Deutschland: Organisieren und kämpfen bei Amazon
Christian K. arbeitet seit 10 Jahren als Amazon-Lagerarbeiter in Bad Hersfeld in Hessen. Dort wurde das erste Amazon-Lager in Deutschland eröffnet. Er ist in der Gewerkschaft ver.di engagiert als Vertrauensmann, in der Tarifkommission und im Betriebsrat, und aktiv bei Organisieren – Kämpfen – Gewinnen, einem Projekt, das zur Vernetzung von Aktivistinnen und Aktivisten in den Betrieben und Gewerkschaften beitragen möchte, um eine starke Stimme für eine bewegungsorientierte Gewerkschaftspolitik zu schaffen. Christian hat am Anderen Davos 2019 in Zürich über die Arbeitskämpfe bei Amazon gesprochen. Wir veröffentlichen hier seine Intervention. (Red. BFS)
hier gibt es den Workshop mit Christian am Anderen Davos 2019 zum Nachhören: Workshop: Streiken 4.0. Arbeitskämpfe bei Amazon in Deutschland by BFS Zürich
Christian K. Zuerst Allgemeines zu Amazon: Amazon ist laut eigenen Angaben der weltgrösste online-Versandhändler. Doch schon diese Information muss relativiert werden, weil es in China viel grössere online-Versandhändler gibt. Ausserhalb Chinas jedoch trifft dies auf jeden Fall zu. Interessant ist dabei aber, dass Amazon nicht nur in dieser Sparte tätig ist, sondern mittlerweile in vielen anderen Bereichen auch, beispielsweise im Cloud Service, also der Bereitstellung von Rechen- und Speicherkapazität, wo unter anderem auch die US-Regierung und Geheimdienste ihre Daten auf deren Servern speichern. Dann ist Amazon auch ins Streaming-Geschäft eingestiegen. Filme und Musik können über die Amazon Streaming-Dienste bezogen werden, beziehungsweise Amazon produziert sogar seine eigenen Filme. Amazon macht den Buchverlagen Konkurrenz und löst sie nach und nach ab, indem sie eigene ebooks rausbringen. Amazon ist auch in das Robotics-Geschäft eingestiegen, sie haben eine Roboterfirma aufgekauft, die moderne Technologie erfindet und herstellt, um Lager zu betreiben. Sie betreiben electronic payment, also eine Art Bank, durch die man elektorinisch zahlen kann. Es gibt mittlerweile sogar eine eigene Amazon-Währung. Und Amazon zielt darauf ab, den Logistiksektor zu erobern, und dies nicht nur für das eigene Geschäft, sondern es geht darum, die Postdienste mit eigenen LKW-Flotten und eigenen Fluglinien abzulösen.
Was man sonst noch so hört von Jeff Bezos (CEO) – sie fantasieren in den USA ziemlich viel rum, auch wenn man nicht genau weiss, was davon umgesetzt wird – ist die Gründung von Krankenkassen, zunächst für die eigenen Beschäftigten, was fatal wäre. Und das eigentlich Gefährliche ist an Amazon meiner Meinung nach, dass sie eine Unmenge an Daten über zig Millionen von Menschen weltweit sammeln. Das klingt zuerst mal harmlos, aber Amazon kann Zusammenhänge herstellen über data mining, über Menschen und Menschengruppen. Daraus kann Amazon Informationen über uns und über eine Masse an Menschen ziehen, Informationen, die wir selber von uns gar nicht kennen.
Werfen wir einen Blick auf Amazon in Deutschland. Deutschland stellt den zweitgrössten Markt für Amazon dar nach den USA. Der jährliche Umsatz beträgt rund 15 Milliarden Euro und Amazon wächst jährlich bis zu 30 Prozent. Dieses Wachstumsziel wird intern bei uns ziemlich aggressiv propagiert.
Amazon betreibt in Deutschland zehn bis zwölf grosse Lager. Die Zahl ist nicht so genau, weil sich im Moment sehr viel bewegt, fast wöchentlich ist Amazon in den Zeitungen und kündigt die Eröffnung neuer Lager an. Tatsächlich sind mittlerweile auch zwei davon von Robotern betrieben. In den Lagern arbeiten im Durchschnitt 2000 bis 4000 Kolleginnen und Kollegen. Um die Nachfrage des deutschen Marktes zu bedienen, betreibt Amazon weitere Lager in Polen und Tschechien, die noch viel grösser sind. So werden rund 55% der deutschen Nachfrage aus Polen bedient.
Wie in den herkömmlichen Lagern, gehören zu unseren Tätigkeiten: die Warenannahme; die Warenerfassung in die Datenbank des Systems; Wareneinlagerung, also die Lagerung der Waren an bestimmte Orte. Es handelt sich hierbei um ein chaotisches Lagerhaltungssystem, wir können also mehr oder weniger selbst entscheiden, in welches Regal wir die Ware stellen und entsprechend das Fach abscannen. Bei Amazon werden die Waren also nicht nach Produktgruppen geordnet. Schliesslich haben wir noch die Kommissionierung, das sogenannte Picken: Wenn eine Bestellungen reinkommen, holen wir die entsprechenden Waren aus den Regalen und packen sie in die bekannten Amazon Kartons ein.
Rund herum gibt es natürlich noch die Support-Tätigkeiten: die Personalabteilung, die Technikabteilung, die IT, die Inventur und die Qualitätsabteilung.
Zu den Arbeitsbedingungen bei Amazon
Die Presse hat schon sehr viel über die Arbeitsbedingungen bei Amazon in Deutschland berichtet. Ich selber habe 2009 bei Amazon begonnen zu arbeiten. Damals lag der Einstiegslohn bei 8.50 Euro. Das gehörte nach OECD-Messungen zum Niedriglohnbereich. Tatsächlich gab es seit 2006 keine Lohnerhöhungen mehr, auch wenn die Inflation in dieser Periode bei 10 Prozent lag.
Rund 80 Prozent der Kolleginnen und Kollegen waren damals nur befristet beschäftigt. Es handelte sich dabei um kurze Befristungen, die sich über einen längeren Zeitraum von bis zu zwei Jahren ausdehnten. Jeweils am letzten Arbeitstag nach der letzten Schicht wurde mitgeteilt, ob der Beschäftigte eine Festanstellung erhalten würde oder gehen musste. Die Arbeiter wurden mit weiteren 500 Kolleginnen und Kollegen in einen Raum gerufen, und dort wurde die Entscheidung kommuniziert.
Auch herrschte damals ein hoher Leistungsdruck bei Amazon. Das lag zum einen daran, dass die Arbeitsverhältnisse befristet waren und erwartet wurde, dass man in einer bestimmten Zeit eine bestimmte Anzahl an Waren pro Stunden schaffe. Zum anderen wird man stark kontrolliert, da wir ja mit dem Computer und Scanner arbeiten, die in Echtzeit unseren Arbeitsrhythmus auswerten. So weiss Amazon in Seattle oder sonst wo auf der Welt, wer wie viel arbeitet, was wiederum Druck auf die Arbeitenden erzeugt. Wir haben zwar keine Akkordverträge, denn diese sind im deutschem Recht verboten. Die Befristung suggeriert jedoch, dass du einen bestimmten Rhythmus haben musst, willst du nicht entlassen werden. In anderen Ländern, wo die Rechte nicht so ausgeprägt sind wie in Deutschland, da gibt es tatsächlich auch noch Akkordverträge. Die polnischen Kolleginnen und Kollegen haben uns zum Beispiel erklärt, dass sie entlassen werden, wenn sie vier Mal die vorgegebene Zahl nicht erreichen.
Zudem herrscht eine sehr hohe Fluktuation bei Amazon. In unserem Standort arbeiten zurzeit 3500 Arbeiterinnen und Arbeiter, seit der Eröffnung des Lagers sind aber insgesamt schon 18.000 Leute beschäftigt gewesen.
Damals gab es auch noch keine ergonomischen Arbeitsplätze. Die Arbeitsorganisation von Amazon folge dem Prinzip des standard work: Weltweit und in jedem Lager sollten die Arbeitsplätze genau gleich aussehen, unabhängig von den Unterschieden in Grösse, Alter etc. der Arbeiterinnen und Arbeiter.
Das ist auch eine Erklärung dafür, warum in den USA die Leute nicht länger als zwei Jahre bei Amazon arbeiten. In Deutschland hingegen kenne ich Kolleginnen und Kollegen, die jetzt schon seit 20 Jahren bei Amazon tätig sind. Eine solch monotone Tätigkeit, bei der auch der Kopf im Endeffekt ausgeschaltet ist, macht sich über all die Jahre bemerkbar. So sagen auch viele, dass man beim Einstempeln den Verstand an der Stempeluhr abgibt. Und die Unternehmensführung hat noch nie irgendein Gesundheitsmanagement entwickelt.
Auch die Raumorganisation ist für die Gesundheit der Arbeiterinnen und Arbeiter nichts Gutes. In den Hallen, die sich über vier Fussballfelder erstrecken, sind die begehbaren Regalsysteme über vier Stockwerke eingebaut. Diese werden auch peak tower bezeichnet. Nur ist die Lagerhalle dafür nicht eingerichtet, denn das Regalsystem wurde nachträglich in die Lager eingebaut. Die Lagerräume sind beispielsweise nicht isoliert, wenn man dann im Sommer auf der obersten Ebene arbeitet, wird es brütend heiss, so dass die Leute reihenweise umkippen. Der Krankenwagen war eine Zeit lang auch täglich vor Ort.
Diese Arbeitssituation hat zu einer äusserst hohen Krankenquote geführt. Befristet Beschäftigte wurden offiziell weniger krank, das bedeutete aber, dass sie einfach entsprechend krank zur Arbeit kamen, weil von Amazon suggeriert wurde, dass bei Krankheit der Vertrag nicht verlängert wurde. Das gilt auch heute noch als Kriterium für die Vertragsverlängerung. Die Krankenquote lag zwischen 20 und 30 Prozent, in einzelnen Abteilungen sogar bei über 30 Prozent. In Deutschland liegt der Durchschnitt im Logistikbereich hingegen bei 5 Prozent. Und auch diese Quote wird auch schon als zu hoch kritisiert.
Wenn Kolleginnen und Kollegen von ihrer Arbeit erzählen, dann sagen sie auch, dass die Arbeiter im Endeffekte keine eigenständigen Entscheidungen treffen, sondern im Arbeitsprozess nur eine Lücke gefüllt wird, die keine Maschine füllen kann. In den Amazon-Lagern sind wir also nur Teil einer Maschinerie und führen nur das aus, was uns der Computer im Endeffekt befiehlt.
Zur Führungskultur bei Amazon
Die Leute, die früher bei Amazon gearbeitet haben, kannten damals ihre Rechte nicht. Wir hatten zwar einen Betriebsrat, der war aber weitgehend ignoriert und isoliert und wurde nicht aufgesucht von den Kolleginnen und Kollegen. Er hatte aber auch aufgrund der Rhetorik der Manager einen sehr kleinen Einfluss im Betrieb.
Es gibt sogenannte all hands bei Amazon. Dabei handelt es sich um eine Versammlung, an der alle Arbeiterinnen und Arbeiter zusammen sitzen und der Chef erzählt von einer success story; oder davon, dass Jeff Bezos wieder 20 Milliarden mehr erwirtschaftet hat und die Aktien gestiegen sind.
Solche Momente haben wir jeweils hingenommen und viele Leute glaubten tatsächlich daran und applaudierten, weil die Geschichten so überzeugend präsentiert wurden. Ich kam damals aus einem anderen Betrieb, in dem Arbeitskämpfe auch an der Tagesordnung waren und erlebte eine solche erste Veranstaltung. Wir sassen alle auf Bierzeltbänken und der Chef hat unter anderem gesagt, dieses Jahr gäbe es zum siebten Jahr in Folge keine Lohnerhöhung. Aber irgendwo in den USA hätte ein neues Roboterlager aufgemacht und das sei ein grosser Fortschritt für uns alle. Tatsächlich stellten sich alle auf die Bänke und applaudierten. Und auch während den Versammlungen des Betriebsrates wurden keine Fragen gestellt von den Kolleginnen und Kollegen, alles schien sehr harmonisch zu funktionieren.
Die Wende
Mit der vorgeblichen Harmonie ging es weiter bis in die Jahre 2010 und 2011. Bis 2006 gab es noch minimale Lohnerhöhungen von jährlich 0.5 Prozent. Seither gab es aber nichts mehr und auch in jenem Jahr blieb die Lohnerhöhung aus, obwohl Amazon ein Wachstum von rund 50 Prozent aufwies. Die Stimmung war also relativ schlecht und es begann sich ein Unmut breit zu machen.
In jener Zeit begann die Gewerkschaft ver.di ein organizing-Projekt. Ver.di war in der Region schon in einem anderen Betrieb anwesend, in dem die Belegschaft auch schon organisiert war und für einen Tarifvertrag gestreikt hatte. Die Gewerkschaft betrachtete Amazon immer als ein gewerkschaftliches Niemandsland, doch einige Sekretäre wagten den Schritt und kamen mal an eine Betriebsversammlung. Sie erzählten uns vom Tarifvertrag, aber niemand verstand dabei etwas. Die Gewerkschafter kamen bei der Belegschaft nicht gut an, sie wurden als Externe angesehen. Niemand hatte gewerkschaftliche Erfahrungen und die Enttäuschung von der Politik war gross. Darum waren die Kolleginnen und Kollegen dann auch eher skeptisch.
Die Gewerkschaftsleute blieben aber hartnäckig, sind zu den Betriebsversammlungen gekommen und haben viel Ablehnung hingenommen. Einer hat dann an einer Betriebsversammlung folgendes gesagt: „Wir kennen eure Probleme nicht und wir haben auch keine Lösung dafür. Aber wir wissen, dass ihr Probleme habt und wir haben einen Raum und eine Kiste Bier. Wenn ihr darüber sprechen wollt, dann könnt ihr euch da treffen.“
Wir wissen ja, Bier kommt immer gut an, und so haben wir begonnen, regelmässige Treffen zu organisieren. Schnell wurde uns klar, dass unsere individuellen Probleme eigentlich von fast allen Kolleginnen und Kollegen geteilt wurden. Das muss man zuerst mal verstehen.
Organisierung klingt zuerst einmal ja ganz leicht: Wenn man keine Lohnerhöhung bekommt, dann muss man sich organisieren. Aber wenn man in solchen Situation steckt, dann scheinen diese ganzen Probleme selbstverschuldet zu sein. Das vorherrschende Wirtschaftsmodell redet uns das täglich ein. Die Politik, die Presse, alle sagen uns: „Wenn du krank wirst, dann bist du selber Schuld. Wenn dein Lohn zu niedrig ist, dann ist es deine Schuld, warum warst du dann nicht an der Uni? Warum hast du nichts für deine Karriere getan?“
Es handelte sich also zuerst einmal um einen Selbstfindungsprozess, den wir untereinander hatten. Wir haben dann sehr schnell identifiziert, dass kollektive Probleme vorliegen, die lösbar sind, wenn wir uns irgendwie zusammentun. Mit dieser Erkenntnis sind wir also in den Betrieb rein und haben angefangen, uns untereinander darüber zu unterhalten. Angefangen hat das in der Kantine. Und wenn zwei, drei darüber reden, bekommen in einer Kantine noch zehn weitere Leute die Diskussion mit. Das ging dann ganz schnell, die Leute haben sich eingemischt.
Anfänglich wurden nicht die grossen Probleme wie Lohn oder Tarifvertrag thematisiert, sondern es ging um das Raumklima und ähnliches. Durch diese Diskussionen begannen sich die Kolleginnen und Kollegen für die Gewerkschaft zu interessieren. Die Treffen wurden grösser und wir fingen an, eigene Flugblätter zu schreiben. Wir wollten keine vorformulierten Texte auf teurem Papier drucken, sondern wir wollten alles selber machen, auch wenn das Resultat nicht ganz so gut war. Das kam bei den anderen Kolleginnen und Kollegen gut an und wir hatten innerhalb kürzester Zeit eine relativ hohe Zahl an Gewerkschaftsbeitritten: In wenigen Monaten sind wir von 70 Altmitgliedern und 15 Aktiven auf über 400 Mitglieder angewachsen.
Die basisdemokratische Organisationsform
Für uns war seit Beginn an wichtig, uns basisdemokratisch zu organisieren. Das war auch die Einstellung unserer organizer, denn sie sagten uns immer: „Wir machen nichts für euch, wir sind nur die Sekretäre. Wir schreiben die Protokolle oder stellen Geld zur Verfügung. Aber alles andere müsst ihr selbst machen.“ Das hat dann auch relativ gut geklappt.
Unser Ansatz hat auch viele angezogen, weil eben nicht irgendjemand von aussen kommt und für die Kolleginnen und Kollegen machen, sondern alles von uns selber getragen wurde. So haben wir dann auch erste Aktionen im Betrieb organisiert. Beispielsweise haben wir überall Klebezettelchen mit Fragen zum Betriebsalltag geklebt. So konnte alle sehen, dass für alle die gleichen Probleme vorherrschen im Betrieb. Das führte dann auch dazu, dass wir immer mehr Mitglieder wurden.
Dann haben wir begonnen, in der betrieblichen Öffentlichkeit Fragen an die Betriebsleitung zu stellen. Zuerst ging es um das Thema Befristung. Wir wollten von der Betriebsleitung wissen, wie viele Leute im Betrieb mit einem befristeten Vertrag arbeiten. So waren wir fähig, die Betriebsleitung in den Öffentlichkeit des Betriebs immer mehr in die Ecke zu drängen. Gleichzeitig war das ein Beweis dafür, dass man keine Angst haben muss vor einer fristlosen Entlassung, wenn man Fragen stellt. Denn das wurde uns im Betrieb vermittelt: „Wer Fragen stellt, ist am nächsten Tag weg.“ Mit unseren Aktionen konnten wir immer mehr Leute dazu ermutigen, aus ihrem Schneckenhaus zu kommen.
Der Versuch der Vereinnahmung und die Urabstimmung
Wir konnten mit unseren Aktionen also über unsere Rechte im Betrieb informieren. Die Betriebsleitung hat aber sofort reagiert und versucht, die Leute dazu zu bringen, nicht an unsere Treffen zu kommen oder über den Betriebsrat die Probleme zu deponieren, sondern im direkten, individuellen Kontakt zwischen Arbeiter*in und Betriebsleitung. Doch die Betriebsleitung löste die Probleme nicht, vor allem das Lohnproblem nicht. Und so scheiterte ihr Versuch, den Konflikt zu dämpfen. Der Druck von der organisierten Belegschaft wurde immer grösser, denn die Kolleginnen und Kollegen wollten nach beim Beitritt zur Gewerkschaft endlich erste Resultate sehen.
Und so kam es dazu, dass wir eine Urabstimmung organisierten. Wir hatten zuvor die Betriebsleitung aufgefordert, Tarifverhandlungen mit uns aufzunehmen, weil wir gemerkt hatten, dass mit einem Tarifvertrag gewisse Leistungen vertraglich garantiert wären. Ohne eine solche Regelung kann uns heute Amazon was geben und morgen wieder wegblasen. An der Urabstimmung haben sich dann über 90 Prozent für einen Streik ausgesprochen. Wir haben als Vorbereitung auf die Urabstimmung die komplette Belegschaft über den Inhalt eines solchen Tarifvertrags informiert.
Die ersten Streiks
So ist es also zu den Streiks gekommen, die auch basisdemokratisch organisiert waren. Zu Beginn gab uns die Gewerkschaft ver.di Streikdaten und Streikinhalte vor. Das hat uns aber nie gepasst, darum sind wir in die interne Auseinandersetzung mit der Gewerkschaft gegangen und haben unsere Position vertreten: Wenn wir erfolgreich sein wollen, müssen wir die Streiks selber organisieren, das heisst selber entscheiden können, wann und wie oft wir streiken und was wir während des Streiks machen.
Die Auseinandersetzung mit ver.di dauerte einige Wochen, bis die Sekretäre als auch die bundesweiten Verantwortlichen einsehen mussten, dass sie selber nicht wussten, wie die Streiks bei Amazon organisiert werden können.
Am Anfang war dann unsere Idee, dass wir mit den Streiks keinen direkten wirtschaftlichen Schaden ausrichten sollten. Es ging vielmehr darum, Zeit zu gewinnen, um uns noch besser zu organisieren. Wir nutzten die Streiks, um Organisationstreffen abzuhalten, Diskussionen zu führen, Aktionen zu planen und weiter zu wachsen.
Uns war auch gleich von Anfang an klar, dass wir nicht an einem einzelnen Standort gegen den Riesen Amazon Erfolg haben können. So haben wir begonnen, uns mit den anderen Standorten zu vernetzen, wo die Entwicklung sehr ähnlich war wie bei uns.
Als die Streiks losgingen, wurde unter den Kolleginnen und Kollegen auch sehr schnell klar, dass wir nicht nur betriebliche Probleme hatten, sondern auch politische. Da ist die Idee entstanden, nicht nur in unserer kleinen Streikbewegung zu bleiben, sondern uns auch mit anderen sozialen Bewegungen zu vernetzen. Seit Beginn an schliessen wir niemanden aus, sondern arbeiten mit allen Gruppen zusammen, die was bewegen wollen. Wir laden alle ein und fahren überall hin.
Die politische Vernetzung
Bei der EZB-Eröffnung in Frankfurt im 2015 war für uns beispielsweise ganz wichtig, bei Amazon zu streiken, weil das Arbeitsvolumen sehr gross war. So konnten wir mit unserer Gruppe zu den Demos hinfahren. Wir haben uns im Vorfeld natürlich mit der Blockupy-Bewegung vernetzt, wir haben sie zu uns eingeladen, sie hatten bei uns auch schon geholfen, die Tore zu blockieren. Und so versuchen wir eigentlich mit allen zusammenzuarbeiten.
Wir haben dann auch mit der internationalen Vernetzung begonnen, denn in Frankreich und Spanien gibt es Amazon schon länger und in Polen gab es die ersten Lagereröffnungen. Das begann alles damit, dass wir von einem Streik bei Amazon in Frankreich hörten. Wir haben uns ins Auto gesetzt und sind hingefahren, haben mit den französischen Kolleginnen und Kollegen diskutiert. Die Gewerkschaft ist kurz danach auch auf den Zug aufgesprungen und mittlerweile haben wir zwei jährliche internationale Treffen: Eines wird über die offiziellen Gewerkschaften organisiert, dort treffen sich vor allem Sekretäre; das andere ist ein selbstorganisiertes Treffen, an dem Kolleginnen und Kollegen aus Polen, Spanien und so weiter teilnehmen.
Kämpfen lohnt sich
Es wird oft erzählt, die Streiks hätten keinen Erfolg gebracht. Das stimmt überhaupt nicht. Wir haben bei einem Einstiegslohn von 8.50 Euro begonnen. Amazon hat dann in den ersten Jahren der Streiks wieder Lohnerhöhungen entdeckt. Mittlerweile liegt der Einstiegslohn bei 11.18 Euro.
Amazon hat versucht, diese Entwicklung zu verhindern, indem interne Fokus-Treffen organisiert wurden, an denen mit der Betriebsleitung über positive und negative Aspekte diskutiert werden kann. Ich habe da einmal das Weihnachtsgeschäft erwähnt, weil es für Amazon so wichtig ist: Da der Gewinn in dieser Zeit steigt, sollten sie uns ein Weihnachtsgeld bezahlen. Zuerst zeigten sie kein Interesse daran. Im selben Jahr haben wir dann mit den Streiks angefangen und auf Jahresende gab es Weihnachtsgeld. Das war ein wichtiger Erfolg.
Wie am Anfang erklärt, waren früher 80 Prozent der Leute befristet angestellt. Das hat sich nun umgekehrt, heute sind nur 20 Prozent befristet. Wir haben gelernt, uns vielmehr zu beschweren, auch über kleine Missstände, die uns im Arbeitsalltag stören. Zum Beispiel war die Schriftgrösse der ausgehängten Arbeitspläne viel zu klein. Wir haben uns dann im Betriebsrat darüber beschwert und die Vorgesetzten wurden gezwungen, Verbesserungen umzusetzen.
Das Kräfteverhältnis hat sich verändert
Die Geschäftsleitung steht mittlerweile in der Defensive. Beispielsweise werden die all hands-Veranstaltungen schon gar nicht mehr abgehalten, denn die Kolleginnen und Kollegen stellten nur noch kritische Fragen und beschuldigten die Geschäftsleitung, unfähig zu sein. Allgemein stehen die Vorgesetzten uns gegenüber oft mit gesenktem Kopf da. Die interne betriebliche Öffentlichkeit hat sich radikal verändert.
Hatten wir früher Schwierigkeiten mit den Betriebsräten, konnten wir bei den letzten Wahlen an allen Standorten die Betriebsräte erobern. Das hat uns eine riesige Spielwiese eröffnet, wir können nun gut Ärger machen. Auch die Presse berichtet immer mehr von unseren Auseinandersetzungen in den Betrieben und von den Streiks.
Der grösste Erfolg ist aber meiner Meinung nach unser grosses Netzwerk in Deutschland und Europa. Und wir versuchen vermehrt, auch darüber hinaus zu gehen, beispielsweise haben wir letztes Jahr Kolleginnen und Kollegen in China besucht und werden voraussichtlich nächstes Jahr in die USA fliegen.
Nichtsdestotrotz haben wir weiterhin Probleme: Wir streiken nach wie vor in der Minderheit und wenden eine Guerilla-Taktik an. Wie würden sich denn die Verhältnisse ändern, wenn eine Mehrheit streiken würde?
Interne Konflikte
Gerade zu Beginn hatten wir auch Probleme mit internem Gegenwind, das heisst mit Kolleginnen und Kollegen, die sich gegen uns richteten. Wir haben erlebt, wie Leute mit ihren Autos in die Streikposten reingefahren sind. Und wir haben auch schon Morddrohungen bekommen. Wir hatten am Anfang damit zu kämpfen, aber das hat sich mittlerweile auch gelegt. Denn die Geschäftsleitung hat mit ihrem Verhalten unsere Reihen gestärkt.
Die Probleme mit der aktiven Beteiligung bleibt jedoch. Und weil wir den Anspruch haben, basisdemokratisch zu sein, zielen wir auf die Beteiligung einer relativ grossen Masse. Weil aber das Einzugsgebiet von Amazon sehr gross ist, haben wir auch Schwierigkeiten, Treffen zu organisieren. Oft können wir uns nur sonntags treffen, denn wenn man in der Wechselschicht ist oder eine Dreifachschicht hat und man seine Familie nur ein Mal die Woche sieht, dann wird das auch relativ schwierig. Wir arbeiten an Konzepten, um die Beteiligung zu erhöhen. Beispielsweise bieten wir während unseren Treffen selbstorganisierte Kinderbetreuung an. Mit solchen Massnahmen können wir die Beteiligung sicherlich erhöhen.
Dann haben wir noch ein weiteres Problem: Wir haben zwar einen basisdemokratischen Ansatz, aber Amazon ist nur mit einer Gesamtstrategie zu schlagen. Die Aktionen in einem Lager müssen sich also in die Gesamtstrategie einordnen.
Amazon wendet natürlich zahlreiche Gegenmassnahmen an: Sie sprechen mit jedem einzelnen Arbeiter, versuchen ihn zu isolieren, fragen ihn, warum er streikt. Das macht die Geschäftsleitung vor allem mit Kolleginnen und Kollegen aus der zweiten oder dritten Reihe. Die Hauptaktivistinnen und -aktivisten werden überhaupt nicht angesprochen.
Zudem treffen die meisten krankheitsbedingten Kündigungen Gewerkschaftsaktivisten als erstes. Auch schafft es Amazon mittlerweile, in der Presse souverän zu agieren: Schickte die Geschäftsleitung früher die Presse einfach weg, machen sie heute eine systematische Pressearbeit, um sich gegen unsere Aktionen zu verteidigen. Und schliesslich schiessen die neuen Lager wie Pilze aus dem Boden. Als Gewerkschaft hinken wir bei der Erschliessung der neuen Lager immer einen Schritt hinterher.
Der alltägliche Widerstand gibt Sauerstoff
Ich persönlich finde den alltäglichen Widerstand, der bei Amazon entstanden ist, am schönsten. Sicherlich existierte er immer schon ein Stück weit. Weil da gibt es beispielsweise eine grosse Anzahl von unsinnigen Regeln und Arbeitsanweisungen, von denen kein Mensch weiss, welche nun gelten und welche nicht. Diese Regeln können aber bestens dazu benutzt werden, um mit „Dienst nach Vorschrift“ den Arbeitsrhythmus zu verlangsamen. Wir haben einen Kollegen, der hat das über Monate hinweg gemacht und während andere Kollegen in einer Stunde 300 Artikel bearbeitet haben, hat er einen Artikel bearbeitet. Sie wollten ihm eine Abmahnung geben, er hat sich aber verteidigt und gemeint, sie sollen richtig kontrollieren. Tatsächlich konnten sie ihm nichts tun.
Dann gibt es die sogenannten start meetings: Bei jedem Schichtbeginn werden safety tips gegeben, beispielsweise „wasch dir regelmässig die Hände“ oder „halt dich immer schön am Treppengelände fest“. Also alles, was ich meiner kleinen Tochter versuche mitzugeben, bekomme ich bei Amazon nochmal zusammengefasst (lachend). Solche Tipps stossen natürlich immer auf Widerstand, denn die Leute machen sich nur lustig darüber.
Wir haben auch immer wieder sehr seltsame Personalgespräche. Ein Kollege hat beispielsweise eine Abmahnung bekommen, was ein Vorschritt zur Kündigung ist. Der Grund: Er sei 18 Sekunden zu spät zu einem start meeting gekommen. Als wir nachgefragt haben, wie sie das gemessen hätten, haben sie keine weiteren Erklärungen gegeben. Das beweist, dass sie uns für komplett dämlich halten. Die Geschäftsleitung hat auf die Abmahnung bestanden, wir hingegen haben unser Recht geltend gemacht, eine Gegendarstellung zu schreiben. Das hat vier Stunden gedauert und wir konnten in der Gegendarstellung zeigen, dass die Verspätung nur 16 Sekunden betrug, nicht 18 (lachend).
Warum ich diese Geschichte erzähle? Um euch zu zeigen, was unsere Strategie ist, mit ihnen nämlich so zu reden, wie sie mit uns reden. Wenn man eine Beschwerde hat, wollen sie zuerst immer alles im Detail verstehen, auch wenn es sich um eine ganz einfache Sache handelt. Und so reagieren wir auch mit ihnen und wollen immer alles verstehen, bevor wir was akzeptieren. Wir wissen nun, dass das lokale Management absolut nichts zu melden hat und keine eigenen Entscheidungen treffen kann. Darum ist es unsinnig, sich mit ihnen auf Diskussionen einzulassen und darum treiben wir ziemlich viel Unsinn mit ihnen.
Solche Geschichten von kleinem Widerstand gibt es bei Amazon tausendfach. Der Tarifvertrag ist wichtig, aber das Selbstbewusstsein, das wir in diesen letzten Jahren gewinnen konnten, ist meiner Meinung nach der grösste betriebliche Erfolg. Denn wir sind heute in der Lage, innerhalb von zehn Minuten mit 600 Leuten aus dem Betrieb zu gehen, wenn uns etwas nicht passt.
Fragen
Was war der initiale Organisierungsmoment in eurem Betrieb?
Es gab einen Initialzünder, aber das natürlich nicht eine spontane kollektive Mobilisierung. Der damalige general manager – mittlerweile haben sie schon so viele ausgewechselt, wie Normalsterbliche Unterwäsche wechseln – der hatte wieder mal verkündigt, es gäbe keine Lohnerhöhung. An jener Versammlung hat ein Kollege von hinten nach vorne geschrien: „Aber bei Lidl gabs eine!“ Das war das erste, was man gehört hat. Der Chef hat dann geantwortet: „Wenn es euch nicht passt, dann geht zu Lidl.“
Wir haben einen ziemlich grossen Anteil an Kollegen, die aus Thüringen sind, wo die Löhne niedriger sind als in Hessen. Der Chef hat dann tatsächlich hinzugefügt: „Ihr aus dem Osten, ihr könnt doch so oder so glücklich sein, dass ihr überhaupt einen Job habt.“ Das hat die Stimmung nochmals befeuert.
Solche Momente haben die Wut steigen lassen, aber sie waren in einen grösseren Prozess eingebettet. Wir haben dann begonnen, Treffen zu organisieren. Das war so 2010, 2011 und die Streiks haben 2013 begonnen. Das war also ein zweijähriger Organisationsprozess mit auf und ab, mal waren mehr Leute an den Treffen, mal weniger. Aber wichtig war, dass wir eine Konstanz herstellen konnten.
Wie war das Verhältnis zur Gewerkschaft ver.di zu Beginn eurer Organisierung?
Die Sekretäre, die bei uns in den Betrieb kamen, machten keine klassische Gewerkschaftsarbeit, also Mitglieder rekrutieren, einen Tarifvertrag verhandeln, den Arbeitsfrieden wahren. Auch ihnen ging es von Anfang an um die Aufarbeitung der Probleme, welche die Arbeiter*innen im Betrieb hatten. So kam die Sache mit der befristeten Arbeit auf. Und die gewerkschaftliche Arbeit konzentrierte sich zu Beginn auf die juristische Beratung von Einzelfällen. So konnten wir aufdecken, dass viele befristete Verträge nicht Rechtens waren und die Probleme lösen.
Der zweite wichtige Moment der Organisierung mit den Gewerkschaften war die Verteilung von Flugblätter und Infomaterial mit den Sekretären in der Kantine. Das führte dazu, dass Amazon ihnen ein Hausverbot gab. Bei den Treffen mit den Arbeiter*innen erklärten die Gewerkschafter diese Situation und die logische Folge für die Kolleginnen und Kollegen war, selber als ver.di im Betrieb aufzutreten und die gewerkschaftliche Arbeit selber zu machen. Diese Repression gegenüber der ver.di hat also dazu geführt, dass sich die Arbeiter*innen stärker zusammenschlossen und gemeinsam auftreten.
Wie organisiert ihr euch international und seid ihr in der Lage, international koordinierte Aktionen durchzuführen?
Die internationale Organisation läuft vom Prinzip her so wie auf der betrieblichen Ebene. Wir hatten viele Treffen, an denen wir verstanden, dass die Arbeitsbedingungen überall etwa gleich aussehen. Wir haben dann gemeinsam Strategien dagegen entwickelt. Die Schwierigkeit ist die, dass je nach Land eine andere Rechtslage vorherrscht. Die Kolleginnnen und Kollegen in Polen würden beispielsweise gerne streiken und sie sind auch streikfähig, doch sie können es aufgrund der Gesetze nicht machen. In Frankreich wiederum streiken die Kolleginnen und Kollegen oft in Zusammenhang mit grösseren politischen Auseinandersetzungen, wobei wir vermehrt feststellen können, dann auch Amazon-spezifische Streiks häufiger werden. Spanien hat uns völlig überrascht: Ein Jahr zuvor hatten sie von 12 Mitgliedern ohne Mobilisierungspotential gesprochen, 18 Monate später führten sie einen erfolgreichen Streik durch, an dem 98% der Kolleginnen und Kollegen teilnahmen. Ich war beim Streik in Spanien vor Ort und tatsächlich ist weder ein LKW noch ein Mensch reingegangen oder rausgekommen.
Mittlerweile haben wir gemeinsame Aktionsformen entwickelt, wie beispielsweise das safe package. Das war eine Idee von den Leipzigern und von den Polen und es geht darum, einen ganzen Tag „Dienst nach Vorschrift“ zu machen. Die Protestformen werden oft auch von Gewerkschaftsgegnern unterstützt. Klar, die Auswirkungen auf Amazon sind dabei begrenzt, aber es motiviert unwahrscheinlich viele Kolleginnen und Kollegen. Und das darf man nicht unterschätzen.
Quelle: sozialismus.ch… vom 11. Februar 2019
Tags: Arbeiterbewegung, Arbeitskämpfe, Arbeitswelt, Deutschland, Gewerkschaften, Politische Ökonomie, Widerstand
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