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Einkommenspolitik: Gewerkschaften am Ende?

Eingereicht on 28. März 2018 – 11:43

Pino Sergi. Sogar dem äusserst gemässigten christlichen Gewerkschaftsverband Travail Suisse ist der Kragen geplatzt und er hat anlässlich einer Pressekonferenz Ende Januar seiner Enttäuschung ob dem Ausgang der Lohnverhandlungen für 2018 freien Lauf gelassen; diese Verhandlungen waren dann praktisch in allen öffentlichen und privaten Bereichen abgeschlossen.

Die Analyse von Travail Suisse ist klar: «Für einen grossen Teil der Lohnabhängigen werden die Löhne für 2018 zwischen 0.5 und 1 % steigen. Dieses Ergebnis ist ungenügend, vor allem wenn man die Entwicklung der Teuerung berücksichtigt. Nach einer längeren Periode mit praktisch keiner Teuerung hat die Inflation im Jahr 2017 erneut angezogen und beträgt über das ganze Jahr ungefähr 0.5 %. Die Krankenkassenprämien sind ebenfalls stark angestiegen. Gemäss dem Bundesamt für Statistik sind die verfügbaren Einkommen 2017 um 0.3 % geschrumpft. Die Mehrheit der Arbeitenden wird deshalb ungeachtet der Lohnerhöhungen nicht über mehr Geld in ihrem Budget verfügen.»

Dazu kommt, dass die Erhöhungen seit Jahren vor allem individuell erfolgen und nicht generell. In anderen Worten, diese Erhöhungen beruhen auf einseitigen Unternehmerentscheiden, gründen auf Willkür, und entsprechen nicht den legitimen Rechten der Lohnabhängigen, die jedem und jeder zustehen.

In die gleiche Richtung geht die Tatsache, dass die Minimallöhne, wie sie in den Kollektivverträgen geregelt sind, seit Jahren blockiert sind und höchstens schwach erhöht wurden. Und dies angesichts der Tatsache, dass in zahlreichen Bereichen ein grosser Teil der Arbeiter und Arbeiterinnen zum Minimallohn beschäftigt werden – und dies über eine längere Zeitspanne. Damit wird die Lohnentwicklung für alle Lohnabhängigen zusätzlich gebremst.

Und dies in einem objektiv günstigen Umfeld…

Und dabei waren aus gewerkschaftlicher Sicht die Bedingungen für Lohnverhandlungen selten so günstig: Ein starkes Produktivitätswachstum, hohe Profitraten – die Unternehmen heimsen seit fünf, sechs Jahren Rekordprofite ein –, wieder steigende Exporte dank dem Erstarken des Euro und dem schwächer Werden des Schweizer Frankens, dem prognostizierten Wirtschaftswachstum für 2018, Einige Analysebüros prognostizieren gar ein Wachstum des BIP von 2.5 %.

Aber diese günstigen objektiven Bedingungen für die Unternehmer hält diese politisch nicht davon ab, noch mehr als früher schon auf die Maximierung ihrer Profite zu setzen; sie begründen diese ihre Politik mit einer immer raueren internationalen Konkurrenz. In diesem Sinne treten sie bei den Verhandlungen und in ihren politischen Interventionen nicht mehr nur mit rein wirtschaftlichen Argumenten auf, sondern mit einem klar ideologischen Gestus. Die Botschaft ist deutlich: «Die Lohnarbeit in der Schweiz muss noch billiger werden».

Gegenüber dieser entschlossenen und klaren Ausrichtung hat die Gewerkschaftsbewegung (oder was davon übriggeblieben ist) ihre ganze Beschränktheit bestätigt – wenn denn dies noch nötig gewesen wäre. Wir möchten hier auf zwei schwere Defizite hinweisen:

Das erste betrifft ihre zunehmende strukturelle Schwäche, sowohl in qualitativer wie auch quantitativer Hinsicht. In absoluten Zahlen kann nun seit kurzem der Mitgliederstand über alle Gewerkschaften hinweg zwar nach einer längeren Phase des Schwundes gehalten werden. Aber gleichzeitig ist die Zahl der Lohnabhängigen über die vergangenen zwanzig Jahren gestiegen, was auf einen sinkenden Organisationsgrad hindeutet. Diese quantitative Schwächung ist hingegen weniger entscheidend als der Verlust der Fähigkeit, die Lohnabhängigen an ihrem Arbeitsplatz zu organisieren, was ja gerade die Besonderheit der Gewerkschaften ausmachen würde, ja ihr spezifisches Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen Arten von Organisationen darstellt. Seit langem schon ist in vielen Sektoren die Präsenz einer Gewerkschaft für die Arbeitsbedingungen und das Schicksal der Lohnabhängigen nahezu ohne Bedeutung.

Das zweite Defizit liegt in der ideologischen Ausrichtung der Gewerkschaften, die nach einer Öffnung für eine kämpferischere Praxis um die Jahrtausendwende wieder zu einer Politik der Abstimmung mit den Unternehmern zurückgekehrt sind; sie konzentrieren sich nurmehr auf Kollektivverträge, die für die betroffenen Lohnabhängigen kaum Verbesserungen bringen und die ohne deren aktive Beteiligung abgeschlossen werden. Als Beispiel möchten wir den nationalen Vertrag der Temporärarbeitenden anführen, der wichtigste, was die Anzahl der Betroffenen anbelangt. Diese jedoch wurden de facto nicht einmal befragt.

«Die Gewerkschaft Unia ist zwar in der Baubranche stark, aber…»

Um das Ausmass der Schwäche der Aktionsfähigkeit der Gewerkschaftsbewegung zu verstehen, sei die Entwicklung der Unia betrachtet und speziell in dem Sektor, wo noch eine gewisse gewerkschaftliche Präsenz vorhanden ist und wo eine hoher Organisationsgrad aufrechterhalten wurde: der Bausektor.

Dort hat sie eine gewerkschaftliche Präsenz, die von der GBI (Gewerkschaft Bau und Industrie) übernommen wurde, die dann 2004 mit dem SMUV (Schweizerischer Metall- und Uhrenarbeiterverband) zur Unia fusionierte. Die GBI stand für die gewerkschaftliche Erneuerung der 90er und des Beginns der 2000er Jahre; sie mobilisierte bei mehreren Gelegenheiten die Bauarbeiter – insbesondere in der Romandie und im Tessin. Der Streik wurde zu einem vertrauten Mittel des sozialen Konfliktes mit den Unternehmern, sowohl für die Bauarbeiter, die seine Legitimität nicht mehr infrage stellten, wie auch für die Lohnabhängigen in den anderen Sektoren, die mit wachsender Sympathie auf die Arbeiterinnen und Arbeiter schauten, die den Mut aufbrachten, die Unternehmer im Kampfe herauszufordern.

Von dieser ruhmreichen Vergangenheit ist nichts mehr übriggeblieben, ausser etwa als selbstbeweihräuchernde Spuren, die man beispielsweise auf der Unia Seite finden kann: «Auf dem Bau ist die Unia besonders stark. Nirgends sind so viele Arbeitnehmende Mitglied einer Gewerkschaft wie hier…. Der Landesmantelvertrag (LMV) definiert die Arbeitsbedingungen für rund 80’000 Bauarbeiter und ist einer der wichtigsten Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz. Mit erfolgreichen, von den Bauarbeitern getragenen Kampagnen hat die Unia den LMV über die Jahre gestärkt und die Frühpensionierung erkämpft. In vielen Bauberufen sind die Arbeitsbedingungen deshalb gut. Allerdings sind noch nicht alle Probleme gelöst.»

Seit einiger Zeit entspricht die Lage allerdings nicht mehr dieser Beschreibung. Die Ergebnisse der Lohnverhandlungen für 2018 demonstrieren dies zum x-ten Male. Sie sind nur die vorläufig letzte in einer Reihe von erfolglosen jährlichen Lohnrunden; besorgniserregender ist die Tatsache, dass sie auch keine Mobilisierungen mehr in Betracht zieht, um Lohnerhöhungen zu erreichen. Die Unia hat immerhin substantielle Erhöhungen gefordert: 150 Franken für alle auf dem Bau.

Vernichtende Resultate

Im Bausektor erhalten die Arbeiterinnen und Arbeiter jedoch keinen Rappen Lohnerhöhung! Und dies im dritten aufeinanderfolgenden Jahr! Für Arbeiterinnen und Arbeiter in den bauverwandten Branchen (Schreiner/Zimmerleute, Granitindustrie, Plattenleger, Gipser, usw.) desgleichen. Die Situation im Baubereich ist von besonderer Bedeutung, da die Verhandlungen seit drei Jahren ohne Vertrag – nicht einmal einem schlechteren – endeten. Die Unternehmer gewähren nurmehr individuelle Lohnerhöhungen. Sollte diese Situation andauern, fragen sich die Lohnabhängigen zu Recht, weshalb sie überhaupt in einer Gewerkschaft sein sollten.

Auch in anderen Sektoren ist die Lage nicht besser. So wurde in der Industrie ebenfalls eine substanzielle Erhöhung um 1.5 bis 2 % (ungefähr 100 Franken) gefordert, im Detailhandel 1.5 %, im Bereich der Restaurations- und Hotelbetriebe 2 %. In der Industrie gibt es nur individuelle Lohnerhöhungen und diese haben bislang nie mehr als ein halbes Prozent betragen. Im Detailhandel gibt es keinen nationalen Vertrag, nur Reglemente in den grossen Firmen. So haben Migros und Coop, um uns auf die grössten Verteiler zu beschränken, beschlossen, für die individuelle Lohnerhöhung nur bescheidene Summen aufzuwenden (0.5 bis 0.9 % bei der Migros und 0.5 % der Lohnsumme bei der Coop). Generelle Lohnerhöhungen gibt es auch da nicht. Migros bemerkt dazu: «Lohnerhöhung werden aufgrund persönlicher Kriterien gewährt, wie aufgrund der bekleideten Funktion, der Leistungsbewertung und unter Berücksichtigung struktureller Erfordernisse».

Wenn wir uns hierbei speziell auf die Unia beziehen, so, weil sie in gewissen Branchen noch den Anschein einer wirklichen Gewerkschaft erweckt und zum Teil wirkliche Beziehungen mit den Lohnabhängigen unterhält. Wir wagen nicht, über die Verhältnisse in den Branchen zu schreiben – seien sie nun öffentlich oder privat –  wo die Gewerkschaften nurmehr die Funktion einer besseren «Personalabteilung» einnehmen.

Aus einer allgemeinen Warte haben die Lohnverhandlungen von Ende 2017 nur einen offenbar endlosen Niedergang bestätigt, der in den Augen der Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich um ihre Arbeitsbedingungen sorgen, die Rolle der Gewerkschaften als nebensächlich erscheinen lässt.

Für alle, die eine wirkliche Gewerkschaftsbewegung wollen, die diesen Namen verdient, ist die Zeit gekommen, in eine ernsthafte und vertiefte Debatte zu treten.

Quelle: mps-ti.ch… vom 27. März 2018; Übersetzung aus dem Italienischen durch Redaktion maulwuerfe.ch

 

 

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