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Frankreich: Breite Wut nach diktatorischer Durchsetzung der Rentenkürzung

Eingereicht on 18. April 2023 – 11:17

Alex Lantier. Am Freitag um 18 Uhr erklärte der französische Verfassungsrat die Rentenkürzungen von Präsident Emmanuel Macron für verfassungskonform. Damit ist das letzte rechtliche Hindernis für ihr Inkrafttreten beseitigt. Eine Viertelstunde später gab der Elysée-Palast bekannt, Macron werde die Rentenkürzungen innerhalb von 48 Stunden zum Gesetz erklären.

Die vorhersehbare Zustimmung des Rats zu einem Gesetz, das von 80 Prozent der französischen Bevölkerung abgelehnt wird und das Macron ohne Abstimmung im Parlament durchgepeitscht hat, reißt dem kapitalistischen Staat erneut die „demokratische“ Maske vom Gesicht. Es setzt das Diktat der Banken durch, die vor dem Hintergrund des Nato-Kriegs gegen Russland in der Ukraine eine massive Umverteilung der Sozialausgaben zur Stärkung des Militär- und Polizeiapparats planen. Der Kampf gegen die Rentenkürzungen kann nur als politischer Kampf gegen den gesamten kapitalistischen Staatsapparat geführt werden.

Die Entscheidung des Rats entlarvt auch die Kräfte in der Gewerkschaftsbürokratie und den pseudolinken Parteien, die vor „Gewalt“ vonseiten der Demonstranten gewarnt und den Arbeitern geraten haben, ihr Hoffnungen in die „Vermittlung“ der Gewerkschaften mit Macron zu setzen. Alle Beteiligten, einschließlich der Massen von Arbeitern und Jugendlichen, wussten sehr genau, dass Macron die „Vermittlung“ ignorieren würde. Andererseits unterstützten zwei Drittel der französischen Bevölkerung einen Generalstreik, um die Wirtschaft lahmzulegen und Macron zu stürzen.

Die Bürokraten haben lediglich versucht, die Wut der Massen mit reaktionären und sinnlosen Versprechen, dass sie die Gespräche mit Macron wieder aufnehmen, zu zermürben und zu demobilisieren.

Nach Bekanntgabe der Entscheidung kam es am Freitagabend in mehr als 100 Städten in ganz Frankreich zu Protesten und Ausschreitungen. In Rennes gab es schwere Zusammenstöße zwischen der Polizei und Demonstranten, die eine Polizeiwache stürmten und niederbrannten und die Tür der Kirche des Jakobinerklosters anzündeten. Außerdem kam es zu Zusammenstößen in Grenoble und Lyon, wo schwer bewaffnete Bereitschaftspolizisten das Viertel Croix-Rousse abriegelten.

In Paris, wo die Gebäude des Verfassungsrats durch ein massives Polizeiaufgebot und ein Demonstrationsverbot geschützt wurden, versammelten sich mehrere tausend Demonstranten auf der Place de Grève vor dem Rathaus. Sie zogen zunächst nach Westen zum Elysée-Palast, wurden aber durch mehrere Angriffe der Polizei zurückgedrängt und zogen schließlich zur Place de la République. Die ganze Nacht hindurch kam es zu Zusammenstößen zwischen Polizisten und jugendlichen Demonstranten, die Mülltonnen in Brand setzten.

Der französische Verfassungsrat ist ein Gremium aus nicht gewählten Reaktionären, die von den jeweils regierenden Präsidenten für eine neunjährige Amtszeit ernannt werden. Eines seiner führenden Mitglieder ist der verurteilte Veruntreuer und ehemalige Premierminister Alain Juppé, der 1995 mit dem ersten Plan für Rentenkürzungen, vier Jahre nach der stalinistischen Auflösung der Sowjetunion, Massenstreiks der Eisenbahner provoziert hatte. Der Präsident des Verfassungsrats ist der Sozialdemokrat Laurent Fabius, dessen Regierung in den 1980ern sämtliche Bluter in Frankreich mit Aids-verseuchtem Blut infizieren ließ. Damit er dafür nicht verurteilt werden konnte, wurden Gesetze geändert.

Wenig überraschend traf der Rat eine unrechtmäßige und undemokratische Entscheidung, die den kapitalistischen Staat als Ganzes diskreditiert. Er nahm nur geringfügige Änderungen an den Kürzungen vor und strich einige „soziale“ Maßnahmen – wie die Pflicht, Unternehmen zu melden, die ältere Arbeiter zu Gunsten von jüngeren und billigeren Arbeitern entlassen. Diese Maßnahmen hatte Macron als bedeutungsloses Zugeständnis an die Gewerkschaftsbürokraten hinzugefügt.

Arbeiter und Jugendliche müssen ihren Widerstand gegen diese undemokratischen Rentenkürzungen und das brutale Polizeistaatsregime unter Führung von Macron fortsetzen, das ihnen die Kürzungen aufzwingen will. Doch um diesen Kampf zu führen, stehen sie unmittelbar vor der Aufgabe, eine Bewegung der Basis aufzubauen – unabhängig von den Gewerkschaftsbürokratien, die Macron zu schützen versuchen. Die ersten Reaktionen der Gewerkschaftsbosse und der pseudolinken Politiker auf die Entscheidung des Verfassungsrats haben deutlich gemacht, dass sie die Bewegung weiterhin mit Aufrufen zu regelmäßigen Protesten ohne jede Perspektive zermürben wollen.

Jean-Luc Mélenchon, dessen Partei Unbeugsames Frankreich (LFI) die Koalition Nouvelle union populaire écologique et sociale (NUPES) mit den Resten der sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien anführt, reagierte unmittelbar auf das Urteil und twitterte: „Die Entscheidung des Verfassungsrats zeigt, dass er sich mehr für die Bedürfnisse der Präsidialmonarchie interessiert als für diejenigen des souveränen Volks. Der Kampf geht weiter und muss an Stärke zunehmen.“

Später am Abend betonte Mélenchon auf Twitter erneut, er und seine Verbündeten wollten eng mit der Gewerkschaftsbürokratie zusammenarbeiten, um die politische Kontrolle über die Kämpfe der Arbeiter zu behalten. Er schrieb: „Die außergewöhnliche Gewalt der Entscheidungen des Verfassungsrats erfordert eine umfassende Koordination zwischen der NUPES und den Gewerkschaften, um den Kampf fortzusetzen und den Widerstand zu beherrschen. Wir warnen vor Wut und Verzweiflung.“

Mélenchons Aufruf, den „Widerstand zu beherrschen“ zielt nicht darauf ab, die soziale Wut zu mobilisieren und ihr eine Perspektive zu geben, sondern soll die Wut in die Sackgasse der gewerkschaftlichen „Vermittlung“ mit Macron lenken. Tatsächlich erhielt Mélenchon bei den Präsidentschaftswahlen im letzten Jahr fast acht Millionen Stimmen, vor allem in den Arbeitervierteln der französischen Großstädte. Ein Aufruf an seine Wähler, sich an Massenstreiks zum Sturz Macrons zu beteiligen, könnte die französische Wirtschaft schnell zum Erliegen bringen, was die große Mehrheit der französischen Bevölkerung unterstützt.

Mélenchon hat es jedoch unterlassen, einen derartigen Aufruf zu machen, und hat stattdessen den Gewerkschaftsführern absurderweise vorgeschlagen, einen Generalstreik durchzuführen, obwohl diese nichts dergleichen vorhaben. Weil die Gewerkschaftsbosse jedoch immer noch befürchten, diese Bewegung nicht beenden zu können, ohne eine Streikwelle zu provozieren, die sich ihrer Kontrolle entzieht, rufen sie weiterhin zu Streiks auf, während sie gleichzeitig versuchen, die Bewegung zu zermürben.

Die Finanzjournalistin und Vorsitzende der Managergewerkschaft Sophie Binet, die vor kurzem zur Vorsitzenden der stalinistischen CGT-Bürokratie gewählt wurde, richtete einen ohnmächtigen Appell des Gewerkschaftsbündnisses an Macron, „Weisheit“ zu zeigen und die gerade erst durchgesetzten Rentenkürzungen zurückzunehmen.

Sie lehnte Macrons Einladung an das Gewerkschaftsbündnis zu Verhandlungen am kommenden Dienstag ab und rief zu einem „historischen Teilnehmer-Tsunami“ bei den Protesten am 1. Mai auf. Binet erklärte: „Wir werden den Präsidenten nicht treffen, wenn er die Kürzungen zum Gesetz erklärt. Aber wenn er sie zurücknimmt, werden wir mit großem Vergnügen Gespräche mit ihm führen.“

Angesichts der massiven Wut der Arbeiterklasse versuchten gewisse politische Verbündete der Gewerkschaftsbürokratien, die Äußerungen über das „große Vergnügen“ eines möglichen Treffens mit Frankreichs Präsident der Reichen einzuschränken und sich „kämpferischer“ zu geben. Olivier Besancenot, der ehemalige Kandidat der pablistischen Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA), erklärte beispielsweise auf Twitter: „Hier liegt die Fünfte Republik begraben, 1958–2023, Ruhe in Frieden. Der Kampf geht weiter!“

Aus dem Munde der kleinbürgerlichen Verbündeten der Gewerkschaftsbürokraten, die den Widerstand gegen Macron und das Polizeistaatsregime demobilisieren wollen, sind Proklamationen über das Ableben der Fünften Republik politisch wertlos. Der Klassenkampf hat bestätigt, dass diese pseudolinken Gruppen versuchen, die Arbeiter an eine bankrotte Perspektive des bürokratischen „Sozialdialogs“ mit einem kapitalistischen Staat zu binden, der jetzt unverhohlen gegen die Bevölkerung regiert.

Während die soziale Wut weiterhin zunimmt, bleibt die entscheidende Aufgabe, einen Generalstreik vorzubereiten, um Macron zu stürzen – den Investmentbanker, Verantwortlichen für die Rentenkürzungen und den Mittelpunkt der Polizeistaatsverschwörungen gegen die Arbeiter. Mit der Entscheidung des Verfassungsrats geht jedoch eine Phase des Kampfs gegen Macron zu Ende. Es hat bestätigt, dass es innerhalb der bestehenden staatlichen Struktur und ihrer offiziellen Kanäle keinen „demokratischen“ Weg gibt, durch „Sozialdialog“ Widerstand gegen das Diktat der Banken zu leisten.

Die Aufgabe besteht jetzt darin, von unten eine Massenbewegung der Arbeiterklasse aufzubauen, die in Aktionskomitees organisiert ist, um Macron zu stürzen – und eine politische Bewegung aufzubauen, die die Staatsmacht an die Organisationen der Arbeiterklasse überträgt.

Quelle: wsws.org/… vom 18. April 2023

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