden. Hinter dem Handeln Israels steht eine rassistische, siedlerkolonialistische Ideologie des 19. Jahrhunderts. Francesca Albanese, die UN-Sonderberichterstatterin für die Menschenrechtslage in den palästinensischen Gebieten, hat diesen Zusammenhang mit deutlicher Klarheit dargelegt. In ihrem Bericht vom 25. März 2024 an den UN-Menschenrechtsrat schrieb sie: „Israels Handeln wurde von einer völkermörderischen Logik getrieben, die integraler Bestandteil seines siedlerkolonialen Projekts in Palästina ist und eine angekündigte Tragödie signalisiert.“ Der Titel des Berichts lautet „Anatomie eines Völkermords“.

Im ersten Kriegsjahr beging Israel fast täglich Kriegsverbrechen. Es handelte völlig ungestraft und unter eklatanter Missachtung des humanitären Völkerrechts. Der Reputationsschaden für das Land war enorm. Nach seiner Gründung 1948 genoss Israel aufgrund seiner Demokratie große internationale Sympathie und Unterstützung. Nach 1967 begann diese Sympathie zu schwinden, während die Sympathie für die palästinensische Sache stetig zunahm. Der Gaza-Krieg 2023 markierte einen wichtigen Wendepunkt für Israels Abstieg zum internationalen Paria.

Die Mühlen der internationalen Justiz mahlen langsam, aber sie haben sich in Bewegung gesetzt. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs hat Haftbefehle gegen Netanjahu, seinen Verteidigungsminister und den Stabschef der israelischen Streitkräfte wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beantragt. Der Chefankläger beantragte zudem Haftbefehle gegen die drei führenden Politiker der Hamas, die im Westen als terroristische Organisation geächtet ist. Der Internationale Gerichtshof hat die israelische Besetzung palästinensischer Gebiete für illegal erklärt und einen sofortigen Rückzug und Reparationen gefordert. In einem separaten Urteil vom Januar 2024 stellte das Gericht fest, dass in Gaza ein plausibles Risiko eines Völkermords bestehe, und forderte Israel auf, von völkermordgefährdender Rhetorik und völkermordgefährdenden Handlungen abzusehen. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete am 18. September 2024 mit überwältigender Mehrheit eine Resolution, die Israel auffordert, seine unrechtmäßige Präsenz in den besetzten palästinensischen Gebieten unverzüglich zu beenden.

Israel: Der unsicherste Ort für Juden

Israels Verhalten im jahrelangen Gaza-Krieg schadete nicht nur seinem eigenen Ruf, sondern beschleunigte auch den Niedergang der von den USA geführten liberalen internationalen Ordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet worden war. Zentral für diese Ordnung ist die Gleichheit aller Staaten vor dem Gesetz und die Verantwortung für ihre Handlungen. Israel wurde jedoch als Ausnahme behandelt, und das US-Veto im Sicherheitsrat stellte sicher, dass Israel weder für seine demonstrative Ablehnung von UN-Resolutionen noch für seine eklatanten Verstöße gegen das Völkerrecht sanktioniert wurde. Westliche Doppelmoral ist natürlich nichts Neues, wurde aber durch den eklatanten Kontrast zwischen der berechtigten Empörung des Westens über Russlands Invasion in der Ukraine und seiner uneingeschränkten Unterstützung für Israels Invasion in Gaza deutlich. Doppelmoral ist den USA nicht fremd. Der eigentliche Wandel liegt nicht in der Substanz, sondern in der unverfrorenen Dreistigkeit und Unverfrorenheit, mit der sie nun schwerste Verstöße ermöglichen. Dies zwang den Rest der Welt zu der Erkenntnis, was der globale Süden schon immer wusste, nämlich dass das Völkerrecht nur gegen die Schwachen durchgesetzt wird.

Ein weiteres Opfer der israelischen Gesetzlosigkeit ist das Weltjudentum. Israel hat sich stets nicht nur als jüdischer Staat, sondern auch als Staat aller Juden präsentiert, wo immer sie sich befinden, obwohl es kein demokratisches Mandat hat, sich für Juden außerhalb seines Territoriums einzusetzen. Eine weitere gängige Behauptung ist, dass Israel verfolgten Juden in anderen Teilen der Welt einen sicheren Hafen bietet. Tatsächlich wird Israel oft als der einzige sichere Ort der Welt für Juden bezeichnet. Der Krieg im Gazastreifen lieferte einen weiteren Beweis dafür, dass Israel tatsächlich der unsicherste Ort für Juden weltweit ist. Israels Verhalten im Gazastreifen war die direkte Ursache für einen Anstieg antisemitischer Vorfälle in Großbritannien und anderswo.

Einst ein Grund zum Stolz, ist Israel zu einer Quelle der Verlegenheit und einer Belastung für liberale und progressive Juden weltweit, insbesondere für die jüngere Generation, geworden. Immer mehr Juden in der Diaspora distanzieren sich von Israels Vorgehen mit der Erklärung „Nicht in unserem Namen“. Ich gehöre mehreren solcher Gruppen in Großbritannien an, darunter Independent Jewish Voices, Jewish Voice for the Labour, Free Speech on Israel, Jewish for Justice for Palestinians, Israel Academics in the UK und das UK Jewish Academic Network. Die Werteerklärung des letztgenannten Netzwerks widerlegt die Vorstellung, dass „die Sicherheit der Juden auf der Unterdrückung der Palästinenser beruht“. In den USA sind Jewish Voice for Peace und If not now die führenden Organisationen nichtzionistischer Juden.

Nicht alle Merkmale des klassischen Faschismus – aber genügend davon

Man kann nicht oft genug betonen, dass Zionismus und Judentum zwei verschiedene Dinge sind. Zionismus ist eine säkulare politische Ideologie; Judentum ist eine Religion. Zionistische Führer versuchten jedoch, das Judentum in ihren Kampf für einen jüdischen Staat einzubinden. Obwohl die Zionisten nicht an Gott glauben, berufen sie sich auf seine Autorität als Landverwalter und behaupten, er habe ganz Israel dem jüdischen Volk überlassen. Dennoch vertreten die beiden Gruppen grundlegend unterschiedliche Werte. Die Kernwerte des Judentums sind Altruismus, Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden. Die Regierung unter Benjamin Netanjahu, die authentisch das politische Zentrum Israels darstellt, stellt das genaue Gegenteil dieser jüdischen Kernwerte dar. Gewaltlosigkeit ist das Wesen des Judentums. Netanjahus Regierung ist die aggressivste nationalistische, ethnozentrische, messianischste und gewalttätigste Regierung in der Geschichte Israels. Ihr Ziel ist nicht die friedliche Koexistenz mit den Palästinensern, sondern Hegemonie und Herrschaft.

Benjamin Netanjahu, Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich, die dominierenden Figuren dieser Regierung, glauben fest an die Doktrin, dass Gewalt die Welt nach ihrer rassistischen, jüdisch-suprematistischen Vision formen kann. Der faschistische Gedanke, dass Macht Recht ist, prägt einen Großteil ihrer Innen- wie Außenpolitik. Die Nation über den Einzelnen zu stellen, Nichtjuden zu diskriminieren, die Rechtsstaatlichkeit im Inland zu untergraben und im Ausland auf nackte militärische Gewalt zu setzen, sind allesamt faschistische Klischees. Ihre Rhetorik und ihre Politik vor Ort in Gaza entlarven dieses Triumvirat nicht bloß als faschistisch, sondern als völkermörderisch-faschistisch.

So wie ich anfangs vorsichtig mit dem Begriff Völkermord umging, so zögerte ich auch mit dem Wort faschistisch. Als Wissenschaftler bin ich verpflichtet, Worte sorgfältig abzuwägen. Netanjahus Regierung weist zwar nicht alle Merkmale des klassischen Faschismus auf, aber wohl genügend davon, insbesondere Militarismus, um die Bezeichnung „faschistisch“ zu rechtfertigen. Zwar wurde diese Regierung demokratisch gewählt. Doch das galt auch für die NSDAP in Deutschland, die faschistische Partei in Italien und in unserer Zeit für Viktor Orbáns rechtspopulistische Partei in Ungarn.

Als Jude fühle ich mich moralisch verpflichtet, aufzustehen und mir Gehör zu verschaffen, der Macht die Wahrheit zu sagen, die Netanjahu-Regierung aufs Schärfste zu verurteilen und den Palästinensern in ihrer Stunde der Not beizustehen. Diese Essaysammlung ist mein bescheidener persönlicher Beitrag zum Kampf gegen den zionistischen Faschismus und zum Kampf für Gerechtigkeit für das lange leidende palästinensische Volk. Sie basiert auf der Überzeugung, dass die einzige demokratische Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts ein Staat vom Jordan bis zum Mittelmeer mit gleichen Rechten für alle Bürger ist, unabhängig von Religion oder ethnischer Zugehörigkeit.

Avi Shlaims Buch »Genozid in Gaza. Israels langer Krieg gegen Palästina« erscheint am 28. August im Melzer Verlag. 

Quelle:  overton-magazin.de… vom 24. August 2025

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